Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Und er machte es wirklich. Es ist die Frage, ob sich unser Held freiwillig hätte entschließen können, die Heimat zu verlassen; er, der nicht begriff, wie jemand wo anders leben könne als in seiner Vaterstadt, dem es immer wie ein Märchen vorgekommen war, daß es noch andere Städte gäbe und Menschen drin wohnten, der sich das Leben und Tun und Treiben dieser Menschen nicht als ein wirkliches, wie die Bewohner seiner Heimat es führten, sondern als eine Art Schattenspiel vorgestellt hatte, das nur für den Betrachter existierte, nicht für die Schatten selbst. Der Bruder, der den alten Herrn zu behandeln wußte, brachte wie zufällig das Gespräch auf den Vetter in Köln, wußte die Andeutungen, die Herr Nettenmair in seiner diplomatischen Weise gab, als vorbereitende Winke aufzufassen, faßte andere, die unsern Helden betrafen, damit zusammen. Nach öfterem Gespräche schien er's für den ausgesprochenen Willen des alten Herrn zu nehmen, daß Apollonius nach Köln zu dem Vetter müsse. Dadurch war dem alten Herrn der Gedanke gegeben, über dem er nun, da er für den seinen galt, nach seiner Weise brütete. Es war wenig Arbeit vorhanden und auch für die nächste Zeit keine Aussicht auf eine bedeutende Vermehrung derselben. Zwei Hände waren zu entbehren, und blieben die im Geschäft, so waren die Kräfte desselben zu einem halben Müßiggang verdammt. Der alte Herr konnte nichts weniger leiden, als was er »leiern« nannte. Es fehlte nur an einem Widerstande von seiten unsers Helden. Dieser wußte nichts von des Bruders Plane. Der Bruder hatte ihn weislich nicht darin eingeweiht, weil er ihn zu gut kannte, um Vorschub von ihm zu erwarten bei einem Tun, das er als unehrlich und unehrerbietig zugleich gegen den Vater verworfen haben würde.

»Du willst den Apollonius nach Köln schicken«, sagte der Bruder eines Nachmittags zu dem alten Herrn. »Wird er aber gehen wollen? Ich glaube nicht. Du wirst mich auf die Wanderschaft schicken müssen. Der Apollonius wird nicht gehen. Wenigstens heut und morgen noch nicht.«

Das war genug. Noch denselben Abend winkte der alte Herr unseren Helden sich in das Gärtchen nach. Vor dem alten Birnbaum blieb er stehen und sagte, indem er ein kleines Reis, das aus dem Stamme gewachsen war, entfernte: »Morgen gehst du zum Vetter nach Köln!«

Mit schneller Wendung drehte er sich nach dem Angeredeten um und sah verwundert, daß Apollonius gehorsam mit dem Kopfe nickte. Es schien ihm fast unlieb, daß er keinen Trotz zu brechen haben sollte. Meinte er, der arme Junge denke trotzige Gedanken, wenn er sie auch nicht ausspreche, und wollte er auch den Trotz der Gedanken brechen? »Heut noch schnürst du deinen Ranzen, hörst du?« fuhr er ihn an. Apollonius sagte: »Ja, Vater.«

»Morgen mit Sonnenaufgang machst du dich auf die Reise.« Nachdem er so eine trotzige Antwort fast erzwingen zu wollen geschienen, mochte er seinen Zorn bereuen. Er machte eine Bewegung. Apollonius ging gehorsam. Der alte Herr folgte ihm und kam einigemal auf das Zimmer der Brüder, um mit milderem Grimme den Einpackenden an mancherlei zu erinnern, was er nicht vergessen solle.

Und vom Georgenturme tönte eben der letzte von vier Glockenschlägen, als sich die Türe des Hauses mit den grünen Fensterladen auftat und unser junger Wanderer heraustrat, von dem Bruder begleitet. An derselben Stelle, von der er jetzt auf die unter ihm liegende Stadt herabsah, hatte der Bruder Abschied von ihm genommen, und er ihm lange, lange nachgesehen. »Vielleicht gewinn' ich dir sie doch«, hatte der Bruder gesagt, »und dann schreib' ich dir's sogleich. Und ist's mit der nichts, so ist sie nicht die einzige auf der Welt. Du bist ein Kerl, ich kann dir's wohl sagen, so hübsch wie einer, und legst du nur dein blödes Wesen ab, kann dir's bei keiner fehlen. Es ist einmal so, die Mädel können nicht um uns werben, und ich möchte die nicht einmal, die sich mir von selbst an den Hals würfe. Und was soll ein rasches Mädel mit einem Träumer anfangen? Der Vetter in Köln soll ein paar schöne Töchter haben. Und nun leb' wohl. Deinen Brief besorg' ich noch heut.«

Damit war der Bruder von ihm geschieden.

