Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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So schwärmte, lachte und weinte das fiebernde Weib in seinen Armen fort. Alles vergessend, wie ein Kind an einem Abgrund spielend, den es nicht sieht, ruft sie unbewußt eine Gefahr herbei, tödlicher als die, über deren Vorbeigehen sie jubelt, drohender als die, wogegen sie den Mann mit ihrem Leibe decken will. Sie ahnt nicht, was ihr leidenschaftlich Tun, die Süßigkeit ihrer unbekümmerten Hingebung, was ihre Liebkosungen, was ihr warmes schwellendes Umfangen in dem Manne aufregen muß, der sie liebt; daß sie alles tut, was den Mann, dessen Rechtlichkeit und Edelmut sie sich so unbekümmert anheimgibt, Rechtlichkeit und Edelmut im Tumulte des Blutes vergessen machen kann. Sie hat keine Ahnung, welchen Kampf sie in ihm entzündet und wie sie ihm den Sieg erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Und er weiß nun, das Weib in seinen Armen war sein; der Bruder hat ihn um sie und sie um ihn betrogen. Jetzt weiß er's, wo das Weib in seinen Armen ihm die Größe des Glückes zeigt, um das der Bruder ihn betrogen hat. Er hat sie geraubt und noch mißhandelt; und für alles, was er um ihn gelitten, getan, verfolgt er ihn noch und steht ihm nach dem Leben. Gehört das Weib dem, der sie ihm gestohlen, der sie mißhandelt, den sie haßt? oder ihm, dem sie schändlich gestohlen worden ist, der sie liebt, den sie liebt? Das alles waren nicht deutliche Gedanken: hundert einzelne Empfindungen, die, in den Strom eines tiefen und wilden Gefühls hingerissen, durch seine Adern stürzten und die Muskeln seiner Arme spannten, etwas, das sein ist, an sein Herz zu pressen. Aber eine dunkle Angst drängt dem Strom entgegen und hält die Muskeln wie im Starrkrampfe fest. Das Gefühl, er will etwas tun, und er ist sich nicht klar, was es ist, wohin es führen kann; eine ferne Erinnerung, daß er ein Wort gegeben hat, das er brechen wird – er läßt sich fortreißen; die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem Tische und, bewege er sich, eh' er sich umgesehn, könne er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein wertvolles Papier werfen: alledem lag die angstvolle Vorahnung zugrunde, er könne mit einer Bewegung etwas verderben, was nicht wieder gutzumachen sei. Er rang schon lange unter den berauschenden Tönen nach etwas, bevor er wußte, daß er rang und daß dies Etwas die Klarheit war, das Grundbedürfnis seiner Natur. Und nun kam sie ihm und sagte: »Das Wort, das du gegeben hast, ist, die Ehre des Hauses aufrecht zu erhalten, und was du tun willst, muß sie zernichten.- Er war der Mann und mußte für sich und sie einstehen. Die Klarheit brandmarkte den Verrat, den er mit einem Drucke, mit einem Blicke an dem rührenden unbedingten Vertrauen üben würde, das aus des Weibes Hingebung sprach, mit aller Schmach, die sie fand. Sie zeigte ihm die Reinheit des Gesichtes, das an seinem Herzen lag und schwärmend zu ihm aufsah, und wie er mehr an ihr und an sich selbst verderben würde, als das war, worüber er ihren und seinen Feind anklagte. Noch stand die heilige Scheu schützend zwischen ihm und ihr, die ein einziger Druck, ein einziger Blick für immer verscheuchen konnte. Und doch sah er angstvoll sich nach einem Helfer um. Wenn nur Valentin käme! Dann mußt' er sie aus seinen Armen lassen. Valentin kam nicht. Aber die Scham über seine Schwäche, die die Hülfe außen suchte, wurde zum Helfer. Er legte die Kraftlose sanft auf den Rasen. Als er die weichen Glieder aus den Händen ließ, verlor er sie erst. Er mußte sich abwenden und konnte einem lauten Schluchzen nicht wehren. Da sah der jüngste Knabe neugierig in den Hof. Er eilte hin, hob das Kind in seine Arme, drückte es an sein Herz und stellte es zwischen sich und sie. Es war eigen; mit dem Drucke, mit dem er das Kind an sein Herz gedrückt, entband sich der wilde Drang, und nun erst lösten sich die gespannten Muskeln. Er hatte sie in dem Kinde an sein Herz gedrückt, wie allein er sie an sein Herz drücken durfte.

