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13.
Die Somalikinder

Eine wahre Erholung für Sieger waren die Arbeiten im Margayatale. Wurde er auch hier, wie überall, streng überwacht, so befand er sich doch in der freien Natur, die ihn auch in ihrer erhabenen Wildheit mächtig anzog. Und dann vor allem, er hatte wieder eine Tätigkeit, die ihn von Morgens bis Abends beschäftigte.

Öfter nahm er seine Kinder mit hinaus, die sich hier frei bewegen durften und die sich meist in der Schlucht am Bach und beim Wasserfall aufhielten oder in den Felsen umherkletterten und so ihre jugendlichen Kräfte stärkten. Sie gewannen auch bald ein viel blühenderes Aussehen.

Meistens ließ sie zwar Sieger bei Onkel Helling zurück, für den er trotz aller Bemühungen vom Kalifa keine Erlaubnis erwirken konnte, an den Arbeiten teilzunehmen. Abdullahi mochte befürchten, wenn die beiden zusammen verhältnismäßige Freiheit genössen, möchte ihnen trotz aller Überwachung ein Fluchtversuch gelingen. Das mochte eine müßige Sorge scheinen; aber Tyrannen pflegen übertrieben mißtrauisch und ängstlich zu sein.

Der Ingenieur wollte seinen Freund nicht so vereinsamt lassen, auch sollte er den Unterricht der Kinder fortsetzen. Dienstag und Donnerstag aber waren ihre Ferientage, die sie beim Vater zubrachten, und der Sonntag vereinigte alle wieder in Omderman.

Sieger hatte sich eine Hütte auf dem Bauplatz errichtet, da es viel zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte, wenn er alle Tage die Wanderung dorthin hätte unternehmen müssen, um Abends wieder heimzukehren. Die Arbeiter hatten natürlich ebenfalls ihre Hütten draußen, sowie die vom Kalifa bestellten Wächter.

Josef brachte die Kinder jedesmal früh Morgens hinaus und gab sich zum Teil mit ihnen ab, zum Teil half er bei den Arbeiten, und auch ihm war es eine Lust und Erholung, wenigstens zwei Tage in der Woche außerhalb des verhaßten Häusermeeres von Omderman verweilen zu können.

Der Kamin des Hochofens wurde in der Felsrinne angelegt, indem diese mit Backsteinen ausgemauert und abgeschlossen wurde. Die Fabrikbauten selber waren übertrieben großartig angelegt. Ganz gewiß war ihre Ausdehnung in solchem Maße überflüssig. Doch einmal lag es dem Ingenieur daran, den Bau so lange wie möglich hinauszuziehen, um mit der Herstellung von Kanonen so spät zu beginnen, als es nur anging, und um eine andere Arbeit zu fördern, die er ganz im Geheimen betrieb; sodann hatte er die Absicht, den Taleingang durch das Gebäude vollständig abzuschließen. Auch damit verfolgte er besondere Zwecke. Die Vorderseite der Fabrik glich eher einer Festung, und das sollte sie auch werden. Dem Kalifa konnte das nicht auffallen, weil er von der Sache so wenig verstand, wie irgend ein anderer Sudanese, so daß er Sieger völlig freie Hand lassen mußte.

Das nötige Holz wurde in den Wäldern der Margayaberge geschlagen. Die Ziegelei und die Glashütte waren in ständigem lebhaften Betrieb.

Die größte Freude war es für Johannes und Fanny, wenn ihre kleinen Freunde, Hassan und Amina, sie im Margayatale besuchten. Das waren keine Sudanaraber, sondern Somalineger, so schlank und schön gewachsen und mit so anmutigen Gesichtern, wie sie ganz besonders beim Somalistamme zu finden find.

