Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Und doch war es dieselbe Blume. Sie las es. Wie ward ihr, als sie las, es war dieselbe! Träne um Träne stürzte auf das Papier, und aus ihnen quoll ein rosiger Duft und verhüllte die engen Wände des Stübchens. In dem Duft regte sich ein Wehen wie von leisem Morgenwind im Lenz, wenn er die leichten Nebel flatternd ballt und durch die Risse blauer Himmel lacht und goldene Höhen. Und immer weiter wird der Blick, und wie der Schleier wogend tief und tiefer sinkt, steigen rauschende Wälder auf, grüne Wiesen mit ihrem Blumenschmelz, trauliche Gärten mit laubigen Schatten, Häuser mit glücklichen Menschen. Oh, es war eine Welt von Glück, von Lachen und Weinen vor Glück, die aus den Tränen stieg, jede färbte sie regenbogenglänzender, jede rief: sie war dein! und die letzte jammerte: und sie ist dir gestohlen! Die Blume war von ihr; er trug sie auf seiner Brust in Sehnsucht, Hoffen und Fürchten, bis die des Bruders war, deren er dabei gedachte. Dann warf er sie, die Botin des Glückes, dem geschiedenen nach. Er war so brav, daß er für Sünde hielt, die arme Blume dem vorzuenthalten, der ihm die Geberin gestohlen. Und an solchem Manne hätte sie hängen dürfen, mit allen Pulsen sich in ihn drängen, ihn mit tausend Armen der Sehnsucht umschlingen zum Nimmerwiederfahrenlassen! Sie hätte es gekonnt, gedurft, gesollt! es wäre nicht Sünde gewesen, wenn sie es tat; es wäre Sünde gewesen, tat sie es nicht. Und nun wäre es Sünde, weil der sie und ihn betrogen, der sie nun quälte um das, was er zur Sünde gemacht? Der sie zur Sünde zwang; denn er zwang sie, ihn zu hassen; und auch das war Sünde, und durch seine Schuld. Der sie zwang – er zwang sie zu mehr, zu Gedanken, die mit Gott im Himmel hadern wollten, zu Gedanken, die aus der Liebe und dem Hasse, die Gott verbot, ein Recht machen wollten, zu schrecklich klugen, verführerisch flüsternden, wilden, heißen, verbrecherischen Gedanken. Und wies sie diese schaudernd von sich, dann sah sie unabsichtliche Sünde unabwendbar drohen. Mit entsetzlich süßem Bangen wußte sie den Mann so nahe, der ihr fremd sein sollte, der ihr nicht fremd war, vor dem sie in der Angst ihrer Schwäche keine Rettung sah. Sie floh vor ihm, vor sich selbst, in die Kammer, wo ihre Kinder schliefen, wo ihre Mutter gestorben war. Dorthin, wo ihr so heilig wurde, hörte sie das leise Regen der unschuldig schlummernden Leben, zu deren Hüterin sie Gott gesetzt, die ruhigen Hauche hinflüstern durch die stille dunkle Nacht. Jeder Hauch ein sorglos-süß aufgelöstes Sichbefehlen an die unbekannte Macht, die das All in ihren Mutterarmen trägt. Sie ging von Bett zu Bett und lag knieend regungslos davor und legte die Stirn an die scharfen Bettkanten.

Vom Sankt-Georgenturme her klangen die Glocken, wie sie der Schritt der Zeit berührte, und er hielt nicht an im Wandern. Es schlug Viertel, Halb, Dreiviertel, Ganz, und wieder Viertel, und wieder Halb. Das leise Wehen der schlummernden Kinderseelen zitterte um sie. Sie lag, die heißen Hände gefalten, lange, lang. Da stieg es empor aus dem leisen Weben, silbern wie ein Ostermorgenglockenklang: »Was fürchtest du dich vor ihm?« Und sie sah all ihre Engel um sich knieen, und er war einer von ihren Engeln, der schönste und der stärkste und der mildeste. Und sie durfte zu ihm aufsehen, wie man zu seinen Engeln aufsieht. Sie stand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe breitete sie auf dem Tische aus, dann ging sie zur Ruhe. Ihr Besitzer sollte wissen, wenn er heimkehrte und die Briefe fand, sie hatte sie gelesen. Nicht um ihn zu erschrecken, nicht als Anklage, wie sie auch von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das Bewußtsein seiner Schuld darauf schrieb; er las aus seiner Beleidigung ihr Rachedrohen und ihre Pläne, es in das Werk zu setzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wäre er so rein gewesen als sie, er hätte gewußt, sie hatte nur dem Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie schied schwer von den Briefen; aber sie gehörten nicht ihr. Nur die Kapsel mit der dürren Blume nahm sie weg und wollte ihm am Morgen sagen, daß sie es getan.

