Otto Ludwig
Die Heiterethei und ihr Widerspiel
Otto Ludwig

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Wir müssen nun einen Rückblick auf das Treiben des wilden Fritz werfen seit dem Gründer Markt, um zu erfahren, ob er sein trauriges Schicksal verdient hat, und ob er's um die Heiterethei verdient hat, durch welche es ihm geworden.

Wir folgen dem lärmenden Haufen seiner Kameraden und dem Holders-Fritz selbst vom Hohlwege vor der Stadt, wo wir, nach dem Zank über den Karren hinüber, sie sich selbst überlassen haben, nach »der Schwane«.

Nicht weit von unserem Ausgangspunkt klingt uns schon Musik entgegen. Zuweilen wird diese von dem Geschrei vieler durcheinander zankenden Stimmen übertönt. Dann macht ein lustiger Juchheruf Frieden, der aber nicht von langer Dauer ist.

Der Adams-Lieb schüttelte sich vor Lust beinahe aus seinen Kleidern heraus, die ebenso wie sein gewöhnliches altkluges Wesen auf den Zuwachs berechnet schienen. »Die sind schon übereinander. Mach zu, Fritz! Wir kommen gerade recht.«

»Aber wie bist du nur heint?« unterbrach er sich selber. »Ich mein, du hast deine Ohren bei deinen Gedanken stecken, und die sind, wer weiß wo. Den ganzen Tag schon weiß man nicht mehr, wie man mit dir dran ist.«

Der Fritz schwieg und bejahte dadurch, ohne es zu wissen.

Nun biegen wir um eine Straßenecke. Das Haus, das uns gegenüberliegt und aus allen Fenstern lichte Scheine auf das nasse Pflaster wirft, über welches umschlungene Schattengestalten sich lautlos drehend, hinweghuschen, ist »die Schwane«.

»Fritz!« schrie ein anderer, »du wirst doch nicht in das Deichle laufen?«

An einem Hause hin dehnte sich gemächlich und ungehindert eine Art Pfuhl, dicht von schwimmenden Brunnenröhren bedeckt, die entweder den Hineingeratenden vor dem Untersinken oder sich selber vor dem Verlechzen bewahren sollten. Davon stieg eine Verbindung von Jauchen- und faulem Holzduft auf, welche die Warnung des Kameraden hätte entbehrlich machen sollen.

Wenige Schritte noch und sie sind, in die Torfahrt eingetreten, an der Wirtsstubentür »der Schwane«.

»Gehn wir nicht gleich 'nauf in den Saal?« fragte der Adams-Lieb halb verwundert, halb ärgerlich, als der Fritz die Tür öffnete. »Ja, du willst erst einmal trinken,« beruhigte er sich selber.

Und so war's.

Die Kameraden intonierten das klassische Lied: »Bier her, Bier her, oder ich fall um«. Sie meinten, nur schnell im Durchgehen einen Trunk zu nehmen; aber auch darin erregte der Fritz wiederum ihren Ärger und ihre Verwunderung zugleich, daß er sich setzte, und zwar mit einer Entschiedenheit, als wolle er nie wieder aufstehen.

»Bier, Käterle,« rief der Holders-Fritz; »aber gleich sechs Maß für mich allein. Das Bestellen allemal ist mir zuviel.«

»Du bist doch gar nicht mehr wie sonst,« sagte der Adams-Lieb; »damit hätt's Zeit gehabt bis hernachen.«

Aber der Fritz entgegnete: »Dumm's Zeug!« und begann dem inzwischen vor ihn auf den Tisch gestellten Getränke fleißiger zuzusprechen, als ein bloß menschlicher Durst rechtfertigen konnte.

»Er ist noch auf die Heiterethei wild,« sagte ein anderer.