Ihr Vater hieß Mohammed, der bei den Moslem gewöhnlichste Name, da sie es für eine besondere Ehre halten, sich nach ihrem verehrten Propheten zu nennen. Als Händler war er mit seiner Familie nach dem Sudan gekommen und hatte sich in Khartum aufgehalten. Er war eben im Begriff gewesen, in seine Heimat zurückzukehren, als der Aufstand des Mahdi ihn daran hinderte. Bei dem Fall von Khartum war er mit den Seinigen in die Gefangenschaft geraten und wohnte in Siegers nächster Nachbarschaft. Vor kurzem war seine Frau gestorben.

Mohammeds aufgeweckte Kinder hatten bald Freundschaft mit Fanny und Johannes geschlossen, die für sie, wie für alle Einwohner Omdermans Fatme und Osman hießen, während Siegmund Helling, eigentlich von Helling, Ismain el Heliki genannt wurde.

Hassan war nur um ein Jahr älter als Johannes, und Amina zählte kaum fünf Monate mehr als Fanny.

Der kleine Hassan bin Mohammed war für seine Heimat, das Somaliland, so begeistert, daß er am liebsten von ihr erzählte, vor allem aber von dem blauen Meer, nach dessen Rauschen er das größte Heimweh hatte; denn wer am Meer geboren ist, wird immer von der Sehnsucht nach ihm verzehrt, solange er ihm ferne weilen muß.

Sah er etwas besonders Schönes oder erlebte er etwas besonders Merkwürdiges, so pflegte Hassan zu sagen: »Das ist gerade so wie im Somalilande.« Im übrigen war er heiteren Gemüts und verstand es, die ganze kleine Spielgesellschaft in fröhlicher Laune zu erhalten.

Es war im dritten Jahre des Fabrikbaus, den Sieger absichtlich möglichst lässig betrieb. Hassan zählte zehn Jahre, Johannes neun, Amina und Fanny etwas über sieben. Sie spielten, wie so manchesmal, in den Felsen des Margayatales.

Hassan und Osman, wie Johannes genannt wurde, hatten ein Rinnsal unter dem Hauptwasserfall durch einen schön angelegten Graben unter der Felswand am Abhang hingeleitet. Mit Rinnen aus Baumrinde wurde der Kanal von Felsblock zu Felsblock geführt, bis er von einem Stein als rauschender kleiner Wassersturz herabschoß und ein reizendes kleines Mühlrad trieb. Unten floß das Wasser als kleiner Bach weiter in ruhigem Lauf. Hier schwammen sauber geschnitzte Schifflein dem künstlichen See zu, in den das Flüßchen mündete.

Jetzt bauten die Knaben an den Ufern des Sees eine kleine Stadt aus allerlei Holzabfällen vom Bauplatz und die Mädchen schauten staunend und andächtig zu, welche Wunder unter den geschickten Händen ihrer männlichen Spielkameraden entstanden. Oft jubelten sie laut auf, wenn wieder ein besonders gelungenes Kunstwerk vollendet war.

»Das ist jetzt ganz wie im Somalilande,« rief Hassan bin Mohamed: »Das hier ist das Meer und die Stadt ist Baad Ulgaras am Doara. Jetzt müssen wir aber noch eine Fuhre Holz holen, um die Stadt fertig zu bauen.«

»Wir verstecken uns, bis ihr wiederkommt,« sagte Fatme oder Fanny, der ein plötzlicher herrlicher Einfall gekommen schien: »Dann müßt ihr uns aber suchen, ehe ihr weiterbaut.«

»Also!« sagte Osman, gleich einverstanden. »Wir werden euch ja bald gefunden haben!« fügte er siegesgewiß hinzu.

Als die Knaben um die nächste Biegung, dem Talausgang zu, verschwunden waren, sagte Fatme geheimnisvoll zu Amina: »Du, ich weiß ein ganz feines Versteck: ich habe es erst das letztemal entdeckt, als ich euch suchte, und habe natürlich nichts davon gesagt. Sie werden uns dort gewiß nicht finden können.«

Damit führte sie die Freundin, die äußerst neugierig auf das hervorragende Versteck war, dem Wasserfall zu.

