Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Dem alten Herrn war in seinem äußern Ehrbegriff ein Zusammenleben wie Apollonius' und Christianens ohne kirchliche Weihe ein schweres Ärgernis. Apollonius konnte ohne Schande nur unter dem Namen ihres Gatten der jungen schönen Witib und ihrer Kinder Schützer und Erhalter sein. Nach seiner Weise sprach er ein Machtwort. Er bestimmte die Zeit. Das unumgängliche Trauerhalbjahr war um, und in acht Tagen sollte die Verlobung, drei Wochen später die Hochzeit sein.

Das Leben in dem Hause mit den grünen Laden begann wieder schwül und schwüler zu werden; die neuen Wolken, die unsichtbar darum heraufzogen, drohten einen herbern Schlag, als in dem die alten sich entladen. Die junge Witib durfte nun eine Braut scheinen. Sie tat, wonach man sie neckend gefragt hatte: sie vervollständigte ihre Einrichtung. Halbe Nächte saß sie schneidend und nähend über weißes Linnen und buntes Bettzeug gebückt. Es fielen Tränen darauf, aber die Freude behielt immer weniger Anteil an diesen Tränen. Sie sah des geliebten Mannes Zustand stündlich sich verschlimmern und konnte darüber nicht im Irrtum sein, daß die Heirat die Schuld davon trug. Je blasser und hinfälliger er wurde, desto milder und achtungsvoller wurde sein Benehmen gegen sie. Ja, es war etwas darin, was wie schmerzliches Mitleid und unausgesprochene Abbitte eines Unrechts oder einer Beleidigung aussah, deren er sich gegen sie schuldig wisse. Sie wußte nicht, was sie davon denken sollte; nur, daß sie nichts denken durfte, was des Bildes, das sie von ihm in ihrer Seele trug, unwürdig gewesen wäre. In seiner Gegenwart war sie still wie er. Sie sah sein stummes schmerzliches Brüten; aber erst, wenn sie allein war und ihre Kinder neben ihr schliefen, hatte sie den Mut, ihn zu bitten. Stundenlang bat sie dann wie ein Kind, er soll' ihr doch sagen, was ihm fehlt. Sie will es mit ihm tragen; sie muß ja; ist sie nicht sein?

Und Apollonius selbst? Bis jetzt hatte er den Druck dunkeln Schuldgefühls, der sich an den Gedanken der Heirat knüpfte, zu schwächen vermocht, wenn er unentschieden den Entschluß in unbestimmte Ferne hinauswies. Dabei hatte ihm die Hoffnung geholfen, jenes Gefühl sei eine krankhafte Anwandelung, die vorübergehen werde. Nun der alte Herr sein Machtwort gesprochen, war ihm jenes Mittel genommen. Das Ziel war bestimmt; mit jedem Tage, mit jeder Stunde trat es ihm näher. Er mußte sich entscheiden. Er konnte nicht. Die Entzweiung seines Innern klaffte immer weiter auf. Wollte er dem Glücke entsagen, dann wich das Gespenst der Schuld, aber das Glück streckte immer verlockendere Arme nach ihm aus. Es nahm seine Ehre zum Bündner. Der Vater entfernte ihn dann; wie sollte er sein Wort halten? Wo war ein Vorwurf, wenn er das Glück in seine Arme nahm? Der Vater wollte es; sie liebt ihn und hat ihn immer geliebt, nur ihn; alle Menschen billigen, ja sie fordern es von ihm. Dann sah er sie, eh' sie ihm geraubt wurde, wie sie das Glöckchen hinlegte für ihn, rosig unter der braunen krausen Locke, die sich immer frei macht; dann bleich unter der Locke von den Mißhandlungen des Bruders, der sie ihm geraubt, bleich um ihn; dann zitternd vor des Bruders Drohungen, zitternd um ihn; dann lachend, weinend, voll Angst und voll Glück in seinen Armen. Und so soll er sie halten dürfen, vorwurfslos, die ihm gehört! Aber durch ihr schwellendes Umfangen, durch alle Bilder stillen sanften Glücks hindurch fröstelt ihn der alte Schauder wieder an. So war's schon in seinem Traume, als er mit dem Bruder kämpfte um sie und ihn hinabstieß von der fliegenden Rüstung in den Tod. Er sagt sich: das war nur im Traum; was man im Traume tat, hat man nicht getan. Aber wachend hallten die wilden Gefühle des Traumes nach. Die bösen Gedanken machten ihn unfähig, den Bruder zu retten. Der Sturz des Bruders machte dessen Weib frei. Er wußte das, als er den Bruder stürzen ließ. Deshalb ja hatte er ihn im Traume gestürzt. Nun war es ja wie in dem schlimmen Traum: der Bruder war tot, und er hatte sein Weib. Nimmt er des Bruders Weib, die frei wurde durch den Sturz, so hat er ihn hinabgestürzt. Hat er den Lohn der Tat, so hat er auch die Tat. Nimmt er sie, wird das Gefühl ihn nicht lassen; er wird unglücklich sein und sie mit unglücklich machen. Um ihret- und seinetwillen muß er sie lassen. Und will er das, dann erkennt er, wie haltlos diese Schlüsse sind vor den klaren Augen des Geistes, und will er wiederum das Glück ergreifen, so schwebt das dunkle Schuldgefühl von neuem wie ein eisiger Reif über seiner Blume, und der Geist vermag nichts gegen seine vernichtende Gewalt. Daneben mahnten immer lauter die Glockenschläge von Sankt Georg. Immer fieberischer wurde die Unruhe, daß der Fehler noch nicht gebessert war. Äußere Anlässe schärften noch den Drang. Es hatte anhaltend geregnet, die Lücke schluckte, die Verschalung sog das Wasser gierig ein; das Holz mußte verfaulen. Trat die Winterkälte stärker ein, fror die Nässe im Holz, so warf sich die Verschalung und verletzte die Schiefer. Die Stadt, die seiner Pflichttreue vertraute, litt Schaden durch ihn. Jede Nacht weckte ihn der Stundenschlag Zwei. In der Glut des Fiebers vermischten sich die Schatten. Die Vorwürfe des inneren und äußeren Sauberkeitsbedürfnisses flossen ineinander. Immer unwiderstehlicher forderte die offene Wunde das Gericht, das gähnende Grab den, der es schloß. Und er war es, den der Stundenschlag zum Gerichte rief; er, der das Grab schließen mußte, eh' das gehämmerte Unheil auf ein unschuldig Haupt fiel. Sich selbst hatte er das kommende Unheil fertig gehämmert. Er mußte hinauf, den Fehler zu bessern. Und wenn er oben war, dann schlug es zwei, dann packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab dem Bruder nach.

