Otto Ludwig
Die Heiterethei und ihr Widerspiel
Otto Ludwig

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So, zu langsam und doch zu schnell, war der Heiterethei noch keine Nacht vergangen. Dagegen war die vorige mit all ihrer Furcht vor den Träumen, mit all ihrem Angstschweiß noch eine Ruhenacht, eine Erquickungsnacht gewesen. Da gaukelten nur unbestimmte Erwartungen um sie, was ihr vielleicht Schlimmes begegnen könnte. Heute stand es gewiß, furchtbar gewiß vor ihrer Seele, was sie selber Schlimmes wirklich getan.

Immer und immer wieder zwang es sie, sich zurückzurufen, was sie gern vergessen hätte, und hätte sie alles mit vergessen müssen, was sie in anderen, glücklichen Nächten so gerne gedacht. Und mit unbarmherziger Gewissenhaftigkeit Zug für Zug. Keiner wurde ihr geschenkt. Erst die Genugtuung des Sieges und der Rettung, dann mit der wiederkehrenden ruhigeren Besinnung die Angst vor der Art, die Furcht vor den Folgen der Tat. Wie es sie getrieben, zu dem Stege zurückzulaufen, um zu sehen, ob er noch lebe! Und warum sollte er nicht? Das Bächlein war ja in den heißen Tagen so seicht und floß dort auf weichem, moorigem Grunde. Sie hätte es nicht überleben mögen, wenn er tot war. Ein so tiefes Mitleid entband sich so seltsam und plötzlich aus seinem Gegensatze. Ein beredterer Anwalt sprach dies jetzt für ihn, als alle Stimmen, die ihn früher angeklagt hatten. Ja, ihr war, als habe sie selber eigentlich gar nie geglaubt, er verfolge sie, und als müsse sie sich verwundernd besinnen, was sie doch nur getrieben habe zu der feindlichen Tat. Er hatte nichts gegen sie gebrütet; sie hatte nicht Notwehr geübt. Nein, ohne alle Ursache hatte sie sich an ihm vergriffen. Es war ihr ein Bedürfnis, eine selbstmörderische Lust, ihrer Tat die geringfügigsten Ursachen unterzulegen, damit sie selber sich nur recht hassenswert erschien.

Aber war jetzt Zeit zu solchen Gedanken? jetzt, wo jeden Augenblick jemand sie sehen konnte? Und wenn sie dennoch wendete, ihn zu retten, wenn es noch möglich ist – stehen nicht schon Menschen um den Steg? wohl gar schon die Gerichte? Wenn sie jenen Umweg unter den Erlen einschlägt, kommt sie von der entgegengesetzten Richtung nach der Stadt. Aber weiß man nicht dennoch, daß sie im Zainhammer gewesen? Hat der Schneider sie nicht gesehen?

Die letzten Einwände treffen sie schon auf dem Erlensteig. Der Umweg wird ihr nicht helfen. Und ist es ihr nicht gleichgültig, ob man sie sieht? ob man sie ergreift? Wäre ihr in diesem Augenblicke die Todesstrafe nicht Wohltat? »O, ich wollt',« stöhnte sie vor sich hin, »sie machten mich auch tot!« Warum flieht sie denn? Warum schlägt sie den Unterrock herauf über den Kopf, um sich unkenntlich zu machen?

Ja, wäre es einen Augenblick nur! Müßte sie jetzt, jetzt niederknien, und das breite Schwert durchzischte ihr den Nacken! Aber wenn sie mit Ketten geschlossen über die Straße geführt wird, und die Leute weichen scheu vor ihr und flüstern auch nicht eher miteinander, bis sie vorbei ist! Und das Gefängnis! Zwischen den engen Steinwänden soll sie stillsitzen, wer weiß, wie lange! Sie, der es wie dem Reh und dem Vogel nur im Weiten wohl ist! In der Gerichtsstube muß sie stehen und sich von Männern ins Gesicht sehen und sich fragen lassen, wer weiß was! stundenlang! Und dazwischen ist's so still, daß man nur die Federn knarren hört, die aufschreiben, was sie getan. Und die Leute – aber die Leute wissen ja, daß er sie verfolgt hat; sie alle können's bezeugen, sie alle haben's gesehen.