Je mehr sie sich diesem näherten, desto ängstlicher wurde das Somalimädchen: »Ich mag gar nicht so nahe zu den fallenden Wassern,« sagte es zitternd, oder schrie es vielmehr, denn der gewaltige Sturz brauste so laut, daß man sich in seiner Nähe nur mit größter Anstrengung vernehmbar machen konnte.

»Warum denn?« schrie Fatme ebenso laut: »Er kann uns doch nichts tun!«

»Ja, aber seine Stimme ist fürchterlicher als die Stimme des Löwen, und er brüllt, als wollte er jeden verschlingen, der ihm zu nahe kommt. Vor dem Löwen und dem Schakal hat Amina keine Angst, aber sie zittert vor den fallenden Wassern.«

Wie sie zitterte, war nur zu augenscheinlich.

»Ach! Sei doch nicht so dumm!« rief ihr Fanny wieder ins Ohr. »Es sind nur noch ein paar Schritte bis zu meinem Versteck. Du bist ja sonst so furchtlos und hast versprochen, mich immer zu beschützen. Wenn ich jetzt mitten in den Wasserfall fiele, würdest du dann aus Angst davonlaufen?«

»Nein! Dann würde Amina zu ihrem Herzen sprechen: du darfst nicht feige sein wie eine Ziege! Und ich würde dir nachspringen und dich herausziehen oder mit dir ertrinken. Denn Amina heißt ›die Treue‹, und mein Vater sagt immer, man muß sein wie man heißt, sonst machen wir unserm Namen Schande.«

»Also, sprich deinem Herzen zu und komm mit mir! Sieh, wir sind schon da.«

Ganz in der Nähe des Falles lag ein Haufe aufgetürmter Felsblöcke kunterbunt übereinander. Kleineres Geröll schien alle Lücken ausgefüllt zu haben. Als jedoch Fatme die braune Gefährtin auf halsbrecherischem Pfade einige Schritte hinunterführte, zeigte sich am Grunde ein schmaler Spalt zwischen zwei Felsblöcken, durch den sich die Mädchen mit Mühe hineinzwängen konnten. Oben, zwischen die Eingangsfelsen eingeklemmt, steckte ein keilförmig nach unten zugespitzter Stein, der weiter oben sich wieder verjüngte und wohl mit einigen kräftigen Hammerschlägen hätte hinuntergetrieben werden können, so daß er das enge Tor völlig verschlossen hätte.

Innen war es dunkel. Die Mädchen schoben sich vor, bis sie sich in sitzende Stellung aufrichten konnten. Die kleine Höhlung bot ihnen bequem Platz.

Da saßen sie schweigend, denn das Brausen des Wasserfalles machte sich in dem geschlossenen Raume noch stärker vernehmbar.

Immer noch heftig zitternd schmiegte sich Amina eng an ihre Freundin.

Als bald darauf Osman und Hassan mit ihrer Ladung Holzabfälle zurückkehrten, machten sie sich sofort auf die Suche. Bald aber mußten sie merken, daß es mit dem Finden nicht so leicht ging, wie sie sich vorgestellt hatten. Sie hatten geglaubt, jeden Winkel der Schlucht genau zu kennen, und entdeckten jetzt, daß sie doch noch ein Geheimnis bergen mußte, das ihnen im Laufe der Jahre entgangen war.

Als sie alles vergeblich abgesucht hatten, fingen sie an, zu rufen. Allein es erfolgte keinerlei Antwort.

»Sie müssen sich in der Nähe des Wasserfalls verborgen halten,« erklärte Osman. »Da hören sie unser Rufen nicht oder können wir ihre Antwort nicht vernehmen.«

»Hassans Schwester fürchtet die brüllende Stimme der fallenden Wasser,« erwiderte der Somali.

Trotzdem untersuchten sie nun die Geröllhalde und entdeckten auch bald den schmalen Zugang. Mit Mühe zwängte sich Osman hindurch, der schlankere Hassan folgte ihm mit weniger Anstrengung. Sehen konnten sie vorerst nichts, da sie aus dem grellen Sonnenschein in die dunkle Höhlung kamen; doch stießen sie gleich an ihre Schwestern, die nun hell lachten und sie neckten, daß sie so lange vergeblich gesucht hatten.