Der alte wackere Bauherr drang in den Leidenden; er hatte sich das Recht erworben, sein Vertrauen zu fordern. Apollonius lächelte trüb; er schlug ihm sein Verlangen nicht ab, aber er schob die Erfüllung von Tag zu Tag weiter hinaus. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde sah die schöne junge Braut ihn bleicher werden und blich ihm nach. Nur der alte Herr in seiner Blindheit sah die Wolke nicht, die mit dem Schlimmsten droht. Es war wieder schwül geworden und wurde noch immer schwüler, das Leben in dem Hause mit den grünen Laden. Kein Mensch sieht's dem rosigen Hause an, wie schwül es einmal darin war.

*

Es war in der Nacht vor dem angesetzten Verlobungstag. Plötzlich war Schnee, dann große Kälte eingetreten. Einige Nächte schon hatte man das sogenannte Sankt-Elmsfeuer von den Turmspitzen nach den blitzenden Sternen am Himmel züngeln sehn. Trotz der trockenen Kälte empfanden die Bewohner der Gegend eine eigene Schwere in den Gliedern. Es regte sich keine Luft. Die Menschen sahen sich an, als fragte einer den andern, ob auch er die seltsame Beängstigung fühle. Wunderliche Prophezeiungen von Krieg, Krankheit und Teuerung gingen von Mund zu Munde. Die Verständigern lächelten darüber, konnten sich aber selbst des Dranges nicht erwehren, ihre innerliche Beklemmung in entsprechende Bilder von etwas äußerlich drohend Bevorstehendem zu kleiden. Den ganzen Tag hatten sich dunkle Wolken übereinander gebaut von entschiedenerer Zeichnung und Farbe, als sie der Winterhimmel sonst zu zeigen pflegt. Ihre Schwärze hätte unerträglich grell von dem Schnee abstechen müssen, der Berge und Tal bedeckte und wie ein Zuckerschaum in den blätterlosen Zweigen hing, dämpfte nicht ihr Widerschein den weißen Glanz. Hier und da dehnte sich der feste Umriß der dunkeln Wolkenburg in schlappen Busen herab. Diese trugen das Ansehen gewöhnlicher Schneewolken, und ihr trübes Rötlichgrau vermittelte die Bleischwärze der höhern Schicht mit dem schmutzigen Weiß der Erde und seinen schwärzlichen Scheinen. Die ganze Masse stand regungslos über der Stadt. Die Schwärze wuchs. Schon zwei Stunden nach Mittag war es Nacht in den Straßen. Die Bewohner der Untergeschosse schlossen die Laden; in den Fenstern der höhern Stockwerke blitzte Licht um Licht auf. Auf den Plätzen der Stadt, wo ein größeres Stück Himmel zu übersehen war, standen Gruppen von Menschen zusammen und sahen bald nach allen Seiten aufwärts, bald sich in die langen bedenklichen Gesichter. Sie erzählten sich von den Raben, die in großen Zügen bis in die Vorstädte hereingekommen waren, zeigten auf das tiefe, unruhige, stoßende Geflatter der Dohlen um Sankt Georg und Sankt Nikolaus, sprachen von Erdbeben, Bergstürzen, wohl auch vom Jüngsten Tage. Die Mutigeren meinten, es sei nur ein starkes Gewitter. Aber auch das erschien bedenklich genug. Der Fluß und der sogenannte Feuerteich, dessen Wasser auf unterirdischen Wegen augenblicklich jedem Teile der Stadt zugeleitet werden konnte, waren beide gefroren. Manche hofften, die Gefahr werde vorübergehen. Aber sooft sie hinaufsahen, die dunkle Masse rückte nicht von der Stelle. Zwei Stunden nach Mittage hatte sie schon so gestanden; gegen Mitternacht stand sie noch unverändert so. Nur schwerer, schien es, war sie geworden und hatte sich tiefer herabgesenkt. Wie sollte sie auch rücken, da nicht ein leiser Lufthauch auf den Flügeln war? Und solche Masse zu zerstreuen und fortzuschieben, hätte es einer Windsbraut bedurft.