»Der wird er's schon zeigen,« meinte der Adams-Lieb. »Aber daß du den Lärm oben kannst hören und machst nicht mit, Fritz, das weiß ich nicht, wo ich's hintun soll. Du bist doch immer ein Kerl gewest. Schon in der Schul', sagen sie, bist du der Gescheit'st, aber auch der Allerwild'st gewest. Und so hast du's hernachen fortgemacht in der Lehr' beim Meister Schramm, und hernachen, wie du Meister bist gewest, erst recht. Na, der mag geschüttelt haben!«

»Gelt,« fragte ein anderer, »mit dem Morzenschmied bist du in die Schul' gangen? Hernach ist der Kaspers-Andres dein Kamerad gewest. Und nach diesem der Tuchscherer in der Weidengass'.«

»Das sind alles alte Philister geworden,« lachte der Adams-Lieb. »Und dein letzter vor uns, der Schleiermüller, der tut auch schon, als wenn er den alten Schloßturm auf seinen Armen hätt' getragen, wie der noch ein Wickelkind ist gewest. Und ist kein fünf Jahr älter wie ich. Die haben sich alle vor den Leuten gefürcht't, und was die sagen. Du bist ganz allein frisch und jung geblieben. Du bist doch ein ganzer Kerl. Du machst dir aus allen Leuten nix, und so muß ein rechter Mann sein. Aber nun geh zu, daß wir 'naufkommen in den Saal. Den mußt du heint noch räumen; das sag ich dir. Wenn du noch lang machst, geh ich erst einmal allein. Ich muß wenigstens erst sehen, was es gibt.«

Und das tat der Adams-Lieb.

Unterdes beginnt der Holders-Fritz alles mögliche, in das alte Wildtun hineinzukommen. Aber es gelingt ihm nicht. Wild und toll ist er genug, aber auf andere Weise, als er es sein möchte. Er ist toll auf die Heiterethei, daß sie keinen Respekt vor ihm hat; und daß er sich gestehen muß, sie habe recht daran, das macht ihn noch wilder auf sie. So deutlich ist's ihm noch nie geworden, daß der rechte Respekt nicht durch die Kraft seiner gewaltigen Arme und sein gewohntes Wildtun zu erzwingen ist. Darum ist er toll auf dieses Wildtun selber, das ihm nun wie das Treiben dummer Jungen vorkommt.

Seit er im Jüngling stecken geblieben, und Geschlecht um Geschlecht an ihm vorüber in die Reihen der Männer gerückt, hatte es an Selbstvorwürfen und inneren Mahnungen nicht gefehlt. Sie waren immer häufiger und dringender geworden; auf der anderen Seite hatte aber auch die Gewohnheit das alte Geleise immer mehr ausgetieft. Je nötiger es erschien, aus diesem herauszukommen, um so schwerer erschien es auch. Eine solche Anwandlung hatte ihn heute vom Besuche des Gründer Marktes abgehalten, die alte Gewohnheit aber wiederum den Kameraden in die Hände geführt.

Er sagte sich nun: »Ich hab' anders wollen werden und wär's geworden, aber nun die Heiterethei denken müßt', ich tu's, weil sie's hat gewollt, nun geht's nicht!« Das will er sich aufreden, eben weil er fühlt, daß die äußere Anregung durch sie notwendig war, daß diese erst seinen Stolz gegen seine Kameraden aufrufen müssen, um ihn loszulösen aus den festhaltenden Armen der Gewohnheit.

»Ich hab' mehr so dumme Gedanken gehabt,« sagte er zu sich selbst, »aber ich hab' sie nicht lassen aufkommen. Hernachen bin ich noch wilder gewest, bis ich sie los worden bin.«

Und das will er eben wieder, aber es gelingt ihm nicht mehr. Der alte Zauber ist gebrochen. Ein neuer zwingt ihm den Gesichtspunkt der Heiterethei unentrinnbar auf.

Er sieht sich um. »Wenn doch einer käm' und was tät', daß ich wild werden müßt', ich möcht' wollen oder nicht!« denkt er. Er tritt sich selber auf den Fuß, er fährt alle Augenblicke zausend mit der Hand durch sein Haar, weil's ihm kein anderer zu Gefallen tun will. Er trinkt immer hastiger und wird nur immer nüchterner davon.

