Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Die Brandfläche lag schwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete kein Zischen mehr. Da rasselte das Getriebe der Uhr tief unter ihm. Es schlug zwei. Zwei Schläge! zwei! Und er stand, und er stürzte nicht! Wie anders war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die fieberischen Ahnungen gedroht! Wenn er oben war, da schlug es zwei, da packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das hatten ihm seine schweren wachen Träume gezeigt. Und er stand doch wirklich oben, und die Leiter schwankte im Sturme, Schneestaub umwirbelte ihn, Blitze umzuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der Dächer, der Berge, des Tals, die ganze Gegend in einer ungeheuern Flamme auf, und nun schlug's zwei unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturm gezerrt, hinaus in den Aufruhr: und er stand, er stand schwindellos, er stürzte nicht. Er wußte, keine Schuld lag auf ihm; er hatte seine Pflicht getan, wo Tausende sie nicht getan hätten; er hatte die Stadt, an der er mit ganzer Seele hing, er allein, von der furchtbarsten Gefahr befreit. Aber aller Stolz dieses Gedankens war in dieser Seele nur ein Dankgebet. Er dachte nicht an die Menschen, die ihn preisen würden, nur an die Menschen, die nun wieder aufatmen durften, an das Elend, das verhütet, an das Glück, welches erhalten war. Und er fühlte selbst nach Monden wieder, was frei aufatmen heißt. Diese Nacht hatte ja auch ihm die Lust wiedergebracht. Mit Freudigkeit erinnerte er sich jetzt wieder an das Wort, das er sich gegeben. Menschen wie Apollonius ist's der höchste Segen einer braven Tat, daß sie sich gestärkt fühlen zu neuem braven Tun.

Die Menge unten schrie noch immer: »Wo? Wo?« und drängte sich durcheinander, als der zweite Einschlag geschah. Alles stand einen Augenblick von Schrecken gelähmt. »Gott sei Dank! Es war wieder kalt!« rief eine Stimme. »Nein! Nein! Dasmal brennt's! Erbarme sich Gott!« entgegneten andere. Scharfe Augen sahen, wenn zuweilen zwischen den Blitzen Dunkel eintrat, die kleinen Flammen wie Lichterchen über die Schiefer hüpfen. Sie suchten sich und lohten, wenn sie sich fanden, zuckend in eine größere Flamme zusammen auf; dann flohen sie sich tanzend und schlugen wieder zusammen. Der Sturm bog und dehnte sie hin und her; zuweilen schienen sie zu verlöschen, dann züngelten sie noch höher auf als vorhin. Sie wuchsen, das sah man; aber rasch war ihr Wachstum nicht. Viel schneller und gewaltiger schwoll das neue Feuerjo durch die ganze Stadt. In angstvoller Spannung bohrten sich alle Blicke auf der kleinen Stelle fest. »Jetzt Hülfe, und es ist noch zu verlöschen!« Und wieder klang angstvoll der Ruf: »Nettenmair! Wo ist Nettenmair?« durch Sturm und Donner. Eine Stimme rief: »Er ist auf dem Turm!« Alle Gemüter fühlten das wie eine Beruhigung. Und die meisten kannten ihn nicht, selbst die meisten unter den Rufern. Und die ihn nicht kannten, schrieen am lautesten. In Augenblicken allgemeiner Hülflosigkeit klammert sich die Menge an einen Namen, an ein bloßes Wort. Ein Teil schiebt damit die Anforderungen des Gewissens zu eigenem Mühen, zu eigenem Wagnis von sich; und diese sind's, die dem Helfer, hat er nicht geholfen, dann unbarmherzig nachrechnen, was er getan und was er nicht getan. Die andern sind froh, täuschen sie sich nur über den nächsten Augenblick hinweg. »Was soll er?« rief einer. »Helfen! Retten!« andere. »Und wenn er Flügel hätte, in dem Sturm wagt's keiner!« »Der Nettenmair gewiß!« Im tiefsten Herzen wußten auch die Vertrauendsten, er wird's nicht wagen. Der Gedanke, daß die Flamme noch gelöscht werden konnte, wenn sie nur zugänglich war, machte die allgemeine Empfindung peinlicher, da er die stumpfe Ergebung hinderte, wozu die unausweichliche Not mit milder Härte zwingt. Als die Ausfahrtür sich öffnete und die herausgehaltene Leiter sichtbar wurde, als es schien, es wagt es dennoch einer, wirkte das so erschreckend als der Einschlag selbst. Und die Leiter hing und schaukelte hoch oben mit dem Manne, der daran hinaufklomm, von Schnee umwirbelt, von Blitzen umzuckt, die Leiter hinauf, die wie aus einem Span geschnitten schien und wie eine Glocke mit ihm schaukelte in der entsetzlichen Höhe. Jeder Atem stockte. Aus Hunderten der