»Das ist ganz wie im Somaliland!« rief Hassan, als er das Versteck musterte, nachdem sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.

»Aber jetzt geht nur gleich wieder hinaus,« sagte Fanny-Fatme, »daß wir auch wieder ans Tageslicht kommen. Wir waren lange genug in dem engen Gefängnis und Amina fürchtet sich so vor den brausenden Wassern; aber sie hat sich tapfer gehalten.«

Hassan, der dem Ausgang am nächsten war, wollte gleich zurückkriechen, aber Johannes schrie: »Halt! Da schinde ich mich nicht wieder durch: hilf mir erst, das Loch etwas weiter machen. Der Block da links wird sich schon etwas zurückschieben lassen, wenn wir ihn mit vereinten Kräften angreifen.«

Sie stemmten sich aus aller Macht gegen den Felsen, allein er war ihnen viel zu schwer und wollte nicht weichen. Doch schwankte er etwas auf seiner Unterlage, so daß er sich infolge ihrer Anstrengungen in seinem oberen Teil ein wenig nach links neigte. Dies hatte eine unerwartete und verhängnisvolle Folge, denn der oben eingekeilte Block gewann nun Raum, zwischen die beiden Torsteine vollends herabzusinken und so den Eingang völlig zu versperren.

Die Kinder waren sich der Folgen nicht gleich bewußt. Als aber die Knaben sich vergeblich abmühten, einen oder den anderen der sie einschließenden Blöcke zum Weichen zu bringen, erkannten sie zu ihrem Schrecken, daß sie Gefangene waren in einer Höhle, die so wenig Raum bot, daß sie sich kaum darin bewegen und wenden konnten.

Immer verzweifelter wurden die Bemühungen der Knaben. In Schweiß gebadet, mußten sie schließlich einsehen, daß ihre Kräfte nicht ausreichten, um sich wieder einen Ausweg zu schaffen. Die weinenden Mädchen lösten sie ab, aber sie richteten selbstverständlich noch viel weniger aus.

Nun schrien sie alle vier aus Leibeskräften um Hilfe, allein das Tosen des Wasserfalls verschlang die Stimmen, deren Kraft durch die einschließenden Steinmassen so wie so gedämpft wurde.

Völlig erschöpft, verstummten sie endlich. Draußen begann es zu dämmern, und hier innen war es stockfinster. Sie sagten sich alle, daß sie gewiß gesucht würden und zweifelten nicht, daß man sie auch finden werde. So gaben sie der Müdigkeit nach und schliefen nacheinander ein, trotz ihrer unbequemen Lage, in der sie sich nicht einmal recht ausstrecken konnten.

Inzwischen war Josef gekommen, um die Kinder zu holen und nach Omderman zurückzubringen. Als er die ganze Schlucht vergeblich nach ihnen durchsucht hatte, begann er, sie bei Namen zu rufen und durchforschte noch einmal alles mit größter Gründlichkeit. Als er keinerlei Antwort vernehmen konnte und nicht die geringste Spur der Vermißten entdeckte, ergriff ihn eine namenlose Angst.

Die Dunkelheit war rasch hereingebrochen, und nun erschien Sieger, um zu sehen, wo Josef mit den Kindern so lange bleibe. Der Diener traf auf ihn, als er gerade wieder den Neubau betrat, um seinem Herrn die Schreckenskunde mitzuteilen.