Und so oft sie im gezwungenen wieder und immer wieder Durchleben der Ereignisse der schrecklichen Nacht an diesen Gedanken kommt, dann wünscht sie den Tag herbei, den sie doch fürchten muß. Dann sind die Frauen wieder da, und an der Dringlichkeit ihrer Warnungen wird sie gewiß, daß sie die Tat tun mußte, daß sie in Notwehr war, und Notwehr ist erlaubt. Ja, sie hat nur Notwehr geübt. Hatte die Bäuerin nicht die Axt blinken sehen? Hatte er nicht gegen den Schmied gedroht? Sollte sie in ewiger Angst leben? Nein! lieber sterben, wenn es sein muß! Aber muß es denn sein? Soll sie sich nicht wehren? Und wieder stand der Fritz auf dem Steg. Und wieder fährt sie mit dem Mute der Verzweiflung auf ihn los. Und wieder stürzt der Fritz in den Bach. Und wieder fragt sie sich: »Ich hab's doch wohl eigentlich gar nicht geglaubt, daß er mir was will tun; ich möcht' nur wissen, was mir gewest wär', daß ich ihm das hab' getan!« Und wieder endeten und wieder begannen die Ereignisse der Nacht ihren schwindelerregenden Reihentanz vor den fieberisch glühenden Augen des Mädchens.

Der gehoffte und gefürchtete Tag kommt – und kommt ebenso wie jeder andere.

Die Heiterethei begreift nicht, daß sein erster Strahl auf den zerbrochenen Spiegel fallen kann wie immer, da in ihr alles so anders ist. Sie meint, heute muß die Sonne wo anders aufgehen und auch anders aussehen als sonst. Aber der Tag kommt eben daher, wo seine älteren Brüder herkamen, und er zögert auch nicht und eilt auch nicht; gleichgültig wie jeder andere, ob man ihn fürchtet, ob man ihn erhofft. Und er kommt nicht einmal in Wolken gehüllt, er kommt so blau und golden, als wüßte er sich bloß erhofft.

Und wenn es an das Häuschen pocht, so ist's auch nicht ein Bote des Kriminalgerichtes, so ist's nur der alte Holunderbusch, der sich behaglich in sich hineinschüttelt im lustigen Morgenwind, als wüßte auch er nichts von den Ereignissen der schrecklichen Nacht.

Die Heiterethei sieht jedes Kleidungsstück, das sie anlegt, darauf an, ob es nichts davon weiß. Der Bach, in dem sie sich wäscht, erzählt immer noch die alten Geschichten und nichts von der gestrigen Nacht.

Wie sie alles andere so fest sieht im alten Geleise, möchte sie an sich selber zweifeln. War alles, was sie erlebt zu haben meint, eben das, vor dessen ihr unbekanntem Wesen sie sich immer gefürchtet, ein Traum?

Aber da steht ihr Karren noch mit dem Eisen. Das hat sie doch gestern vom Zainhammer gebracht. Sie hat es nicht an den Nagelschmied abliefern können, weil sie auf dem Umwege so spät heimkam. Und warum hatte sie den Umweg gemacht?

So war doch alles wirklich geschehen.

Aber wie kam es denn, daß man sie nicht ins Gefängnis holte? War es ihr gelungen, allem Verdachte auszuweichen?

Das Eisen muß zum Nagelschmied. Auf dem Wege dahin wird sie Leuten begegnen, und die müssen's ihr doch ansehen, daß sie es ist, die es getan hat. Die Gassenjungen müssen ihr nachlaufen und mit den Fingern auf sie zeigen: »Die, die da ist's! Die ist's gewesen, die hat's getan!«

Oder war's nicht so gefährlich für den Holders-Fritz ausgefallen, als sie gefürchtet? Sollte sie nicht sterben oder ein ganzes Leben hindurch das erdrückende Gewicht der Untat auf ihrer Seele tragen müssen? So will sie wenigstens die Ungewißheit loswerden.

»Hab' ich's getan, so mögen sie mich einsetzen,« sagte sie; »hernachen mag ich auch nicht mehr am Leben bleiben. Muß ich sterben, so will ich's wenigstens nicht am Fürchten. Und so ist's, und nu ist's fertig.«

Aber in dem alten Tone sprach sie das nicht.

Nun hört sie die alte Annemarie die Treppe herunterkommen, um ihr Wächteramt anzutreten. Die Heiterethei muß eilen; sie fühlt die Blicke der Alten auf ihrem Rücken brennen.

