Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Das Verkaufsgeschäft mußte vor allen Dingen wieder in Aufnahme gebracht werden. Der Grubenherr hatte immer schlechtere Ware geliefert und der Bruder sie für gute annehmen müssen, um nur überhaupt Ware zu erhalten; die Anerbieten der übrigen Gläubiger, die Schuld als Kapital stehen zu lassen, nahm er an, um mit dem, was von den Vermögensresten der Frau zunächst flüssig gemacht werden konnte, dem Grubenherrn die alte Schuld abzutragen und eine bedeutende neue Bestellung sogleich bar zu bezahlen. So erhielt man wieder und zu billigerem Preise gute Ware und konnte auch seine Abnehmer bewähren. Der Grubenherr, der bei dieser Gelegenheit Apollonius und dessen Kenntnis des Materials und seiner Behandlung kennen lernte, machte ihm den Antrag, da er alt und arbeitsmüde sei, die Grube zu pachten. Bei den Bedingungen, die er stellte, konnte Apollonius auf großen Nutzen rechnen, aber solange er noch in schwerer Lage auf sich allein stand, durfte er seine Kräfte nicht zwischen mehre Unternehmungen teilen.

Apollonius entwarf seinen Plan für das erste Jahr und setzte ein Gewisses fest, das der Bruder zur Führung seines Hausstandes allwöchentlich von ihm in Empfang zu nehmen hatte. Er entließ von den Leuten, wer nur irgend zu entbehren war. Den ehrlichen Valentin machte er zum Aufseher für die Zeit, wo er selbst in Geschäften auswärts sein mußte. Es lag gegründeter Verdacht vor, daß der ungemütliche Geselle sich mancher Veruntreuung schuldig gemacht. Fritz Nettenmair, der an dem Wächter seiner Ehre wie an ihrem letzten Bollwerke festhielt, tat alles, ihn zu rechtfertigen und dadurch im Hause zu erhalten. Der Geselle hatte zu allem, was man ihm vorwarf, ausdrücklichen Befehl von ihm gehabt. Apollonius hätte den Gesellen gern gerichtlich belangt; er mußte sich genügen lassen, ihn abzulehnen und ihm das Haus zu verbieten. Apollonius war unerbittlich, so mild er seine Gründe dem Bruder vortrug. Jeder Unbefangene mußte sagen, er durfte nicht anders, der Geselle mußte fort. Auch Fritz Nettenmair dachte, als er allein war, aber mit wildem Lachen: »Freilich muß er fort!« In dem Lachen klang eine Art Genugtuung, daß er recht gehabt, eine Schadenfreude, mit der er sich selbst verhöhnte:

»Der Federchensucher wäre ein Narr, wenn er ihn nicht schickte. Ein Narr, wie ich einer war, daß ich glaubte, er würde ihn doch behalten. Oh, ich bin zu ehrlich, zu dummehrlich gegen so einen. Was gehen ihn meine Schulden an? In seiner Gewalt wollte er mich haben; darum zwang er mich, Schulden zu machen, damit er den Gesellen fortschicken konnte, der ihm hinderlich war. Herr im Hause wollte er sein, darum verdrängte er mich aus einer Stellung nach der andern, damit er mich einschüchtern könnte, daß ich leiden müßte, was er will, um mit ihr zusammenzukommen ohne mich. Und wenn er recht hat, warum läßt er sich so viel von mir gefallen? Ein ehrlicher Kerl wie ich wäre anders gegen mich. Es ist sein bös Gewissen. Er wäre nicht so, wenn er nicht falsch wäre. Eine Zwickmühle ist's. Was das Einschüchtern nicht hilft, das soll das Einschmeicheln helfen. Er ist mir nicht klug genug. Ich bin einer, der die Welt besser kennt als der Träumer!«

Was auch Apollonius ihm zeigen mochte, Strenge und Milde bestärkte ihn nur in dem Gedanken, der ihn um so weniger losließ, je länger er ihn hegte, und um so durstiger wurde, sein Herzblut zu trinken, je länger er ihn damit fütterte. Er sah kein äußeres Hindernis mehr, das die verbrecherische Absicht des Bruders verhindern konnte.