»Das ist rätselhaft!« sagte der Ingenieur: »Sie kommen doch sonst immer selber zur Zeit zurück.« Plötzlich blitzte ihm ein entsetzlicher Gedanke auf. Diese Schlucht barg ein Geheimnis, das er bisher noch niemand mitgeteilt hatte, weil er seine guten Gründe hatte, es nicht zu verraten. Auch jetzt wollte er Josef noch nicht darein einweihen. Er sagte daher:

»Eile du sofort in die Arbeiterschuppen, in die Ziegelei und die Glashütte, und frage, ob niemand die Kinder gesehen hat. Vielleicht haben sie unbemerkt von uns beiden das Tal verlassen und sich irgendwo in der Nähe verirrt. Ich selber will unterdessen die Schlucht noch einmal mit der Laterne absuchen.«

Während der Diener nach außen eilte, entzündete Sieger die Laterne und warf einen langen, zusammengerollten Strick über die Schulter. Dann rannte er durch das Felsental, am Wasserfall vorbei, bis dahin, wo sich die steinernen Wände im Halbkreis zusammenschlossen und so den Kessel bildeten, der die Kluft abschloß. Hier befand sich ein starker, rechteckiger Block, der an der Felswand lehnte und sich so dicht an sie anschloß, daß er mit ihr zusammenzuhängen schien. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß sich diese Steinmasse bewegen lasse; und wenn auch ein Dutzend der stärksten Männer den Versuch gemacht hätten, sie von der Stelle zu rücken, sie hätte allen ihren Anstrengungen widerstanden und wäre um keinen Zoll breit gewichen.

Und doch war diese Platte, obgleich in ihrem rauhen Naturzustande belassen, der keinerlei Verdacht erregen konnte, nichts anderes als ein Türverschluß, den Siegers Ingenieurkunst ohne Beihilfe anderer für seine geheimen Absichten aufs zweckmäßigste bearbeitet und eingerichtet hatte.

Er griff in eine unauffällige Höhlung des Steins und zog eine fast armsdicke Eisenstange an einer Handhabe heraus. Das war der Riegel, der den Block so unverrückbar an die Felswand fesselte.

Nachdem er das Eisenstück zu Boden geworfen hatte, schob Sieger die Platte ohne Anstrengung zur Seite: sie lief auf Rollen und Schienen, die im Untergrund verborgen lagen. Nun zeigte sich dahinter eine Höhlenöffnung, durch die der Ingenieur gebückt eindrang. Nach zwei Schritten konnte er sich aufrichten und stand am Rande eines Abgrundes, der dunkel und anscheinend unergründlich zu seinen Füßen gähnte.

In der Ferne, aus dem Hintergrund der Höhle, die sich längs des Schlundes hinzog, vernahm man ein eigentümliches knirschendes Geräusch, wie das eines Bohrers, der sich in das Gestein eingräbt.

Sonst war alles totenstill.

Ängstlich rief Sieger in den Abgrund hinab: »Johannes, Fanny! Hassan, Amina!« Aber alles blieb so still wie zuvor.

»Es ist unmöglich, daß sie den Eingang entdeckt und den verborgenen schweren Riegel entfernt haben,« murmelte Sieger vor sich hin. »Und doch! Wo sollten sie sein, wenn nicht hier? Hätten sie sich aus dem Tal entfernt, so müßte ich sie gesehen haben. Es wäre auch ganz gegen ihre Gewohnheit, daß sie an mir vorübergegangen wären, ohne mich zu begrüßen und mir ihre Absicht mitzuteilen. In der offenen Schlucht aber hätte sie Josef finden oder hören müssen. Ich kann mir nichts anderes denken, als daß sie hierhergerieten und in der Dunkelheit in den Abgrund stürzten. Durch meine Türe kamen sie nicht herein, denn sie war wohl verschlossen. Allein es ist immerhin möglich, daß es noch einen anderen, verborgenen Zugang zu dieser Höhle gibt, den ich bisher nicht entdeckte, und den eines der Kinder zufällig fand, eine verschüttete Seitenhöhle, die sich ihnen öffnete, als sie Geröll und Schutt bei ihren Spielen wegräumten. Gott gebe, daß meine Befürchtungen sich nicht bewahrheiten. Es ist auch kaum denkbar, daß alle vier zugleich abgestürzt und tot geblieben sein sollten.«

Während diese Gedanken Siegers Hirn durchkreuzten, hatte er sein Seil an einem Felsen am Rande des Abgrunds befestigt, eine Laterne am Gürtel festgeschnallt, das Ende des Taus in den Schlund geworfen, und nun ließ er sich in das Dunkel hinab.