Das starke Mädchen vermochte kaum, den Schiebkarren zu heben. Es war, als läge ihre Tat mit darauf.

Und wie langsam kommt sie diesmal von der Stelle! Jeder Vorübergehende wird sehen, wie sie zittert, und bedenklich stehen bleiben, um sie recht zu besehen. Und desto weniger wird sie eilen können. So hat sie gedacht, wie sie um die Ecke biegend in die Weidengasse kam. Und dort steht schon einer am Fenster und beobachtet sie. Er öffnet das Fenster und ruft: »Die ist's!« Nein; er ruft dem Bader, der aus einem andern Hause kommt, zu eilen! Aber weshalb? Soll er ihm helfen, sie beobachten oder sie aufhalten? »Er barbiert wohl den Wirten ihre Fässer, und seine Kunden können sich den Bart mit der Scher' abschneiden?« So zankt der Geleitsreiter aus dem Fenster, und der Bader entgegnet lallend und stolpernd: »Keinen Tropfen, Herr Geleitsreiter!« »Das ist ja auch wie jeden Tag,« sagte wieder aufatmend die Heiterethei.

Sie kommt durch Gassen und Gäßchen; da hat jedermann mit sich selbst zu tun; wenn einer auf sie redet, so ist's mit einem herkömmlichen Spaße. Niemand sieht ihre Tat ihr an. Nirgends stehen Leute beisammen, die miteinander flüstern und sich erzählen, was da wieder einmal Schreckliches ist geschehen. Die Gassenjungen schlendern der Schule zu; keiner läuft hinter ihr her und zeigt mit den Fingern auf sie: »Die ist's, die hat's getan.« Ihre Last wird immer leichter, ihr Schritt federnder.

»Ich mein', das Annedorle ist über Nacht geblieben im Zainhammer,« sagt der Nagelschmied, der in seiner Tür steht. »Die ist gut nach dem Tode schicken.«

Die Heiterethei weiß nicht, soll sie sagen, sie sei die Nacht zu spät heimgekommen, um das Eisen noch zu überliefern. »Ich denk',« sagt sie, »damit wartet ihr noch ein Jährle oder ein paar. Meinen Schiebkarr'n kann ich wohl da bei Euch lassen steh'n, dann brauch' ich nicht erst noch einmal heim. Rückwärts von meiner Bäs ihrem Leim nehm' ich ihn wieder mit.«

»Na, da laßt nur nicht etwa das Unkraut stehn und rupft den Lein 'raus, Annedorle.« Damit geht der Schmied wieder hinein.

Die Heiterethei ruft ihm noch nach: »Seht Ihr nur Eure Nasen nicht für einen glühenden Nagel an.«

Dann geht sie ohne Schiebkarren weiter nach dem Ulrichstore zu. Sie lebt zwei Leben zugleich nebeneinander. Mit dem einen ist sie in der alten Umgebung die alte Heiterethei, mit dem anderen eine Verbrecherin, die jeden Blick auf sich gerichtet meint und vor jedem Tritt, vor jedem rauschenden Blatt erschrickt. Bald scheint ihr dieses, bald jenes Wirklichkeit und das andere ein Traum.

Nun ist sie aus dem Tor; der Weg, den sie geht, ist der Ulrichsweg, derselbe Weg, auf dem sie gestern die Tat verübt. Fast möchte sie umkehren, wenn ihr das einfällt, und doch zieht sie's wie gewaltsam und wie der Vollendung ihres Verhängnisses entgegen.

Wie ist das heute anders als gestern! Wie viel Menschen beleben die Gegend, die gestern so einsam war!

»Bist du auch einmal die letzt', Annedorle?« ruft ihr eine Stimme zu. Es sind ihre Mitjäterinnen auf der Base Leinfeld, die stehen blieben, weil sie die Heiterethei sich nachkommen sahen. Die Heiterethei holt sie ein. Nun gehen sie zusammen weiter. Die Mädchen erzählen sich allerlei, necken sich und lachen; von dem Holders-Fritz wissen sie, scheint es, nichts.

Nun sind sie nahe am Ulrichssteg; immer kommen ihnen Leute nach und entgegen. Im Vorbeigehen wird ein scherzender Gruß ausgetauscht, und noch immer hat kein Mensch des Holders-Fritz gedacht.