Von nun an wechselte sein Seelenzustand zwischen verzweifelter Ergebung in das, was nicht mehr zu verhindern, ja! wohl schon geschehen war, und zwischen fieberischer Anstrengung, es dennoch zu verhindern. Danach gestaltete sich sein Benehmen gegen Apollonius als unverhehlter Trotz oder als kriechend lauernde Verstellung. Beherrschte ihn die erste Meinung, dann suchte er Vergessen Tag und Nacht. Zu seinem Unglück hatte der Gesell im nahen Schieferbruche Arbeit gefunden und war ganze Nächte lang sein Gefährte. Die »bedeutenden Leute« wandten sich von ihm und rächten sich mit unverhohlener Verachtung für das Bedürfnis, das er ihnen geweckt und nicht mehr befriedigen konnte; sie vergalten ihm nun die joviale Herablassung, die sie von ihm ertrugen, solange er sie mit Champagner bezahlte. Er wich ihnen aus und folgte dem Gesellen an die Örter, wo dieser heimisch war. Hier griff er die joviale Herablassung um eine Oktave tiefer. Nun ertönten die Branntweinkneipen von seinen Späßen, und diese nahmen immer mehr von der Natur der Umgebung an. Hatten sie doch in bessern Zeiten eine wie vordeutende Verwandtschaft mit diesen gezeigt. Es kam die Zeit, wo er sich nicht mehr schämte, der Kamerad der Gemeinheit zu sein.

Während Apollonius den Tag über für die Angehörigen des Bruders auf seinem gefährlichen Schiff hämmert und die Nächte über Büchern und Briefen sitzt und sich den wohlverdienten Bissen abdarbt, um mit liebendem Eifer gutzumachen, was der Bruder verdorben, erzählt dieser in den Schenken, wie schlecht Apollonius an ihm gehandelt, weil er brav sei und der Bruder schlecht. Er erzählt es so oft, daß er selbst es glaubt. Er bedauert die Gläubiger, die sich von dem Scheinheiligen bürgen ließen, der sie alle betrügen wird, und erzählt ersonnene Geschichten, die sein Bedauern glaubhaft machen sollen. Läge es an ihm, Apollonius hämmerte vergebens und wachte vergebens bei seinen Büchern und Briefen. Aber es glaubt ihm niemand; er untergräbt nur, was er selbst noch von Achtung besitzt. Apollonius' Vorstellungen setzt er Hohn entgegen. Dennoch hofft Apollonius, er wird seine Treue noch erkennen und sich bessern. Seine Hoffnung zeugt besser von seinem eigenen Herzen als von seiner Einsicht in das Gemüt des Bruders. Kommt diesem der Gedanke seiner Verdorbenheit, dann hat er einen Grund mehr, den Federchensucher zu hassen, und die arme Frau muß es entgelten, kehrt er zu einer Zeit heim, wo sich Apollonius schon wieder zum Ausgehen rüstet.

*

Dächer, die mit Metall oder Ziegeln eingedeckt sind, machen in der Regel erst nach einer Reihe von Jahren eine Reparatur nötig; bei Schieferdächern ist es anders. Durch die Rüstungen und das Besteigen der Dachfläche während des Eindeckens entstehen unvermeidlich allerlei Beschädigungen der Schieferplatten, die sich nicht immer sogleich zeigen. Die ersten drei Jahre nach beendeter Ein- oder Umdeckung verlangen oft bedeutendere Nachbesserungen als die fünfzig nächstfolgenden. Zu dieser alten Erfahrung gab auch das Kirchendach von Sankt Georg seinen Beleg. Die Schieferdecke des Turmes dagegen, die Apollonius allein besorgt, legte genügendes Zeugnis ab von ihres Schöpfers eigensinniger Gewissenhaftigkeit. Die Dohlen, die sie bewohnten, hätten noch lange Zeit Ruhe gehabt vor seinem Fahrzeug, hätte nicht ein alter Klempnermeister seinen kirchlichen Sinn durch Stiftung einer blechernen Zierat an Tag legen wollen. Es war ein Blumenkranz, den Apollonius dem Turmdach umlegen sollte, um dessentwillen er diesmal seine Leiter an der Helmstange anknüpfte. Vor etwas mehr als einem halben Jahre hatte er sie abgenommen.

Unterdes war sein angestrengtes Bestreben nicht ohne Erfolg geblieben. Die alten Kunden hatte er festgehalten und neue dazu gewonnen. Die Gläubiger hatten ihre Zinsen und eine kleine Abschlagszahlung für das erste Jahr; das Vertrauen und die Achtung vor Apollonius wuchs mit jedem Tage, mit ihnen seine Hoffnung und seine Kraft, die er mit verdoppelter Anstrengung bezahlte.