Bald erreichte er den Grund, der mit Felsbrocken, Schutt und Gesteinstrümmern bedeckt war. Der Spalt war ziemlich lang und breit. Sieger durchwanderte ihn in beschwerlicher Kletterei und leuchtete ihn gründlich ab.

Erleichtert atmete er auf, als er in dieser Tiefe keine Spur der Verlorenen fand. Seine schlimmste Befürchtung, die allerdings sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich gehabt hatte, war ihm jetzt doch endgültig genommen.

Er kletterte wieder am Seil empor. Ohne sich die überflüssige Mühe zu nehmen, den Strick wieder zu entfernen, verließ er die Höhle und verschloß sie wieder mit dem beweglichen Felsen.

Wo aber konnten nun die Kinder sein? Das Rätsel war umso dunkler, und die Sorge um ihr Schicksal, um ihr Leben war nicht vom Herzen des Vaters genommen.

Er leuchtete noch die Schlucht gründlich ab und kam zuletzt unverrichteter Dinge im Fabrikbau an, als eben Josef eintraf und berichtete, keiner der Arbeiter noch der Wächter des Kalifa habe etwas von den Kindern gesehen, ebensowenig hätten sie sich in der Ziegelei und Glashütte blicken lassen.

»Wir müssen alle Mann ausbieten, um die Umgegend abzusuchen,« erklärte Sieger und trat zum vorderen Fabriktor hinaus ins Freie.

Hier schlossen sich ihm sofort die Wächter an, die vor dem Tore Wache hielten. Im Felsental konnte er sich unbewacht bewegen, weil es den Soldaten allzu ermüdend und dazu völlig überflüssig schien, ihn auch da zu begleiten, wo sein Entkommen durchaus unmöglich erschien. So begnügten sie sich weise und faul, vor dem Bau zu lagern und sich nur dann an des Ingenieurs Fersen zu heften, wenn er die Fabrik auf der Vorderseite verließ und einen Gang zur Ziegelei und Glashütte unternahm oder Samstag abends nach Omderman zurückkehrte.

Mit Fackeln und Laternen bewaffnet zogen die aus dem Schlafe geweckten Arbeiter auf die Suche. Sie taten dies willig, denn sie hatten in Sieger einen guten Herrn, den sie verehrten und schätzten, zumal er sie nicht zu rastloser Arbeit antrieb und ihnen nie zu viel zumutete. Die vier Kinder, mit denen sie oft ihren Spaß hatten, waren ihnen auch lieb geworden, so daß sie sich den Nachforschungen mit persönlicher Anteilnahme und größtem Eifer widmeten, sobald sie von ihrem Verschwinden gehört hatten.

Nach allen Richtungen zogen die einzelnen Abteilungen aus, spähend und rufend. Aber keine entdeckte eine Spur.

Ratlos und mit schwerem Herzen begab sich Sieger mit Josef am frühen Morgen in das Felsental zurück, während die soeben zur Ablösung eingetroffenen frischen Wächter sich gemächlich vor den Fabrikmauern lagerten.

Matt, von den vergeblichen nächtlichen Streifen erschöpft und entmutigt, schritten die beiden langsam vor. Sie sagten sich, daß es eigentlich wenig Zweck habe, die Schlucht zum soundsovielten Male zu durchsuchen.

Jetzt bogen sie um den Felsenvorsprung, hinter dem sich der Abschluß des Kessels mit dem Wasserfall befand.

Ohrenbetäubend scholl hier das Brausen in der Morgenstille und hallte dumpf von den umgebenden Wänden nieder.

Da deutete Josef auf die hochgetürmten Blöcke in der Nähe des Falles: »Zwei Geier!« rief er: »Was wollen die Vögel hier, wo es nichts für sie zu finden gibt? Denn es ist eine mir lang bewußte Merkwürdigkeit dieses Steinwüstenloches, daß keine Schlange, keine Kröte und nicht einmal eine Eidechse sich hier sehen lassen mag.«

»Das ist in der Tat auffallend,« antwortete Sieger kopfschüttelnd: »Es ist wahrhaftig das erstemal, daß ich hier Geier sehe.« Nachdenklich starrte er nach den Vögeln hin, die sich schwerfällig erhoben und dann in mäßiger Höhe den Hügel umkreisten.