Sie möchte schon wieder glauben, ein Traum habe sie zum besten gehabt, aber rechts vom Stege, wo der Bach einen breiten Sumpf bildet, sind die Wassergräser Menschenleibs lang niedergedrückt, und darüber steht eine Pfütze.

Kein Mensch sieht danach; die Heiterethei nur mit einem einzigen scheuen Blicke. Zugleich fragt sie: »Aber was ist das für ein Rauch da links in den Bergen?«

»Ein Rauch? Möcht' ich wissen, wo! Was du auch manchmal siehst, Annedorle?«

Die Heiterethei hat alle Blicke von der Richtung nach dem Steg abgewandt; nun fehlt ihr der Mut, die gelungene List zu nutzen. Sie fürchtet, die Blicke der anderen werden dem ihren folgen, wenn sie nach der Pfütze sieht.

Nun sind sie über den Steg.

Die Heiterethei trägt ihren Hut an den langen Bändern und läßt ihn fallen. Sie geht wie in Gedanken noch einige Schritte, damit sie sich zurückwenden muß, wenn sie ihn aufhebt. Aber sie hat nicht an die Erlen gedacht – dieselben tief herabhangenden Zweige, die gestern ihr Heranfahren auf den Holders-Fritz versteckten, verdeckten ihr jetzt die Aussicht nach dem Bache.

»Möcht' ich nur wissen, wer mir den Hut beschrien hätt'!« lacht die Heiterethei und martert sich während des ganzen Scherzgesprächs, das sich an diese Worte knüpft, ab, das Erinnerungsbild von jenem flüchtigen Blicke sich zu vergegenwärtigen. Aber so deutlich vermag sie es sich nicht zurückzurufen, daß sie daran zur Gewißheit käme, ob Blut auf der Pfütze stand oder nicht.

Innerlich damit beschäftigt, ist sie schon auf dem Leinfelde und mit ihren Gefährtinnen lange in der Arbeit begriffen, und meint noch auf dem Wege zu sein. Da weckt sie die Stimme eines Vorübergehenden. Es ist die Stimme ihres Verhängnisses selbst.

»Wißt ihr's schon?«

Die Mädchen richten sich auf und sehen nach dem Fragenden. Die Heiterethei, die dem Weg am nächsten steht, muß an sich halten – sonst merken alle, sie weiß es schon, was der erst sagen will.

Wie lange nun das währt, bis er weiter spricht! Aber nur der Heiterethei, den andern nicht, so neugierig sie sind. Doch wer weiß, wie ewig die Erzählung dauern wird! Und währenddessen muß sie zehn Augen verbergen, was in ihr vorgeht! Das müssen die andern nicht.

»Der Holders-Fritz,« fährt die Stimme fort, und die Heiterethei zuckt zusammen, »ist aufgehoben worden vom Gericht dort im Sumpf am Ulrichssteg.«

Die Angst der Heiterethei eilt dem Erzähler voraus: »Die Heiterethei hat ihn . . .« Aber nein! Der fährt anders fort.

»Man weiß nicht,« sagt er, »ob er selber ist hineingestürzt, oder ob ihn jemand anders hat hineingeworfen, aber tot ist er.«

Die Heiterethei vergißt, Atem zu holen; fast hätte sie vergessen, zu leben. Aber – »Ja, so tot, wie wir sind!« lacht eine andere Stimme. »Der recht' Arm ist gelähmt, sonst nix. Er ist damit auf einen spitzigen Stein gefallen, wie er hat Weiden wollen hau'n. Ich hab' ihn selber geseh'n.«

»Auf dem Gericht?« fragt der erste.

»Hast dir's auch lassen weismachen?« Wenn sich die auch noch einmengen wollten, wenn einer von selber in den Bach fällt und ganzbeinig wieder aufsteht und geht allein noch heim, das tät' grad' noch fehlen!«

Weiter hörte die Heiterethei nichts.

Die andern wußten nicht, was ihr begegnet war, daß sie plötzlich in die Knie fiel und mit beiden Armen in den grünen Lein griff, als wenn sie jemanden umarmen wollte, und in einem Atem weinte und lachte.

»Was ist dem Annedorle?« fragte die Base erschrocken.