»Ja«, sagte Apollonius bei sich, als er ihm nachsah. »Er hat recht. Nicht wegen der Töchter vom Vetter oder sonst einer andern, und wär' sie noch so hübsch. Wär' ich anders gewesen, jetzt müßt' ich vielleicht nicht in die Fremde. War ich's, dem sie die Blume hingelegt hat am Pfingstschießen? Hat sie mir begegnen wollen damals und früher? Wer weiß, wie schwer's ihr geworden ist. Und wie sie das alles umsonst getan, hat sie sich nicht vor sich selber schämen müssen? Oh, sie hat recht, wenn sie nichts mehr von mir wissen will. Ich muß anders werden.«

Und dieser Entschluß war keine taube Blüte gewesen. Das Haus seines Vetters in Köln zeigte sich keiner Art von Träumerei förderlich. Er fand ein ganz anderes Zusammenleben als daheim. Der alte Vetter war so lebenslustig als das jüngste Glied der Familie. Da war keine Vereinsamung möglich. Ein aufgeweckter Sinn für das Lächerliche ließ keine Art von Absonderlichkeit aufkommen. Jeder mußte auf seiner Hut sein; keiner konnte sich gehen lassen. Apollonius hätte ein anderer werden müssen, und wenn er nicht wollte. Auch im Geschäfte ging es anders her als daheim. Der alte Herr im blauen Rock gab seine Befehle wie der Gott der Hebräer aus Wolken und mit der Stimme des Donners, er hätte seinem Ansehen etwas zu vergeben geglaubt durch Aussprechen seiner Gründe, er gab kein Warum, und seine Söhne wagten nicht, nach Warum zu fragen. Und selbst das Verkehrte mußte durchgeführt werden, war der Befehl einmal ausgesprochen. Über Dinge, die das Geschäft nicht betrafen, redete er mit den Söhnen gar nicht. Dagegen war es des Vetters Weise, ehe er selbst seine Ansicht über einen Punkt des Geschäftes aussprach, seine Gehülfen um ihre Meinung zu fragen. Es war dann nicht genug an der Meinung, er wollte auch die Gründe wissen. Dann machte er Einwürfe; war ihre Meinung die richtige, mußten sie dieselbe siegreich durchkämpfen; irrten sie, nötigte er sie, durch eigenes Denken auf das Rechte zu kommen. So erzog er sich Helfer, denen er manches überlassen konnte, die nicht um jede Kleinigkeit ihn fragen mußten. Und so hielt er es auch mit anderen Dingen. Es waren wenig Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, die er nicht nach seiner Weise mit seiner Familie – und Apollonius gehörte dazu – durchsprach. Indem er zunächst nur darauf auszugehen schien, das Urteil der jungen Leute zu bilden, gab er ihnen einen Reichtum von Lebensregeln und Grundsätzen, die um so mehr Frucht versprachen, da die jungen Leute sie hatten selbst finden müssen. Woran der Vetter bei seinem Verwandten nicht tastete, das war dessen Gewissenhaftigkeit, Eigensinn in der Arbeit und Sauberkeit des Leibes und der Seele. Doch ließ er es nicht an Winken und Beispielen fehlen, wie auch diese Tugenden an Übermaß erkranken könnten.