Fritz Nettenmair saß noch ganz allein im Weinhaus. Das Haupt hing ihm müde auf die Brust herab. Er rechtfertigte vor sich seinen Haß und sein Tun. Der Bruder und sie waren falsch; der Bruder und sie waren schuld, nicht er, daß er hier vergeudete, was seinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz gestohlen, konnte für sie sorgen. Eben war es ihm gelungen, sich zu überzeugen, als daheim die Kammertüre ging. Die Frau war wieder vom Bette aufgestanden und legte auch die Kapsel mit der Blume wieder zu den Briefen. Apollonius hatte sie nicht behalten, sie durfte es auch nicht. Der Gatte dachte noch nicht an das Heimgehen, als sie die Decke wieder über ihre reinen Glieder breitete. Über dem Gedanken, so fort sollte Apollonius ihr Leitstern sein, und wenn sie handelte wie er, blieb sie rein und bewahrt, schlief sie ein und lächelte im Schlummer wie ein sorglos Kind.

*

Das Leben in dem Hause mit den grünen Laden wurde immer schwüler. Die gegenseitige Entfremdung der Gatten nahm mit jedem Tage zu. Fritz Nettenmair behandelte die Frau immer rücksichtsloser, wie seine Überzeugung wuchs, durch Schonung sei nichts mehr zu gewinnen. Diese Überzeugung floß aus der immer kälteren Ruhe der Verachtung, die sie ihm entgegensetzte; er dachte nicht, daß er selbst sie zu dieser Verachtung zwang. Es war eine unglückliche, immer steigende Wechselwirkung. So wenig Apollonius mit dem Bruder und der Schwägerin zusammentraf, ihr Zerwürfnis mußte er bemerken. Es machte ihn unglücklich, daß er die Schuld davon trug. In welcher Weise er sie trug, das ahnte er nicht. Während die Schwägerin mit liebender Verehrung an ihm hing und sich und ihrem ganzen Hauswesen seine Physiognomie aufprägte, grübelte er über den Grund ihres unbesiegbaren Widerwillens. Der Bruder tat nichts, diesen Irrtum zu berichtigen; er bestätigte ihn vielmehr: zuweilen, indem er ihn überlegen bei sich verlachte, wenn Weinlaune und geschmeichelte Eitelkeit ihre Wirkung taten. Der Stunden der Erschlaffung, der Unzufriedenheit mit sich selbst waren freilich mehr. Dann zwang er sich, Verstellung darin zu sehen, um an dem Mitleid mit sich selber den Haß gegen die andern, in dem ihm wohl war, zu schärfen.

Apollonius wußte wenig von der Lebensweise des Bruders. Fritz Nettenmair verbarg sie ihm aus dem unwillkürlichen Zwang, den Apollonius' tüchtiges Wesen ihm abnötigte, den er aber niemand, am wenigsten sich selber, eingestanden haben würde. Und die Arbeiter wußten, daß sie Apollonius mit nichts kommen durften, was nach Zuträgerei aussah, am wenigsten, wenn es seinen Bruder betraf, den er gern von allen geachtet gesehen hätte, mehr als sich selbst. Aber er hatte bemerkt, Fritz sah ihn als einen Eindringling in seine Rechte an, der ihm Geschäft und Tätigkeit verleidete. Apollonius fühlte sich von dem Tage seiner Rückkehr nicht wohl daheim; er war seinen Liebsten hier eine Last; er dachte oft an Köln, wo er sich willkommen wußte. Bis jetzt hielt ihn die moralische Verpflichtung, die er in Rücksicht der Reparatur auf sich genommen. Diese ging mit raschen Schritten ihrer Vollendung entgegen. So durfte der Gedanke seine Verwirklichung fordern, und er teilte ihn dem Bruder mit.