»Nix,« sagte die Heiterethei, noch immer zugleich lachend und weinend. »Nix, Bas, nix. So ein verwünschtes Viergebein (Eidechse)! Ich jät' der Bas ihren Lein mein Lebtag nicht wieder mit, wenn Sie nicht die Viergebein' abschafft auf ihrem Feld. Nein, Bas, lass' Sie nur die Viergebein'; sie wollen auch leben auf der Welt. Und die Welt ist so eine lustige Welt! – –«

»Seht,« sagt der Gurken-Kaspar, von seinem Kartoffelfeld auf die Heiterethei deutend, die heimwärts daran vorbeiging. »Wie das geht! Sprung auf Sprung. Heiterethei, Heiterethei! Die tanzt wieder einmal ihren Namen.«

Auf einem anderen Felde stand ein Bursche. Man sah, er suchte ein Gespräch, um einen Vorwand zum Feiern zu haben.

»Annedorle!« rief er, »du tanz'st wohl schon auf die Kirchweih los?«

»Ja,« sagte die Heiterethei. »Hernachen bin ich fertig, wenn du anfängst. So bleiben wir im Geschick.«

Auf einer Wiese lachte man den Abgefertigten aus.

»Wann wird der einmal eine gescheite Antwort fehlen!« rief einer.

»Wenn du einmal eine hast,« entgegnete die Heiterethei. »Das geschieht in sieben Jahren nicht.«

Der Gurken-Kaspar sagte noch hinter ihr her: »Die Tag' war mir's immerfort, als wär' der Kreuzberg nicht mehr an seiner Stell', es war mir was, und ich hab doch nicht gewußt, wo ich's hintun soll. Nun merk' ich's erst; das ist gekommen, weil die Heiterethei nicht mehr so getanzt ist, wie sonst.«

Wir kehren zum Holders-Fritz zurück, den wir, durch den Anprall der Heiterethei vom Ulrichssteg herabgestürzt, im Zehntbach untersinkend verließen.

Nicht lange, und keine Blase mehr stieg über ihm auf, der Wasserspiegel schloß sich über ihm und zeigte gleichmütig der stillen Nacht ihr Bild. Zu plötzlich war er aus seinen Sehnsuchtsgedanken herausgerissen worden, zu unvermutet war der Angriff des Mädchens gekommen, zu schnell der betäubende Sturz und das erstickende Einatmen des schlammigen Wassers darauf gefolgt. Er wußte kaum, was ihm geschehen und wo er war, und auch der letzte Rest der Besinnung mußte ihn verlassen, hob ihm nicht in dem Augenblicke, der über Leben und Tod entscheiden sollte, ein instinktivmäßiges Aufstemmen der Hände auf dem seichten Grund des Sumpfes, Kopf und Brust über die Wasserfläche empor und hielt sie da fest, bis das Eingeschluckte durch Mund und Nase wiederum herausgestoßen war. Das Dunkel vor den Augen schwand; die grüne Schlange wälzte sich von seiner Brust herab, so wie diese statt des harten, kalten, gurgelnden Dinges wiederum die weiche Sommernachtluft einsog, und ringelte sich glitzernd und riesenlang von ihm weg, bis er gewahr wurde, sie sei nichts anderes als der altbekannte Zehntbach, und er selber liege bis an die Brust in des Baches Wassern. Was über ihm schwarz vom blauen Nachthimmel sich abschnitt, war der Ulrichssteg, auf dem er kaum vor einer Minute noch gestanden. Er besann sich, was er eben getan und wie er heruntergekommen sei, und konnte erst nichts finden, als über ihm vorbeirasend ein bleiches, wildes Mädchengesicht mit rollenden braunen Augen und zusammengepreßten Lippen, durch die weitgeöffneten Nüstern schwer, rasch und hörbar atmend. Er griff mit beiden Händen nach dem Steg, um sich auf ihn hinaufzuschwingen; aber der Schmerz, der von der rechten Hand bis zum Herzen flutend zuckte, machte ihm das unmöglich. Er mußte eine Stelle suchen, wo das Ufer seichter war, und über einen Teil der Wiese, um wieder auf den Weg zu kommen,

Mühsam fand er endlich zusammen, was an und in ihm vorgegangen in dem Augenblicke zwischen seinen harrenden Sehnsuchtsgedanken und dem Sturz in das Wasser. Er hatte dem so plötzlich auf ihn zuklirrenden Schiebkarren unwillkürlich den Arm entgegengestreckt, und war durch den Stoß des Fuhrwerks gegen seine Hand über den Rand des Steges gedrängt worden. Die Verletzung an dem ersten Finger derselben abgerechnet, konnte der Hergang nicht glücklicher für ihn ausgefallen sein. Aber seine erste tief heraufquellende Empfindung war: »Wärst du doch liegen blieben im Bach!«