Könnte man nur dasselbe von seinem Bruder sagen! von dem Verständnis der beiden Gatten!

Es war ein Glück für Apollonius, daß er mit seiner ganzen Seele bei seinem Vorhaben sein mußte, daß er keine Zeit übrigbehielt, dem Bruder Schritt vor Schritt mit Auge und Herz zu folgen, zu sehen, wie der immer tiefer sank, den zu retten er sich mühte. Wenn er sich freute über sein Gelingen, so war es aus Treue gegen den Bruder und dessen Angehörige; der Bruder sah etwas anderes in seiner Freude und dachte auf nichts, als sie zu stören.

Es kam weit mit Fritz Nettenmair. Im Anfang hatte er den größten Teil des wöchentlich für seinen Hausstand Ausgesetzten der Frau übergeben. Dann behielt er immer mehr zurück, und zuletzt trug er das Ganze dahin, wohin ihm das Bedürfnis, durch Traktieren sich Schmeichler zu erkaufen, treuer gefolgt war als die Achtung der Stadt. Die Erfahrung an den »bedeutenden Leuten« hatte ihn nicht bekehrt. Die Frau hatte sich kümmerlicher und kümmerlicher behelfen müssen. Der alte Valentin sah ihre Not, und von nun an ging das Haushaltgeld nicht mehr durch ihres Mannes, sondern durch Valentins Hände. Zuletzt wurde Valentin ihr Schatzmeister und gab ihr nie mehr, als sie augenblicklich bedurfte, weil das Geld in ihren Händen nicht mehr vor dem Manne sicher war. Sie mußte das, wie alles, von ihm entgelten. Er war schon gewohnt, an der ganzen Welt, die ihn verfolgte, an sich selbst, an dem Gelingen Apollonius', in ihr sich zu rächen. Valentin hätte ihn schon lange darum bei Apollonius verklagt, wenn nicht die Frau selber ihn daran gehindert hätte. Es war ihr eine Genugtuung, um den Mann zu leiden, der ja um sie und ihre Kinder noch mehr litt. Wußte sie Apollonius im Sturm auf der Reise, dann weilte sie stundenlang im unbedeckten Hofe; das Wetter, das ihn traf, sollte auch sie treffen; sie wollte eine gleich schwere Last tragen, wenn sie die seine nicht erleichtern konnte. So weit trieb sie ihre Opferlust.

Sonst benutzte sie die Zeit, die ihr Wirtschaft und Kinder übrigließen, zu allerlei Arbeiten, die Valentin als ihr Agent vertrieb. Das Geld dafür verwandte sie zum Teil – sie konnte lieber hungern, wenn auch nicht ihre Kinder hungern sehen –, die Wohnstube mit allerlei zu schmücken, wovon sie wußte, daß Apollonius es liebte. Und doch wußte sie, Apollonius kam nie dahin, er sah es nie. Aber sie hätte es nicht getan, wußte sie, er würde es sehen. Ihr Gatte sah es, sooft er in die Stube trat. Ihm entging nichts, was seinem Zorne und seinem Hasse einen Vorwand entgegenbringen konnte. Er sah die Haare seiner Knaben in Schrauben gedreht, wie sie Apollonius trug; er sah die Ähnlichkeit mit Apollonius in den Zügen der Frau und der Kinder entstehen und wachsen; er hatte ein Auge für alles, was seines Weibes Verehrung für den Bruder, was ihr bewußtes, selbst was ihr unbewußtes Sichhineinbilden in des Verhaßten eigenste Eigenheit ausplauderte; er verfolgte dessen Einfluß bis zu dem rechtwinkligen Stande der Wirbel an der Fenstersäule. Dann begann er, auf Apollonius zu schimpfen, und in Ausdrücken, als müßte nun auch er zeigen, wieviel man von fremder Art annehmen könne.