Apollonius erkannte deutlich, daß sein Glück ihn zu dem Vetter geführt. Er verlor das träumerische Wesen immer mehr; bald konnte der Vetter die schwierigste Arbeitsaufgabe in des Jünglings Hände legen, und er vollendete jede ohne die Hülfe fremden Rates zu solcher Zufriedenheit des Vetters, daß dieser sich gestehen mußte, er selbst würde die Sache nicht umsichtiger begonnen, nicht energischer betrieben, nicht schneller und glücklicher beendet haben. Bald konnte der Jüngling sich ein Urteil bilden über die Art, wie sie daheim die Geschäfte geführt hatten. Mußte er sich sagen, daß sie nicht die zweckmäßigste gewesen, ja daß manches, was der alte Herr angeordnet hatte, verkehrt genannt werden mußte, dann warf er sich wohl seinen unkindlichen Sinn bitter vor, strengte sich an, das Tun des Vaters bei sich zu rechtfertigen, und zwang sich, war ihm das unmöglich gewesen, zu dem Gedanken, der alte Herr habe seine guten Gründe gehabt und er selbst sei nur zu beschränkt, um sie zu erraten.

Es kamen Briefe vom Bruder. Im ersten schrieb dieser, er sei nun so weit über das Mädchen klar, daß ihre Härte gegen Apollonius von einer andern Neigung des Mädchens herrühre, deren Gegenstand zu nennen sie nicht zu bewegen sei. Aus dem nächsten, der kaum von dem Mädchen sprach, las Apollonius ein Mitleid mit ihm heraus, dessen Grund er nicht zu finden wußte. Der dritte gab diesen Grund nur zu deutlich an. Der Bruder selbst war der Gegenstand der verschwiegenen Neigung des Mädchens gewesen. Sie hatte ihm mancherlei Zeichen davon gegeben, nachdem er nach des Vaters Willen seiner ersten Geliebten entsagt. Er hatte nichts davon geahnt, und als er nun als Werber für den Bruder aufgetreten, hatte Scham und Überzeugung, er selbst liebe sie nicht, ihren Mund verschlossen.

Nun begriff Apollonius unter Schmerzen, daß er sich geirrt, als er gemeint, jene stummen Zeichen gälten ihm. Er wunderte sich, daß er seinen Irrtum nicht damals schon eingesehen. War nicht sein Bruder ihr so nah als er, da sie die Blume hinlegte, die der Unrechte fand? Und wenn sie ihm so absichtlich-unabsichtlich allein begegnete – ja, wenn er sich die Augenblicke, die Eigentümer seiner Träume, vergegenwärtigte – sie hatte seinen Bruder gesucht; darum war sie erschrocken, ihm zu begegnen, darum floh sie jedesmal, wenn sie ihn erkannte, wenn sie den fand, den sie nicht suchte. Mit ihm sprach sie nicht; mit dem Bruder konnte sie viertelstundenlang scherzen.

Diese Gedanken bezeichneten Stunden, Tage, Wochen tiefinnersten Schmerzes; aber das Vertrauen des Vetters, das durch Bewährung vergolten werden mußte, die heilende Wirkung emsigen und bedachten Schaffens, die Männlichkeit, zu der sein Wesen durch beides schon gereift war, bewährten sich in dem Kampfe und gingen noch gekräftigter daraus hervor.

Ein späterer Brief, den er vom Bruder erhielt, meldete ihm, der alte Walther, der des Mädchens Neigung entdeckt, und der alte Herr im blauen Rocke waren übereingekommen, der Bruder solle das Mädchen heiraten. Des alten Herrn Soll war ein Muß, das wußte Apollonius so gut als der Bruder. Des Mädchens Neigung hatte den Bruder gerührt; sie war schön und brav; sollte er sich dem Willen des Vaters entgegensetzen um Apollonius' willen, um einer Liebe willen, die ohne Hoffnung war? Der Zustimmung Apollonius' im voraus gewiß, hatte er sich in die Schickung des Himmels ergeben.