Er wußte nicht, war der pressende Schmerz im Herzen und krallte bis in die Hand, oder war er in dem Finger und zuckte von da bis in die Brust hinein. Wie seine Seele rang zwischen Zorn und Schmerz, er fand nur die Frage: »Was hast du ihr getan?« Er empfand mit einer Art schmerzlicher Lust ihr ganzes Unrecht an ihm durch, und anstatt ihn frei zu machen von seiner Liebe zu ihr, trieb es diese nur zu größerem Wachstum. Es scheint dies wunderlich, aber es ist's nicht. Oft macht, was wir voraus haben vor anderen, uns sie zu lieben geneigt, während wir, im Bewußtsein, gegen andere im Unrecht zu stehen, in ihnen das Gefühl unseres Zurückstehens hassen. Aber seinem Stolze kam eine unerwartete Hilfe.

Er hörte schadenfroh lachen. Zornig wandte er sich und fand den Läppelsschneider hinter sich stehen. So hatte das Tier, das dem Holders-Fritz alles zum Possen tat: die Leute, auch hier ein Auge und ein Ohr gehabt. Und was dieses heute gehört, das wußte morgen das ganze Tier. Da stand der alte Groll wieder auf seinen Beinen und machte den Holders-Fritz dem Schmerz der Liebe streitig.

»Nu kann man wohl lachen,« sagte der Schneider; »denn wie man sieht, hat dir das« – er machte die Bewegung des Schwimmens – »nix geschad't. Ja, das ist ein Teufelsmädle, das!«

»Wer?« fragte der Fritz, der nicht geahnt, einen Zeugen seines Sturzes zu haben, wild.

»Dächt' ich doch,« meinte der Schneider, noch stärker lachend, »du wüßt'st, wen ich mein'. Spürst sie wohl noch in allen Gliedern, denk' ich. Kreuzelement, muß dir die einen Schwung gegeben haben, daß du so weit vom Steg bist geflogen! Mach' mir nix weis, Fritz. Weiß die ganz' Stadt, du hast ihr aufgelauert schon eine Wochen lang. Sie hat einmal sollen sehn, sie ist nicht die allerstärkst' und nimmt's mit jedem Mannsbild auf. Sie hat sollen sehn, du bist doch stärker. Du brauchst dich nicht zu ärgern, daß dir's quer ist gangen. Da am Gründer Markt hat sie's dem Morzenschmied und dem Weber vom Säumarkt nicht besser gemacht. Sei nicht wild, wenn ich noch immerfort lach'. Muß das ein Griff gewest sein! Ja, die hat Arm' wie Buchenäst', das Teufelsding! Ich bin doch auch einer und kein Pfefferkuchenmännle« – er hob den Rechen, den er auf der Schulter trug, um recht groß auszusehen –, »ich hab' Stärk' wie einer da in meinen Armen, aber bei der ist der starke Holders-Fritz nix. Wir wollen ihr eins einbrocken, Fritz! Das wird angezeigt. Sie soll schon Respekt kriegen vor uns Mannern.«

»Ich weiß nicht,« entgegnete der Fritz, »was du mit deiner Sie willst und wen du damit meinst! Ich hab' Weiden wollen hau'n und mich zu weit übergebogen; da hab' ich das Geschick verloren und bin gestürzt. Kann sein, es ist eins just über den Steg gegangen; das weiß ich nicht. Und wer weiß, wie dir's da vorgekommen ist!«

Er wußte selber nicht, was ihn zu diesem Vorgeben trieb. Er meinte, es sei nur die Scham vor den Leuten, und doch war ebensoviel Sorge um das Mädchen mit dabei.