Jetzt kam der Adams-Lieb wieder und jubelte. »Die haun sich da oben und wissen nicht, warum! So ein Spaß ist noch nicht gewest. Da sind keine zwei Parten, die's aufeinander halten, sondern jeder haut, was ihm vor die Faust kommt.«

Und gleich hinter dem Adams-Lieb her kam ein Zimmergeselle wie aus einer Kanone in die Wirtsstube hereingeschossen. Aus eigner Macht, ohne fremde Nachhilfe, hätte er nimmermehr so schnell hereinfahren können. Sobald er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er sich herausfordernd um und schien die Anwesenden für die hilfreichen Geister anzusehen, deren Beistand ihn hereinbefördert.

»Nur her,« schrie er, »wenn ihr das Herz habt, ihr Lumpenpack!«

Der Adams-Lieb und die übrigen Kameraden zogen sich hinter die mächtige Gestalt des Holders-Fritz zurück. Der Adams-Lieb bewies dem Holders-Fritz, er dürfe eine solche Herausforderung nicht abweisen um seines Namens willen. Er begriff den Holders-Fritz nicht mehr.

Unterdes waren dem widerwilligen Eindringling mehrere gefolgt.

Der Holders-Fritz hörte das »Hetz! hetz!« der Heiterethei wieder in seinen Ohren. Er sah, wie der Adams-Lieb und seine übrigen Kameraden sich zuwinkten. Das hatte er hundertmal gesehen, aber halb aus Gutmütigkeit, halb aus Bedürfnis ihrer Gesellschaft nicht gerügt. Dadurch waren sie sicher geworden. Jetzt kam ihm der Zorn. Er begriff, sie legten ihm seine Gutmütigkeit für Einfalt aus. Und wer weiß, was geschehen wäre, fiel ihm nicht ein: »Das war's ja, was die Heiterethei hat haben wollen!« Die ganze Stadt und sie selber müßte glauben, er folge ihr wie ein gescholtener Schulbube seinem Lehrer.

»Greif nur einer den Holders-Fritz an,« schrie indes der Adams-Lieb hinter dem Holders-Fritz hervor, »wenn er das Herz hat!«

Er erreichte seine Absicht, denn die Eingedrungenen kamen auf den Holders-Fritz los, der noch immer an sich spornte. Die Kameraden ließen den Sitzenden und hielten sich die Türe frei. Der zuerst Hereingeschossene machte mit der rechten Faust eine keineswegs zweideutige Bewegung nach dem Kopfe des Holders-Fritz. Da fuhr dieser empor. Eine kleine Weile schien die Wirtsstube in eine Walkmühle verwandelt. Das ging klipp, klapp! Bald verengte, bald erweiterte sich der Knäuel, bis er auseinander flog und stückweise durch die Tür verschwand. Der Holders-Fritz war alles, was davon übrig blieb.

Wunderbarerweise hatte er in den Zimmerern eigentlich auf seine Kameraden losgeschlagen. Wenigstens war es erst nur der Zorn über diese gewesen, den er an jenen ausließ.

Aber der Kampf gebiert einen neuen Zorn aus sich, wie ein Gewitter einen heftigeren Sturm aus sich entwickelt, als der es zusammengeblasen.

Es wäre schwer zu sagen, auf wen der Fritz eigentlich zornig war. Er war's auf die Heiterethei, auf die Kameraden, auf die Zimmergesellen, auf die ganze Stadt, auf sich selber; er war zornig auf das alte Leben, das ihn anekelte, aber auch auf das neue, welches er beginnen mußte, wollte er jenes lassen. Er schämte sich vor sich und aller Welt, zu bleiben, wie er war; aber er schämte sich auch vor sich und aller Welt, anders zu werden. Es war wiederum mehr der Drang, sich durch die Betäubung des Kampfes von allem dem wenigstens auf Augenblicke zu befreien, was ihn hinauftrieb in den Saal, der bereits den Anblick eines Schlachtfeldes bot.