Es wurde Apollonius anfangs schwer, den Bruder zu überzeugen, es sei ihm Ernst mit der Rückkehr nach Köln. Fritz hielt es erst für einen listigen Vorwand, ihn sicher zu machen. Der Mensch gibt ebenso schwer eine Furcht auf als eine Hoffnung. Und er hätte sich eingestehen müssen, er habe den zwei Menschen unrecht getan, die des Unrechtes an ihm anzuklagen ihm eine Gewohnheit geworden war, in der er eine Art Behagen fand. Er hätte dem Bruder ein zweites Unrecht verzeihen müssen, das dieser von ihm gelitten. Er fand sich erst darein, als es ihm gelungen war, in dem Bruder wieder den alten Träumer zu sehen und in dessen Vorhaben eine Albernheit; als er ein unwillkürliches Eingeständnis darin sah, der Bruder begreife in ihm den überlegenen Gegner und gehe aus Verzweiflung am Gelingen seines schlimmen Planes. In dem Augenblick erwachte die ganze, alte, joviale Herablassung wie aus einem Winterschlaf. Seine Stiefel knarrten wieder: Da ist er ja! und: Nun wird's famos! läuteten seine Petschafte den alten Triumph. Die Stiefel übertönten, was ihm sein Verstand von den notwendigen Folgen seiner Verschwendung, von seinem Rückgange in der allgemeinen Achtung vorhielt. Es war ihm, als sei alles wieder so gut als je, war nur der Bruder fort. Er glaubte sogar vorgreifend an seine außerordentliche Großmut, dem Bruder zu verzeihen, daß er dagewesen. Er richtete sich vor dem Bruder schon in der ganzen alten Größe wieder auf, in der er als alleiniger Chef des Geschäfts dem Ankömmling gegenübergestanden, und winkte ihm mit seinem herablassendsten Lachen zu, daß er es schon bei dem im blauen Rock durchsetzen wolle. Der selber müsse Apollonius fortschicken.

Die junge Frau fühlte anders. Fritz Nettenmair war zu klug, ihr vorläufig davon zu sagen. Aber der alte Valentin war nicht so klug und wußte nicht, warum er so klug sein sollte. Der alte Valentin war ein närrischer Geselle. Dem alten Herrn sagte er nichts. Es war wunderlich, wie gewissenhaft er seine Pflicht an das Haus verteilte, der ehrlichste Achselträger, den es je gegeben. Er verriet den jungen Leuten nie etwas, was er dem alten Herrn abgemerkt; aus Treue gegen den blauen Rock verbarg er es den Jungen so angestrengt als der alte Herr selbst. Aber er war auch den Jungen so treu ergeben, daß der alte Herr von ihnen nichts durch ihn erfuhr, als was sie selber wollten, und hätte der alte Herr getan, was er nie tat, nämlich ihn danach gefragt.

Der jungen Frau war es, als sollte ihr Engel von ihr scheiden. Sie empfand, daß sie in seiner Nähe sicherer vor ihm war als von ihm entfernt; denn all der Zauber, der ihren Wünschen wehrte, sündhaft zu werden, floß ja aus seinen ehrlichen Augen auf sie nieder, von der Stirn, die so rein war, daß ein sündhafter Blick verzweifelte, sie befleckend in sein Begehren mitzureißen, und selbst gereinigt und reinigend in die Seele zurückkam, die ihn geschickt.

Apollonius sollte nicht gehen, und das durch des Bruders Schuld, den allein in der ganzen Stadt sein Gehen freute. Freilich wird er die Schuld nicht anerkennen; auch diese wird er von sich ab und auf den Bruder schieben. Apollonius hatte auch dem Bauherrn von seinem Entschlusse gesagt. Es befremdete ihn, daß der brave Mann, der sonst alles, was Apollonius tun würde, schon im voraus gebilligt, als könnte Apollonius nichts tun, was er nicht billigen müßte, die Mitteilung mit fremder, wie verwundert einsilbiger Kälte aufnahm. Er drang in ihn, ihm den Grund dieser Veränderung zu sagen. Die braven Männer verständigten sich leicht. Der Bauherr sagte ihm, nachdem er sich gewundert, Apollonius damit unbekannt zu finden, was er von des Bruders Lebensweise wußte, und war der Meinung, Geschäft und Haus seines Vaters könne ohne Apollonius' Hülfe nicht bestehen. Er versprach, sich weiter nach der Sache zu erkundigen, und war bald imstande, Apollonius nähere Aufklärungen zu geben. Hier und da in der Stadt war der Bruder nicht unbedeutende Summen schuldig, das Schiefergeschäft war, besonders in letzter Zeit, so saumselig und ungewissenhaft betrieben worden, daß manche vieljährige Kunden bereits abgesprungen waren und andere im Begriff standen, es zu tun. Apollonius erschrak. Er dachte an den Vater, an die Schwägerin und an ihre Kinder. Er dachte auch an sich, aber eben das eigene starke Ehrgefühl stellte ihm zuerst vor, was der alte, stolze, rechtliche, blinde Mann leiden müßte bei der Schande eines möglichen Konkurses. Er fand sein Brot; aber des Bruders Weib und Kinder? Und sie waren des Darbens nicht gewohnt. Er hatte gehört, das Erbe der Frau von ihren Eltern war ein ansehnliches gewesen. Er schöpfte Hoffnung, es könne noch zu helfen sein. Und er wollte helfen. Kein Opfer von Zeit und Kraft und Vermögen sollte ihm zu schwer werden. Konnte er den Verfall nicht aufhalten, darben sollten die Seinigen nicht.