»Ja,« sagte der Schneider, »du willst nicht, daß es heißt: den starken Holders-Fritz hat ein Mädle in den Bach gerannt. Aber das geht mich nix an. Ein rechter Bürger muß alles Unrecht anzeigen, wo er sieht.«

Dem Holders-Fritz stieg der Zorn auf, daß er wieder zum alten Wildtun greifen mußte. »Ich sag', ich hab' Weiden wollen haun und bin selber gefallen, und du weißt nicht, was du red'st. Wer's anders sagt, der hat's mit mir zu tun!«

»Ja,« meinte der Schneider, »da möcht' man fast dem Morzenschmied recht geben, du hätt'st ihr bloß aufgepaßt, du wärst in sie verschameriert und hätt'st deine Sach' wollen anbringen, weil du ihr nix willst lassen tun. Und da ist die Geschicht' noch närrischer. Ich hör' die Manner schon im Gringel lachen. Hahaha!«

Dem Fritz lohte die Scham ins Gesicht.

»Ja, es gibt weiter keine in Luckenbach! Und wenn ich wart, wo die Valtinessin-Ev' vorbeigeht oder sonst eine, so geht das keinen Schneider was an.«

»So? hast du's auf die gemünzt, und die Heiterethei hat gemeint, es gilt ihr? Du hast mit der Ev' wollen karessieren, und die Heiterethei meint, du willst ihr deine Stärk' zeigen; das ist verwünscht!«

»Du bist still mit der Heiterethei!« rief der Fritz zornig, aber eigentlich nur, weil der Schneider, das Stück Leute, sie nicht mit diesem Namen und überhaupt gar nicht nennen sollte. »Und ich sag' dir's noch einmal, wer die Lügen aussprengt, die du da hast gesagt, der soll seh'n . . .«

Der Fritz schwang den gewaltigen Arm, um seiner Rede mit einem Schlag auf einem imaginierten Wirtstisch Gewicht zu geben, und zuckte zusammen vor dem Schmerz im Finger, den er in der Hitze des Gespräches vergessen.

»Hm,« meinte der Schneider, »deine Ursach' mußt du doch haben. Ja, von der Ev' und dir ist die Red' gewest, und an so ein arm Mädle, wie die Heiterethei ist, – na, ich sag' nichts wieder von der Heiterethei, brauchst nicht so aufzufahren, – an so eine ist da freilich nicht zu denken. Donner, die Ev', die hat ein paar Kasten und Zeugs darin! Und da meinst du auch, die Ev' wird's erfahren, und du verlierst den Respekt. Ja, und Respekt muß im Haus sein; darauf halt' ich auch. Du mußt nicht etwa denken, ich fürcht' mich vor dir und bin still aus Furcht. Da kennst du den Schneider schlecht. Ich red' so nicht von Sachen, wo mich nix angehn. Das schickt sich nicht für einen, wo ein Mann ist. Deswegen kannst du ohne Furcht sein, Fritzle; da kannst du dich trösten.«

Sie waren im Gespräche an einen Ort gekommen, wo ihre Wege sich schieden.

Wie er allein war, fühlte der Holders-Fritz erst, daß ihn fröstelte. Aber er war innerlich zu erregt, um darauf etwas zu geben. Er sagte zu sich: »Ich wollt', mir wär' was anders eingefallen, als das Ordentlichsein. Das ist schuld an der ganzen Geschicht'. Nu wird der Schneider reden und der Schmied. Und das ist verwünscht, daß es wieder die Wahrheit ist. Ich könnt' gleich wieder in das alt' Wildtun hineinkommen. Ich wollt', ich wär' nie anders gewest. Das Denken ist dumm Zeug; deshalb ist das Vieh so vergnügt, weil's nicht denkt. Jetzt gleich geh' ich in die Schwane und geh' nicht eher wieder heraus, bis ich die vergessen hab'.«

Er hielt den schon schneller gewordenen Schritt wieder an und biß die Zähne zusammen.

»Ja, daß sie mich auslachen da und sagen: Er ist wieder wild, weil ihn die nicht mag und hat ihn in den Bach gerennt. Und wenn sie ihn nicht in den Bach hätt' gerennt, wär' sie ihn nicht losgeworden: so ist er ihr überall nachgelaufen. Und daß sie selber sagt: Er ist gewest wie dem Herrnmüller sein Spitz, und so einem muß man einen Tritt geben, sonst hat man keine Ruh' vor dem Vieh. Element! Daß ich ihr nicht aufsässig sein kann, und wenn sie noch schlimmer wär' und noch niederträchtiger tät'! Und den Finger da; wenn ich nicht mehr kann arbeiten, hernachen hab ich erst Zeit zum Aufpassen, da kann ich ihr ja nachlaufen den ganzen Tag, da kann sich der Spitz lassen treten, so viel er Lust hat. Das wird anders, Bursch, das sag' ich dir! Die Ev' sollst du frein, so wahr ich der Holders-Fritz bin. Das soll dir nicht umsonst eingefallen sein. Der Schneider hat mir's auch geglaubt; da werden's die Leut' schon erfahren, daß ich der Ev' aufgepaßt habe und nicht jener. Und die Heiterethei . . .«