Das war ein wildes, buntes Durcheinander, das sich, in einen Schleier von Staub und Tabaksrauch verstrickt, hin- und herwälzte. Da sah man, was man nie gesehen. Da waren Beine, die wie Arme in der Luft herumgriffen, Arme, die wie Beine auf dem Boden umherliefen, dazwischen Köpfe, die den Mund oben, und andere, die ihn unten hatten, menschliche Rümpfe in allen Stellungen, die nur möglich. Welches sterbliche Auge hätte bestimmen mögen, was zusammen gehörte? Mit überraschender Behendigkeit tanzten Stuhlbeine dazwischen und flogen Bierkrüge in allen Richtungen wie aufgescheuchte Vögel darüber hin. Wunderbar war die gegenseitige Anziehungskraft von Köpfen und Fäusten, die Zutulichkeit, womit ganze Haarbüschel sich um fremde Finger schlangen, die Ausdauer, mit welcher gekrümmte Fingerknöchel anpochend untersuchten, ob unter einem Schädel nicht hier oder da eine hohle Stelle sich finde, oder was eine menschliche Nase eigentlich auszuhalten imstande sei. Die Musikanten hatten der Versuchung nicht widerstehen können, auf dem Orchester all die Kunstfertigkeiten, die sie unten im Saale üben sahen, nachzuahmen. Trompete und Posaune, Klarinette und Geige wollten sich von bloßen Stuhlbeinen nicht beschämen lassen. Über Mangel an Musik dabei zu klagen, wäre keinem menschlichen Gehör eingefallen. Eher war der Musik zu viel. Für die wenigen Instrumente, die unter die Stuhlbeine gingen, ward jedes Stuhlbein zu einem musikalischen Instrumente. Das ganze Getümmel war ein großes, sausendes und quiekendes Hackbrett, das sich selber mit Stuhlbeinen schlug.

Aus dem Gewoge der kämpfenden Männer ragten Tische und Bänke, wie die letzten Bergspitzen aus den steigenden Wassern der Sündflut. Auf diese hatten die Töchter der Riesen sich geflüchtet. Mit Entsetzen sahen sie, wie die Köpfe ihrer Tänzer, hineingerissen in die brausenden Wellen, vergeblich sich emporzuheben rangen; zuweilen spülte eine Woge die Schreienden von der Klippe herab und zog, die Scheitel mit den Gewändern der Stürzenden gekrönt, sie drehend in den Strudel hinein.

Aber wie die Arche Noah, hoch über allen, zogen Schultern und Haupt des wilden Fritz ihre Spur. Vor ihm bäumten sich die Gewässer und hinter ihm zeigte sich Land. Nicht eine halbe Stunde, und er stand in dem weiten Saale unter Stuhlbeinen, gescheiterten Tischen, zerbrochenen Bierkrügen und Fensterscheiben verschnaufend allein. Die kühle Nachtluft, die durch die zerschlagenen Fenster hereinblies, mit dem Staube ein kleines Nachtspiel aufführte, und die wenigen Lichter, welche die Schlacht verschont, in ein angstvolles Zittern versetzte, sagte zu ihm: »Wir beide sind die Sieger.«

Aber schlimmer, als außer ihm, sah es im Innern des wilden Holders-Fritz aus – weit öder noch, weit wüster und nüchtern überwachter. Dem »Schwanewirt« mußte es viel leichter werden, seine Stuhlbeine wieder zusammenzubringen, als das dem Fritz mit seinen zerrissenen und verworrenen Gedanken gelang. Und es war ihm nicht etwa wie jenem an der Erhaltung des noch Vorhandenen gelegen. Er wäre lieber seine ganzen Erinnerungen und sich selbst mit losgeworden. Mechanisch sah er sich nach seinen Kameraden um; aber es fiel ihm ein, in der Hitze des Kampfes hatte er vergessen, daß er sie schonen müsse, solle die Heiterethei nicht triumphieren. So hatten sie das Los der Zimmergesellen geteilt.