verschiedensten Gesichter starrte derselbe Ausdruck nach dem Manne hinauf. Keiner glaubte an das Wagnis, und sie sahen den Wagenden doch. Es war wie etwas, das ein Traum wäre und doch Wirklichkeit zugleich. Keiner glaubte es, und doch stand jeder einzelne selbst auf der Leiter, und unter ihm schaukelte der leichte Span in Sturm und Blitz und Donner hoch zwischen Himmel und Erde. Und sie standen doch auch wieder unten auf der festen Erde und sahen nur hinauf; und doch, wenn der Mann stürzte, dann waren sie's, die stürzten. Die Menschen unten auf der festen Erde hielten sich krampfhaft an ihren eigenen Händen, an ihren Stöcken, ihren Kleidern an, um nicht herabzustürzen von der entsetzlichen Höhe. So standen sie sicher und hingen doch zugleich über dem Abgrunde des Todes, jahrelang, ein Leben lang, denn die Vergangenheit war nicht gewesen; und doch war's nur ein Augenblick, seit sie oben hingen. Sie vergaßen die Gefahr der Stadt, ihre eigene über der Gefahr des Menschen da oben, die ja doch ihre eigene war. Sie sahen, der Brand war getilgt, die Gefahr der Stadt vorüber; sie wußten es wie in einem Traume, wo man weiß, man träumt; es war ein bloßer Gedanke ohne lebendigen Inhalt. Erst, als der Mann die Leiter herabgeklommen, in der Ausfahrtür verschwunden war und die Leiter sich nachgezogen hatte, erst, als sie nicht mehr oben hingen, als sie sich nicht mehr an den eigenen Händen, Stöcken und Kleidern festhalten mußten, da erst kämpfte die Bewunderung mit der Angst, da erst erstickte der Jubel: »Zu, braver Junge!« in dem Angstruf: »Er ist verloren!« Eine alterszitternde Stimme begann zu singen: »Nun danket alle Gott.« Als der alte Mann an die Zeile kam: »Der uns behütet hat«, da erst stand alles vor ihrer Seele, was sie verlieren konnten und was ihnen gerettet war. Die fremdesten Menschen fielen sich in die Arme, einer umschlang in dem andern die Lieben, die er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle stimmten ein in den Gesang; und die Töne des Dankes schwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo Menschen standen, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuser hinein bis in das innerste Gemach und stiegen bis in die höchste Bodenkammer hinauf. Der Kranke in seinem einsamen Bett, das Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, sang von ferne mit; Kinder sangen mit, die das Lied nicht verstanden und die Gefahr, die abgewendet war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche und Sturm und Donner die riesige Orgel darin. Und wieder erhob sich der Ruf: »Der Nettenmair! Wo ist der Nettenmair? Wo ist der Helfer? Wo ist der Retter? Wo ist der kühne Junge? Wo ist der brave Mann?« Sturm und Gewitter waren vergessen. Alles stürzte durcheinander, den Gerufenen suchend; der Turm von Sankt Georg wurde gestürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und sagte, der Nettenmair habe sich einen Augenblick im Türmerstübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen sie in den Zimmermann, er sei doch nicht beschädigt? seine Gesundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmermeister konnte nichts sagen, als daß der Nettenmair mehr getan habe, als ein Mensch im gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu tun imstande sei. Bei solchen Gelegenheiten wie die Rettung heute sei der Mensch ein anderer; hintennach erstaune er selber über die Kräfte, die er gehabt. Aber es bezahle sich alles. Ihn – den Zimmermeister – solle es nicht wundern, schliefe Nettenmair nach der gehabten Anstrengung drei Tage und drei Nächte»in einem Ritt« hintereinander fort. Die Leute schienen bereit, so lang auf den Treppen zu warten, um den Braven nur gleich nach seinem Erwachen zu sehen. Unterdes hatte ein angesehener Mann auf dem nahen Marktplatz eine Geldsammlung begonnen. Geld lohne freilich solch ein Tun nicht, als der Brave heut bewiesen; aber man könne ihm wenigstens zeigen, man wisse, was man ihm zu danken habe. In der Stimmung des Augenblicks, die in jedem einzelnen widerklang, liefen sogar anerkannte Geizhälse hastig heim, ihren Beitrag zu holen, unbekümmert darum, daß sie es eine Stunde später reuen würde. Wenige von den Wohlhabenderen schlossen sich aus; die Ärmeren steuerten alle bei. Der Sammler erstaunte selbst über den reichen Erfolg seiner Bemühungen.