Waren die Kinder zugegen, dann war es der Frau erste Sorge, sie zu entfernen. Sie sollten seine Roheit nicht kennen und den Vater verachten lernen. Nicht um seinet-, um der Kinder willen. Er verriet nicht, wie gern er »die Spione« los war. Ihm war es nicht um die Kinder, nur um sich selbst. So einsam hatte ihn die Verderbnis schon gemacht. Er fürchtete die Anklage der Kinder bei Apollonius. Er dachte nicht, daß die Frau selbst ihn verklagen könnte, von der er doch annahm, sie treffe sich mit Apollonius. Leidenschaft und wüstes Leben hatten sein geringes Klarheitsbedürfnis aufgezehrt. Seine Voraussetzungen mochten sich widersprechen, widersprachen sie nur nicht der Stimmung des Augenblicks, der Eigenwilligkeit seiner Leidenschaft. Alles, was er im Zimmer sah, war ihm ein neuer Beweis seiner Schande. Wie sollte er glauben, es habe einen andern Zweck, als von Apollonius bemerkt zu werden! Wenn sie ihm dann sagt, sie möge er schimpfen, nur Apollonius nicht, dann zeigt ihm das scharfe Auge der Eifersucht, wie sie einen Genuß darin findet, um Apollonius zu leiden. Er wirft es ihr vor, und sie leugnet es nicht. Sie sagt ihm: »Weil er um mich leidet und um meine Kinder.« Er gibt sein mühsam Erspartes her, um zu ersetzen, wenn der Mann ihren Kindern das wöchentlich Ausgesetzte raubt.

»Und das sagt er dir? Das hat er dir gesagt!« lacht der Mann mit wilder Freude, sie auf dem Geständnis zu ertappen, daß sie sich mit ihm trifft.

»Er nicht«, zürnt die Frau, weil der Verachtete Apollonius mit seinem Maße mißt. Er, der Gatte, verkleinert, was andere für ihn taten, und rückt, was er für andere tut, diesen unaufhörlich und übertreibend vor. Apollonius dagegen vergrößert das Empfangene; von dem, was er erweist, redet er nicht, oder er selbst verkleinert es, um dem andern Bitte, Annahme und Verpflichtungsbewußtsein zu erleichtern. Apollonius selbst sollte es sagen? Der alte Valentin hat es gesagt. Der hat ja die Uhr selbst als seine verkauft, die Apollonius von Köln mitbrachte. Apollonius hat ihm verboten, es ihr zu sagen.

»Und auch zu sagen, daß er's ihm verboten hat?« lachte der Gatte. Und es ist ein Etwas von Verachtung in seinem Lachen. Solche Dinge kann man freilich dem Träumer zutrauen; aber jetzt will er es ihm nicht zutrauen. »Freilich«, lacht er noch wilder, »ein noch Dümmerer als der Träumer weiß, umsonst tut's keine. Die Schlechteste hält sich eines Preises wert. Eine mit solchen Haaren und mit solchen Augen, solchem Leib!« Er greift ihr in die Haare und sieht ihr in die Augen mit einem Blick, vor dem die Reinheit erröten muß, den nur die Verworfenheit lachend erträgt. Er nimmt das Erröten für ein Geständnis und lacht noch wilder. »Du willst sagen, ich bin noch schlechter als er. Hahaha! Du hast recht. Ich habe solch eine geheiratet. Das hätte er nicht. Dazu ist er doch nicht schlecht genug!«

Jeder Tag, jede Nacht brachte solche Auftritte. Wußte Fritz Nettenmair den Bruder auswärts oder auf seiner Kammer und den alten Herrn im Gärtchen, dann ließ er seinen Zorn an Tischen und Stühlen aus. An der Frau selber sich zu vergreifen, wagte er noch nicht. Erst muß ihn die Wut einmal über den Zauberkreis hinwegreißen, den ihre Unschuld, die Hoheit stillen Duldens um sie zieht. Ist es einmal geschehen, dann hat der Zauber seine Macht verloren, und er wird zuletzt aus bloßer Gewohnheit tun, wovor er jetzt noch zurückschreckt. Die Menschen wissen nicht, was sie tun, wenn sie sagen: »Ich tu's ja nur dies eine Mal.« Sie wissen nicht, welch wohltätigen Zauber sie zerstören, daß einmal nie einmal bleibt.

Der alte Valentin mußte doch nicht Wort gehalten haben, oder es führte Apollonius ein Zufall an der Tür vorbei, als der Bruder ihn fern glaubte. Er hörte das Poltern, den wilden Zornesausbruch des Bruders, er hörte den reinen Klang von der Stimme der Frau dazwischen, noch in der Aufregung rein und wohlklingend. Er hörte beide, ohne zu verstehen, was sie sprachen. Er erschrak. So weit hatte er sich das Zerwürfnis nicht vorgestellt. Und er war schuld an dem Zerwürfnis. Er mußte tun, was er konnte, den Zustand zu bessern.


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