In der Tür tat er noch einen Blick zurück. Der Saal gemahnte ihn wie sein altes Leben. Nichts als Trümmer nutzlos vergeudeter Zeit und Kraft. Und darüber brütend, statt Staubes und Tabakrauches, Ekel, wüster, öder, grenzenloser Ekel.

»Bursch!« fuhr er auf, indem er sich an der Brust packte mit einem Griff, der einen anderen aus dem Gleichgewicht gebracht haben würde, »nun ist's aus mit dem Wildtun, das sag' ich dir! Die alte Zeit hat aufgehört. Hierher kommst du mir nicht wieder!«

Und so warf der Fritz, nachdem er das mit all den anderen aus dem Saale der Schwane getan, sich selber zugleich aus dem alten, wüsten Leben hinaus.

Es war nicht mehr früh, als der Holders-Fritz erwachte und sich auf einer Schnitzbank in den Stadeln sitzen fand. Eben klang die Glocke vom Kirchturm; er zählte neun Schläge.

Er sah sich nach seinen Gesellen um, die eigentlich schon seit drei Stunden in voller Arbeit sein sollten. Er war allein.

Endlich kam der Lehrling und öffnete das Stadeltor. Er sah überwacht aus. Dem Holders-Fritz fiel zum erstenmal auf das Gewissen, wie sehr zu seinem Nachteil der Junge sich verändert hatte, seit er bei ihm war. Er hatte in voller Jugendlust und Gesundheit geblüht: jetzt erschien er verdrießlich und sein verbleichtes Gesicht trug unverkennbar die Spuren einer wilden Nacht.

Die Stimmung, in welcher der Holders-Fritz sich befand, war der Spiegel, den des Lehrjungen Zustand ihm vorhielt, nicht zu verbessern geeignet. Der Junge warf sich gähnend und dehnend in eine Ecke und bot, da der Schrecken über den unvermuteten Anblick seines Meisters ihn in seiner Stellung versteinerte, ein seltsames Schauspiel dar.

»Wo sind die Gesellen?« fuhr ihn der Meister an. »Ist's etwa Sechs, daß du erst kommst?«

Der Junge raffte sich auf und sagte noch immer in staunendem Schrecken: »Herrjeh, der Mäster ist schon auf!«

Der Holders-Fritz las ohne Mühe die Antwort aus dem Ausrufe heraus: »Ja, wir richten uns nach dem Meister. Früher kommt der auch gewöhnlich nicht.«

Er begriff, warum keine Arbeit mehr fertig werden wollte. Das hätte er schon früher einsehen können; aber ihm war das Handwerk zum Ekel geworden, seit ihm die Arbeit keine Freude mehr machte. Die Arbeit freute ihn nicht mehr, seit sie ihm nicht mehr gelang, und sie gelang ihm immer schlechter, je weniger sie ihn freute. Er mußte sich zur Arbeit zwingen, das machte sie ihm völlig verhaßt. Und was er nicht gern tat, daran dachte er auch nicht gern. Er ließ die Sache gehen, wie sie ging.

Zum Überflusse fand er einen Brief von seinem bedeutendsten Kunden vor, der schrieb: wenn man nicht bessere Arbeit liefere, müsse er weiter gehen.

Sonst war des Holders-Fritz Stolz gewesen, der wildeste, aber auch der geschickteste Meister zu heißen. Er sah, er konnte nur noch für den wildesten gelten; das regte ihn noch mehr auf. Alles Unangenehme, das er bis jetzt, sich in Wildheit betäubend, abgehalten hatte, drang nun unabwehrbar zugleich auf ihn herein.