Wohl eine halbe Stunde hatte Apollonius gelegen. Ehe er sich gelegt, hatte er noch gesorgt, daß die Laternen vorsichtig ausgelöscht wurden. Er hatte die Ausfahrtüre geschlossen und die Spritze leeren, die Schläuche in die Türmerstube bringen lassen, damit der Frost keinen Schaden daran bringen konnte. Er vermochte kaum mehr zu stehen. Der Bauherr, der unterdes heraufgekommen war, hatte ihn dennoch halb mit Gewalt in die Türmerstube hinunterbringen müssen. Dann hatte der Freund die Türe von innen verriegelt, Apollonius genötigt, die gefrorenen Kleider auszuziehen, und dann wie eine Mutter an seines Lieblings Bett gesessen. Apollonius konnte nicht schlafen; der alte Mann litt aber nicht, daß er sprach. Er hatte Rum und Zucker mitgebracht; an heißem Wasser fehlte es nicht; Apollonius aber, der nie hitziges Getränk zu sich nahm, wies den Grog dankend zurück. Der Geselle hatte unterdes frische Kleider geholt. Apollonius versicherte, er finde sich wieder vollkommen kräftig, aber er zögerte, aus dem Bette aufzustehen. Der Alte gab ihm lachend die Kleider. Apollonius hatte sich vorhin unter der Decke ausgezogen, und so zog er sich wieder an. Der Bauherr kehrte sich ab von ihm und lachte durch das Fenster Sturm und Blitzen zu; er wußte nicht, ob über Apollonius' Schamhaftigkeit oder überhaupt aus Freude an seinem Liebling. Er hatte oft bereut, daß er Junggeselle geblieben war; jetzt freute es ihn fast. Er hatte ja doch einen Sohn, und einen so braven, als ein Vater wünschen kann.

Auf dem Wege begann eine große Not für Apollonius. Er wurde von Arm in Arm gerissen; selbst angesehene Frauen umfaßten und küßten ihn. Seine Hände wurden so gedrückt und geschüttelt, daß er sie drei Tage lang nicht mehr fühlte. Er verlor seine natürliche edle Haltung nicht; die verlegene Bescheidenheit dem begeisterten Danke, das Erröten dem bewundernden Lobe gegenüber stand ihm so schön an als sein mutig-entschlossenes Wesen in der Gefahr. Wer ihn nicht schon kannte, verwunderte sich; man hatte sich ihn anders gedacht, braun, keckäugig, verwegen, übersprudelnd von Kraftgefühl, wohl sogar wild. Aber man gestand sich, sein Ansehen widersprach dennoch nicht seiner Tat. Das mädchenhafte Erröten einer so hohen männlichen Gestalt hatte seinen eigenen Reiz, und die verlegene Bescheidenheit des ehrlichen Gesichts, die nicht zu wissen schien, was er getan, gewann; die milde Besonnenheit und einfache Ruhe stellte die Tat nur in ein schöneres Licht; man sah, Eitelkeit und Ehrbegierde hatten keinen Teil daran gehabt.

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