Es schlug zwölf vom Sankt-Georgenturm. Der letzte Schlag schien nicht verhallen zu können. Aber das tiefe dröhnende Summen, das so lang anhielt, war nicht mehr der verhallende Glockenton. Denn nun begann es zu wachsen; wie auf tausend Flügeln kam es gerauscht und geschwollen und stieß zornig gegen die Häuser, die es aufhalten wollten, und fuhr pfeifend und schrillend durch jede Öffnung, die es traf; polterte im Hause umher, bis es eine andere Öffnung zum Wiederherausfahren fand; riß Laden los und warf sie grimmig zu; quetschte sich stöhnend zwischen nahstehenden Mauern hindurch; pfiff wütend um die Straßenecken; zerlief in tausend Bäche; suchte sich und schlug klatschend wieder zusammen in einen reißenden Strom; fuhr vor grimmiger Lust herab und hinauf; rüttelte an allem Festen; trillte mit wild spielendem Finger die verrosteten Wetterhähne und -fahnen und lachte schrillend in ihr Geächze; blies den Schnee von einem Dach aufs andere, fegte ihn von der Straße, jagte ihn an steilen Mauern hinauf, daß er vor Angst in alle Fensterritzen kroch, und wirbelte ganze tanzende Riesentannen aus Schnee geformt vor sich her.

Da man ein Gewitter voraussah, war alles in den Kleidern geblieben. Die Rats- und Bezirks-Gewitternachtwachen sowie die Spritzenmannschaften waren schon seit Stunden beisammen. Herr Nettenmair hatte den Sohn nach der Hauptwachtstube im Rathause gesandt, um da seine, des Ratsschieferdeckermeisters, Stelle zu vertreten. Die zwei Gesellen saßen bei den Turmwächtern, der eine zu Sankt Georg, der andere zu Sankt Nikolaus. Die übrigen Ratswerkleute unterhielten sich in der Wachtstube, so gut sie konnten. Der Ratsbauherr sah bekümmert auf den brütenden Apollonius. Der fühlte des Freundes Auge auf sich gerichtet und erhob sich, seinen Zustand zu verbergen. In dem Augenblick brauste der Sturmwind von neuem in den Lüften daher. Auf dem Rathausturme schlug es eins. Der Glockenton wimmerte in den Fäusten des Sturms, der ihn mit sich fortriß in seine wilde Jagd. Apollonius trat an ein Fenster, wie um zu sehen, was es draußen gebe. Da leckte eine riesige schwefelblaue Zunge herein, bäumte sich zitternd zweimal an Ofen, Wand und Menschen auf und verschlang sich spurlos in sich selber. Der Sturm brauste fort; aber wie er aus dem letzten Glockenton von Sankt Georg geboren schien, so erhob sich jetzt aus seinem Brausen etwas, das an Gewalt sich so riesig über ihn emporreckte wie sein Brausen über den Glockenton. Eine unsichtbare Welt schien in den Lüften zu zertrümmern. Der Sturm brauste und pfiff wie mit der Wut des Tigers, daß er nicht vernichten konnte, was er packte; das tiefe majestätische Rollen, das ihn überdröhnte, war das Gebrüll des Löwen, der den Fuß auf dem Feinde hat, der triumphierende Ausdruck der in der Tat gesättigten Kraft.

»Das hat eingeschlagen!« sagte einer. Apollonius dachte: »Wenn es in den Turm schlüge von Sankt Georg, dort in die Lücke, und ich müßte hinauf, und es schlüge zwei und –« Er konnte nicht ausdenken. Ein Hülfegeschrei, ein Feuerruf erscholl durch Sturm und Donner. »Es hat eingeschlagen!« schrie es draußen auf der Straße. »Es hat in den Turm von Sankt Georg geschlagen! Fort nach Sankt Georg! Jo! Hülfe! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Jo! Feuerjo! Auf dem Turm von Sankt Georg!« Hörner bliesen, Trommeln wirbelten darein. Und immer der Sturm und Donner auf Donner. Dann rief es: »Wo ist der Nettenmair? Kann einer helfen, ist's der Nettenmair! Jo! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Der Nettenmair! Wo ist der Nettenmair? Jo! Feuerjo! Auf dem Turm zu Sankt Georg!«


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