Plötzlich durchblitzte ihn ein Gedanke: »Sollte das ein Fingerzeig sein? Wittern diese Vögel, was uns verborgen bleibt? Laß uns dort noch einmal gründlich nachforschen!«

Rasch schritten sie auf das Geröll zu und kletterten über die Felsen hinab.

»Hören Sie nichts?« schrie Josef, um das Tosen der Wasser zu übertönen. Und er legte das Ohr an einen Spalt zwischen den Steinen.

Sieger folgte seinem Beispiel und rief hocherfreut: »Wahrhaftig! Da drunten schallen Stimmen! Sie rufen um Hilfe. Gebe Gott, daß sie nicht mit gebrochenen Gliedern zwischen Felsen eingeklemmt liegen.«

»Nein!« erwiderte Josef: »Die Felsen sind schon immer so dagelegen, und einen Felssturz oder Rutsch hat es hier nicht gegeben, das sehe ich unverkennbar. Nur irgendwo muß etwas passiert sein, daß sie nicht mehr heraus können.«

»Hilf mir, den Block da wegwälzen,« rief der Ingenieur in größter Erregung: »Er liegt allein so frei, daß kein Nachsturz zu befürchten ist! Drauf!«

Es war dies eben der Felsen, der den engen Zugang verschlossen hatte. Auch für die beiden starken Männer war es keine Kleinigkeit, den schweren Stein aus seiner eingeklemmten Lage zu bringen. Aber die Sorge um die Kinder verdoppelte ihre Kräfte, und so gelang es ihnen, den Block herauszuwälzen, worauf sie ihn den Abhang vollends hinunterrollen ließen.

Die Kinder waren früh am Morgen erwacht. Alle Glieder schmerzten sie infolge des Schlafes in so gekrümmter Stellung. Ihre schlimme Lage kam ihnen bald wieder zum Bewußtsein. Die Mädchen weinten, die Knaben schrien aus Leibeskräften. Zugleich aber machten sie neue Versuche, den verhängnisvollen Stein herauszudrücken: vielleicht hatte der Schlummer ihre Kräfte so gestärkt, daß es ihnen jetzt doch gelang.

Und wirklich! Der Block begann zu weichen!

Sie schöpften Atem zu einer neuen Anstrengung, da rollte der Stein wie von selber weg und die Türe stand offen. Johannes zwängte sich hinaus und sank in die Arme seines glücklichen Vaters. Hassan folgte ihm und wurde von Jussuf ebenso zärtlich empfangen.

Gleich darauf erschien Fanny in der Öffnung und nach ihr Amina.

Die Wonne war gleich groß auf beiden Seiten, und als die Wiedergefundenen kurz darauf vor dem Fabrikbau erschienen, wurden sie auch von den Arbeitern und Wächtern mit Freudenrufen begrüßt und gedrängt, zu erzählen, wie es ihnen ergangen war.

Dann aber wurde für ein kräftiges Frühstück gesorgt, und sie mußten bis zum Nachmittag dableiben und sich von den ausgestandenen Schrecken und Leiden gründlich erholen, ehe Josef sie wieder nach Omderman brachte, zu Hellings größter Beruhigung und Freude, denn das unerklärliche Ausbleiben der geliebten Kinder hatte ihn mit den schwersten Besorgnissen erfüllt.

Das war das schlimmste Abenteuer, das den Spielgefährten im Laufe der Jahre begegnete, und nun es überstanden war, blieb es für sie lange Zeit das interessanteste Erlebnis und ein beliebter Gesprächsgegenstand. Selbstverständlich war es auch für sie ein Anlaß, sich vor ähnlichen Zufällen vorsichtig, in acht zu nehmen.


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