Die Frau sah ihn den Knaben zwischen sich und ihn stellen und verstand ihn. Glühende Röte stieg ihr bis unter die wilden braunen Locken. Sie wußte nun erst, daß sie in seinen Armen gelegen, daß sie ihn umfaßt und mit ihm gesprochen hatte, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie sah nun erst die Gefahr, an deren Abgrund sie ihn und sich gestellt. Sie richtete sich auf den Knieen auf, als wollte sie ihn flehen, sie nicht zu verachten. Zugleich fiel ihr wieder ein, der Mann konnte sie belauscht haben und die Drohung noch vollziehen. Dann hatte sie ihn durch die Freude über seine Rettung erst verdorben. Er sah das alles und litt es mit ihr. Er hatte sich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vorging; aber in seinem Innern war der Kampf selbst nicht ausgekämpft. Er neigte sich zu ihr und sagte: »Du bist meine brave Schwester. Du bist braver als ich. Und über uns und deinem Manne ist Gott. Aber nun geh hinein, Schwester, liebe brave Schwester.« Sie wagte nicht aufzusehen, aber durch die gesenkten Lider sah sie seine Milde, das tiefe unausschöpfbare Wohlwollen, die unvertilgbare Menschenachtung auf seiner leuchtenden Stirne und um den sanften Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter Maßstab war, wußte sie nun, sie war nicht schlecht, sie konnt' es nicht werden; er trug sie bewahrt wie die Mutter das Kind vorsichtig auf starken Armen. Er wuchs ihr, wie sie ihn durch die gesenkten Lider sah, mit dem Haupte bis an den Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht schaden konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den Arm und bot die Hand, sie aufzurichten. Sie bebte unter der Berührung, und wie sie noch auf den Knieen lag, stieg ihr Gedanke zu ihm auf wie ein Gebet. Er führte sie an die Türe. Vom Schuppen her kam Herr Nettenmair mit dem Gesellen. Fritz Nettenmair, der ihnen nachschlich, sah noch, wie er sie führte.

*

Von allem was er heute gewollt und gelitten, stand nichts in Herrn Nettenmairs verknöchertem Antlitz zu lesen, als er heimkam. Die junge Frau und Valentin mußten eine Predigt über grundlose Einbildungen anhören; denn die Geschichte hatte sich ausgewiesen, wie sie war, nicht wie sie der Valentin zusammengeängstelt hatte. Der Reise Fritz Nettenmairs gedachte er als eines lang von demselben gehegten, aber von ihm erst heute genehmigten Vorhabens. Apollonius erhielt den Befehl, sogleich mit den Geschäftsbüchern auf des alten Herrn Stube zu kommen. Der alte Herr gab vor, er wollte den Stand des Geschäftes genau kennen lernen; sein wahrer Zweck dabei war, Apollonius so lange bei sich in Sicherheit zu behalten, bis sein Bruder abgereist sei. Apollonius konnte, ohne wegen der nächsten laufenden Ausgaben in Verlegenheit zu kommen, das Geld zu des Bruders Reise bis Hamburg beschaffen. Dort wußte er einen frühern Kölner Freund, der sich in sehr guten Verhältnissen befand und der, um manche geleistete Dienste zu vergelten, ihm öfter und noch neulich eine Geldhülfe angeboten hatte. Auf des Vaters Stübchen schrieb er an ihn. Der Freund sollte dem Bruder einen Platz auf einem Passagierschiff besorgen, seine Aufenthaltskosten bestreiten und ihm – aber nicht eher als unmittelbar vor der Abfahrt – eine gewisse Summe Geldes übermachen, alles auf Apollonius' Rechnung. Valentin mußte noch den Abend auf die Post, um den Brief aufzugeben und Fritz Nettenmair einschreiben zu lassen. Der Wagen ging eine Stunde vor Sonnenaufgang ab; noch eine Stunde früher sollte Valentin auf dem Zeuge sein und sich bei dem alten Herrn melden.

So war das Leben in dem Hause mit den grünen Laden immer schwüler geworden. Diese Nacht mit ihrer stillen Unruhe glich der angstvollen Stille, darin die Kräfte eines Meersturms seinen Ausbruch vorbereiten. Es war ein eigenes Treiben. Wer in dieser Nacht in das Haus, aber nicht in die Seele der Menschen hätte hereinsehn können, der wäre aus einer Befremdung in die andere gefallen. Sonst, wenn ein Glied einer Familie zu einer Reise sich rüstet, von der es vielleicht nie wieder heimkehren wird, drängen sich die übrigen um ihn. Je weniger der Augenblicke werden, die er noch mit ihnen zubringen kann, je tiefer werden sie ausgenossen. Jahre des gewöhnlichen Miteinanderlebens drängen sich in ihnen zusammen. Jeder Blick, jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges Andenken gegeben und genommen. Stundenweit her kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch einmal zu sehen. Nach Fritz Nettenmair sahen die Leute im Hause nicht. Sie schauderten, ihm zu begegnen, als wär' er ein schreckendes Gespenst. Und wie ein solches schlich er darin umher und wich den Menschen aus, wie sie ihm. Und die Menschen, denen er ausweicht, die ihm ausweichen, sind nicht fremde: sein Vater ist's, sein Bruder, sein Weib und seine Kinder. Ein Reisender, der nicht gesehen wird, der sich nicht sehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl nimmt und der doch freiwillig reist und dessen Reise die andern wissen und genehmigen!