Der wackere Bauherr freute sich über seines Lieblings Denkart, auf die er gerechnet; es hatte ihn befremdet, daß sie sich nicht schon früher gezeigt. Er bot Apollonius seine Hülfe an. Er habe weder Frau noch Kinder, und Gott habe ihn etwas erwerben lassen, um einem Freunde damit zu helfen. Noch nahm Apollonius kein Anerbieten an. Er wollte erst sehen, wie es stand, und sich Gewißheit verschaffen, ob er ein ehrlicher Mann bleiben konnte, wenn er den freundlichen Erbieter beim Worte nahm.

Es kamen schwere Tage für Apollonius. Der alte Herr durfte noch nichts wissen und, wenn seine Ehre aufrecht zu erhalten war, auch nicht erfahren, daß sie gewankt. Apollonius bedurfte dem Bruder gegenüber seine ganze Festigkeit und seine ganze Milde. Er mußte ihm täglich imponieren und stündlich verzeihen. Schon das war nicht leicht, den Stand seines Vermögens, seine Gläubiger und den Betrag der Schulden von ihm zu erfahren. Vergebens machte Apollonius seine gute Meinung geltend, der Bruder glaubte ihm nicht; und hätte er ihm glauben müssen, er hätte ihn darum nicht weniger gehaßt. Er haßte sich selbst in Apollonius und haßte ihn darum um so mehr, je hassenswerter sein eigenes Tun ihm erschien. Als Apollonius die Gläubiger und die Beträge wußte, untersuchte er den Stand des Geschäftes und fand ihn verwirrter, als er gefürchtet. Die Bücher waren in Unordnung; in der letzten Zeit war gar nichts mehr eingetragen worden. Es fanden sich Briefe von Kunden, die sich über schlechte Ware und Saumseligkeit beklagten, andere mit Rechnungen von dem Grubenbesitzer, der neue Bestellungen nicht mehr kreditieren wollte, da die alten noch nicht bezahlt waren. Das Vermögen der Frau war zum größten Teile vertan; Apollonius mußte den Bruder zwingen, die Reste davon herauszugeben. Er mußte mit den Gerichten drohen. Was litt Apollonius mit seinem ängstlichen Ordnungsbedürfnis mitten in solcher Verwirrung, was mit seinem starken Gefühl für seine Angehörigen dem Bruder gegenüber! Und doch sah dieser in jeder Äußerung, jedem Tun des Leidenden nur schlecht verhehlten Triumph. Nach unendlichen Mühen gelang Apollonius eine Übersicht des Zustandes. Es ergab sich: wenn die Gläubiger Geduld zeigten und man die Kunden wieder zu gewinnen vermochte, so war mit strenger Sparsamkeit, mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit die Ehre des Hauses zu retten, und ermüdete man nicht, konnten die Kinder des Bruders ein wenigstens schuldenfreies Geschäft einst als Erbe übernehmen. Apollonius schrieb sogleich an die Kunden, dann ging er zu den Gläubigern des Bruders. Die ersten wollten es noch einmal mit dem Hause versuchen; man sah, sie gingen sicher; ihre neuen Bestellungen waren wenig mehr als Proben. Bei den Gläubigern hatte er die Freude, zu sehen, welches Vertrauen er bereits in seiner Vaterstadt gewonnen. Wenn er die Bürgschaft übernahm, blieben die schuldigen Summen als Kapitale gegen billige Zinsen zur allmählichen Tilgung stehen. Manche wollten ihm noch bares Geld dazu anvertrauen. Er machte keinen Versuch, die Wahrheit dieser Versicherungen auf die Probe der Tat zu stellen, und gewann dadurch das Vertrauen der Versichernden nur noch mehr. Nun stellte er dem Bruder anspruchslos und mit Milde dar, was er getan und noch tun wolle. Vorwürfe konnten nichts helfen, und Ermahnungen hielt er für unnütz, wo die Notwendigkeit so vernehmlich sprach. Der Bruder konnte, wenn Apollonius die Leitung des Ganzen, des Geschäftes und des Hauswesens, alle Einnahmen und Ausgaben von nun allein und vollkommen selbständig übernahm, keine willkürliche Beeinträchtigung darin sehen. In der Sache, in der er seine Ehre zum Pfande gesetzt, mußte Apollonius frei schalten können. Das ungestörte Zusammenwirken all der Tätigkeiten, durch die allein der beabsichtigte Erfolg zu erreichen war, verlangte die Leitung einer einzigen Hand.


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