Er blieb wieder stehen. Es fiel ihm ein, da die Heiterethei nichts mit ihm haben wolle, werde sie sich nicht ärgern, nähm er die Ev'. »Und wenn ich's ihr nicht zum Trotz tu, so tu ich's dir selber zum Trotz,« sagte er dann wieder zu sich, »weil du sie nicht aus den Gedanken kannst bringen. Wild tu ich nicht mehr, das weißt du, aber unterkriegen will ich dich wohl noch, Bursch! Du sollst mir die Ev' heiraten. Warum willst du jene nicht vergessen?!«

Er hatte sich selber am Kragen gepackt, so war's ihm ernst.

Es war das eine sehr mittelbare Weise, sich an der Heiterethei in seiner eigenen Liebe zu ihr zu rächen. Aber er hielt sie fest.

»Fräle,« sagte er zu der Großmutter, »Ihr habt mir neulich von der Valtinessin-Ev' gered't, Ihr wißt schon, was. Das könnt Ihr fertig machen. Sagt mir nix weiter davon; in acht Tagen muß die Sach' fertig sein. Ich bin ihr schon lang zu Gefallen gangen, – das könnt Ihr sagen – und hab' sie nicht allein können antreffen.«

Die Großmutter wunderte sich, ihn einmal wieder in seinem Hause zu sehen, wenn auch in tiefer Nacht. Da sie seinen Zustand gewahr wurde, seine Kleider naß und voll Schlamm, ihn frösteln und von seinem verletzten Finger Blut fließen sah, geriet sie außer sich.

»Es ist nix,« sagte er; »beim Weidenschneiden bin ich in den Zehntbach gefallen.«

Die Alte, voll Furcht, er könne sich erkälten, wollte ihn im Hause behalten und bewegen, schnell zu Bett zu gehen, oder wenigstens die Kleider zu wechseln. Er könne den Tod haben davon.

»Wär' mir just recht,« dachte der Fritz. Er blieb darauf, so wie er sei, nach seiner Werkstatt zu gehen, und wenn sie ihm den Bader etwa nachschicke, der solle sehen, seine andere Hand sei noch gesund.

Sie meinte ihn dadurch zu überreden, daß sie sagte: »Aber, du bös Tichterle, wenn du krank wirst, oder der Finger wird schlimm, daß du nicht kannst arbeiten?«

»Ich mag nicht arbeiten mehr! Ich sehe nicht wozu! Ich seh' nicht, wozu einer leben will!« fuhr der Fritz auf. »Wenn Ihr was wollt tun, Fräle, so macht das geschwind fertig, ich hab' Euch gesagt, was. Oder ich geh' übermorgen nach Amerika.«

Die Vorstellung, daß einer nach Amerika auswandere, war der Großmutter immer schrecklicher gewesen, als die des Sterbens. Da, meint sie, komme man zu seinen Leuten und dort zu lauter Fremden. Die Valtinessin-Ev' schien ihr nicht die Frau, die sie ihrem Enkel wünschen sollte. Doch versprach sie ihm, die Sache möglichst bald in Richtigkeit zu bringen, wenn sie auch bei sich dachte: »Das ist die best' Eil', die nix übereilt, und Gott sei's gedankt, der Menschen Gedanken in ihren Köpfen sind auch nicht so fest, als die Erd' unter ihren Füßen.«

Sie konnte nicht schlafen. Es fiel ihr nun erst recht ein, wie er gefiebert, wie er bald dunkelrot, bald totenbleich gesehen, sein ganzes zerstörtes Wesen, wie er zuweilen gewankt; wie viel Blut er auf dem Heimwege schon verloren haben müsse. »Besser ist besser,« meinte sie. Sie nahm ihren blauen Mantel um die alten Schultern, trippelte nach der Weidengasse und weckte den Bader. Mit diesem kam sie eben noch rechtzeitig in ihres Enkels Werkstatt an.


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