Apollonius mußte dem alten Herrn die Geschäftsbücher vorlesen, ein wunderlich-zweckloses Werk! Denn weder er noch der alte Herr war im Geiste bei den Zahlen. Und der alte Herr tat noch dazu, als wisse er alles schon. Daß Apollonius ihm die Gefahr des Hauses verschwiegen, erwähnte er natürlich nicht; von den Gedanken, die sich bei ihm daran knüpften, ließ er keinen sehen. Aus seinen diplomatischen Reden, zu denen er sich bisweilen zusammenraffte, um dem Schattenspiel vor dem Sohne einen Schein der Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht erraten, wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius möglich war, der alte Herr habe alles gehen lassen, um zu zeigen, wohin es kommen müsse, wenn er die Hand vom Ruder abziehe, und daß er gesinnt sei, von nun an selbst wieder das Schiff zu leiten. Dazwischen fragte er den Sohn einmal wie beiläufig, ob er etwas Genaueres von dem Verunglückten in Tambach wisse. Apollonius konnte ihm sagen, er kenne den Mann; es sei derselbe ungemütliche Gesell, der vordem bei ihnen gewesen. »So?« sagte der alte Herr gleichgültig. »Und weiß man, was die Ursache war?« Apollonius hatte gehört, das Seil, das über dem Verunglückten gerissen, sei ein fast neues, aber es müsse an der Stelle des Risses rundum mit einem scharfen spitzen Werkzeug durchschnitten gewesen sein. Der alte Herr erschrak. Er ahnte einen Zusammenhang, auf den auch andere kommen konnten. Valentin, wußte er, hatte vorhin beredet, der Arbeiter, der den Karren mit dem Handwerkszeuge nach Brambach gefahren, müsse auf dem Rückweg ein Anschleifeseil verloren haben. Apollonius hatte den Valentin damit beruhigt, er habe das Seil in Brambach verliehen. Der alte Herr war nun überzeugt, auch Apollonius müsse einen Zusammenhang ahnen, wenn nicht mehr als nur ahnen, und habe durch die Antwort an Valentin ihn den Augen des alten Gesellen entziehen wollen. Er sah, daß Apollonius in seinem, des alten Herrn, Geiste verfuhr. Von dieser Seite war also nichts zu fürchten. Aber es konnten Umstände im Spiele sein, die trotz Apollonius' Vorsicht eine Entdeckung herbeizuführen drohten. Er ließ seine Zurückhaltung, so schwer dies ihm fiel, diesmal beiseite, und auf wiederholte Fragen mußte Apollonius sagen, was er wußte. Es war folgendes. Den ersten Tag hatte Apollonius in Brambach nur die Leiter gebraucht. Der Geselle war in dem Wirtshaus gewesen, als er ankam. Denselben Abend noch hatte er ihn über den Hof schleichen sehen. Am andern Morgen fehlte das Seil. Er hatte sogleich Verdacht auf den Gesellen, aber nach seiner gewissenhaften Weise zögerte er, ihn auszusprechen. Auf dem Heimwege, vor dem Tor der Stadt, erfuhr er das Unglück, das ihn getroffen, zugleich, daß der Gesell bei keinem Meister gestanden, sondern auf eigene Hand die kleine Reparatur an dem Schieferdache in Tambach unternommen. Ein Stück des von ihm hinterlassenen Handwerkszeugs, ein Zimmerbeil, war schon von dem rechtmäßigen Besitzer beansprucht worden. Bald darauf machte die Warnung Christianens ihn gewiß, das Seil, durch dessen Zerreißen der Gesell verunglückt, war das seine. Wie die Sache nun stand, durfte er sich natürlich nicht zu dem Eigentumsrechte daran bekennen; er mußte seiner Ehrlichkeit sogar den Zwang antun, durch Erdichtungen fremder Vermutung der Wahrheit zuvorzukommen. Der alte Herr gebot dem Sohne, weiter zu lesen. Apollonius tat es, aber im Geiste waren beide wiederum bei andern Dingen. Apollonius wollte sich zwingen. Es war seiner sonstigen Art geradezu entgegen, nicht mit ganzer Seele bei der Sache zu sein, die er trieb. Es gelang ihm nicht. So griff fremde Zerrüttung auch in diese gleichgewichtige wohlgeordnete Seele herüber. Endlich kam Valentin, erhielt das Reisegeld für Fritz Nettenmair und die Anweisung an den Hamburger Freund und die Weisung, das Gepäck des Reisenden nach dem Posthofe zu tragen und, etwaigen Auftrages harrend, in seiner Nähe zu bleiben, bis er abgefahren sei. Eine Stunde später kam er zurück und hatte den Befehl vollzogen. Er erzählte, Fritz Nettenmair freue sich auf das neue Leben in Amerika. Sie sollten sich wundern über ihn, wenn sie ihn wiedersähen. Er konnte kaum die Zeit erwarten. Der alte Herr richtete sich innerlich hoch auf; er meinte grimmig, Apollonius könne vor Schlaf in den Augen nicht mehr lesen, und schickte ihn ins Bett. Das begonnene Werk fortzusetzen, müsse sich ein andermal Zeit finden.

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