Die ganze erste Hälfte des folgenden Briefes, in welchem er seine Heirat meldete, klang die fromme Stimmung nach. Nach vielen herzlichen Trostesworten kam die Entschuldigung oder vielmehr Rechtfertigung, warum der Bruder zwischen diesem und dem vorigen Briefe zwei Jahr lang nicht geschrieben. Darauf eine Beschreibung seines häuslichen Glückes; ein Mädchen und einen Knaben hatte ihm sein junges Weib geboren, das noch mit der ganzen Glut ihrer Mädchenliebe an ihm hing. Der Vater war unterdes von einem Augenübel befallen und immer unfähiger geworden, das Geschäft nach seiner souveränen Weise allein zu leiten. Das hatte ihn noch immer wunderlicher gemacht. Wenn er eine Zeitlang die Zügel ganz den Händen des Sohnes überlassen, dann hatte ihn das alte Bedürfnis zu herrschen, durch die Langeweile der gezwungenen Muße noch geschärft, sich wieder aufraffen lassen. Nun kannte er die Sache, um die es sich eben handelte (und an die er sich bisher nichts gekehrt), nur unzureichend; und wenn er sie kannte, so war ihm darum zu tun, seinen Willen als den herrschenden durchzusetzen. Und schon deshalb verwarf er den Plan, nach dem der Sohn bisher gehandelt. Was bereits geschehen, Arbeit und Auslage war verloren. Dabei mußte er doch wieder den Sohn zu Hülfe nehmen, und die beste Darstellung des Verhaltes ersetzte dem alten Herrn den Mangel der eigenen Anschauung nicht. Zuletzt mußte er einsehen, daß die Sache auf seinem Wege nicht ging. Geld, Zeit und Arbeitskraft war vergeudet, und was ihn noch tiefer traf, er hatte sich bloßgegeben. Nach einigen dergestalt mißlungenen Versuchen, die Zügel als blinder Fuhrmann wieder an sich zu reißen, hatte er sich ganz von den Geschäften zurückgezogen. Bloß als beratender Helfer sich einem andern unterzuordnen und gar dem eigenen Sohne, der bis vor kurzem noch der ungefragte und willenlose Vollzieher seiner Befehle gewesen, das war dem alten Herrn unmöglich. Im Gärtchen fand er Beschäftigung; er konnte sich neue machen, wenn ihm nicht genügte, was die Pflege des Gärtchens bis jetzt seinen Besorgern von selbst abgefordert. Er konnte das Alte entfernen, Neues ersinnen und wieder Neuerem Platz machen lassen, und er tat es. Unumschränkt herrschend in dem kleinen grünen Reiche, in dem von nun an kein Warum mehr laut werden durfte, wo neben dem Gesetze der Natur nur noch ein einziges wartete, sein Wille, vergaß oder schien er zu vergessen, daß er früher einen mächtigeren Zepter geführt.

Mehr aber als von dem Geschäfte und dem wunderlichen alten Herrn schrieb der Bruder in seinen folgenden Briefen von den Festlichkeiten der Schützengesellschaft der Vaterstadt und einem Bürgervereine, der zusammengetreten war, sein Ergötzen von dem der niedriger stehenden Schichten der Bevölkerung abzusondern. Aus allen den Beschreibungen von Vogel- und Scheibenschießen, Konzerten und Bällen, als deren Mittelpunkt er und seine junge Frau dastanden, lachte die höchste Befriedigung der Eitelkeit des Briefstellers. Nur in einer Nachschrift war in dem letzten Briefe des ernsteren Umstandes leicht Erwähnung getan, die Stadt wolle eine Reparatur des Turm- und Kirchendaches zu Sankt Georg vornehmen lassen und habe ihn mit der Ausführung derselben betraut. Der im blauen Rocke dringe in ihn, Apollonius aufzufordern, in die Vaterstadt und das Geschäft zurückzukehren. Der Bruder war der Meinung, Apollonius werde die ihm liebgewordenen Verhältnisse in Köln nicht um einer so geringfügigen Ursache willen verlassen mögen. Die Reparatur werde mit den vorhandenen Arbeitskräften in kurzer Zeit zu vollenden sein. Der schadhaften Stellen an Turm- und Kirchendach seien nur wenige. Überdies, sehe er auch ab von dem Widerwillen seiner Frau gegen Apollonius, den er seither so vergebens bekämpft, würde es diesem eine unnütze Quälerei sein, alles das sich wieder aufzufrischen, was er froh sein müsse, vergessen zu haben. Er werde leicht einen Vorwand finden, dem Gehorsam gegen einen Befehl, den nur Wunderlichkeit eingegeben, auszuweichen. Den Schluß des Briefes machte eine neckende Anspielung auf ein Verhältnis unseres Helden mit der jüngsten Tochter des Vetters, von dem die Vaterstadt voll sei. Der Bruder ließ sich ihr als seiner künftigen Schwägerin empfehlen.


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