Die Gesellen, von denen wir den Saalfelder bereits kennen, waren ebenso erstaunt, als es der Lehrling gewesen, wie sie, langsam und mit Gähnen daherschlendernd, den Meister schon vorfanden, und zwar mit zornigem Gesicht.

Der Saalfelder meinte, sich ihn zu gewinnen, wenn er dessen gestrige Heldentat in der Schwane, die schon bekanntgeworden war, durch Lob und Preis verherrlichte. So war es ihm schon öfter gelungen, wieder gut Wetter zu machen. Dieses Mal geschah das Gegenteil. Der Meister stellte eine strenge Untersuchung an. Es fand sich, daß ein großer Teil des ehemals übervollständigen Werkzeuges gänzlich fehlte, ein anderer in den traurigsten Umständen war. Das Ende davon fiel dahin, daß der Saalfelder auf der Stelle fortgeschickt wurde, und der Hanauer, der sich in manchen Dingen nicht rein wußte, die noch zur Sprache kommen konnten, selber ging.

Wiederum hatte der Holders-Fritz Gelegenheit gehabt, sein eigenes Bild in zwei treuen Spiegeln zu sehen. Das lange, wilde Haar besonders, das beide Gesellen nach dem Beispiele des Meisters trugen, das Symbol seiner bisherigen Lebensweise, war ihm so widerwärtig geworden, als diese selbst. Ihm schien's, als beseitige er alles, wovor ihm ekelte, als er mit dem Schnitzer durch seine dicken Locken fuhr und ihrer wilden Hoffart ein Ende gab mit Schrecken.

Ein ähnliches Schicksal traf die Baumelquasten und das lange weichselne Pfeifenrohr; die ersteren wurden gänzlich vernichtet, des letzteren Länge auf ein bescheidenes Maß zurückgeführt.

Der Holders-Fritz war nur eben fertig und hatte sich zur Arbeit auf seine Schnitzbank gesetzt, als der alte Meister Schramm in die Werkstatt trat.

Wir wissen, welchen Erfolg seine Mahnung hatte.

Die Änderung, welche der Holders-Fritz mit seiner Lebensweise vorzunehmen im Begriffe war, sollte das Werk seines freien Entschlusses scheinen. Sie sollte wo möglich den Leuten zum Trotze geschehen.

Die Leute hatten natürlicherweise von Anfang an schon sein Treiben nicht rühmenswert gefunden. Es war ihm leichter geworden, ihre Mißbilligung zu verachten, als zu benutzen; und wie der Mensch in seiner unbewußten Beifallsbedürftigkeit endlich in jeden Tadel einen Beisatz von abgezwungenem Lob oder gar Bewunderung hineinhört, so war es dem Holder mit dem Namen des wilden Fritz gegangen. In dem Kreise seiner Kameraden verlor er allmählich vollends das Ohr für rechtes Lob. Eine Reibung führte zur andern; seine erst eigenwillige Absonderung zwang ihn endlich, die Gewalt der öffentlichen Meinung, der kein ehrgeiziges Gemüt sich entziehen kann, da ihm der Weg freiwilligen Einstimmens nicht mehr offen stand, durch den Trotz anzuerkennen, den er ihr geflissentlich bei jeder Gelegenheit entgegensetzte.

Die Ermahnung des alten Meisters mußte deshalb das Gegenteil von dem bewirken, was dieser damit beabsichtigte.

Wirklich hätte der Trotz, wider die Meinung der Leute zu schwimmen, den Holders-Fritz fast zu einem Rückfall in sein altes Treiben verleitet, wenigstens zu einer auffallenden Kundgebung gegen sie. Er wäre dem alten Meister nachgerannt, um vor seinen Augen in das erste beste Wirtshaus einzutreten. Aber zur rechten Zeit fiel ihm ein, daß er dann in seinen geschorenen Haaren nur einen Beweis für das Gegenteil zur Schau tragen würde.

Der Lehrjunge mußte mit seiner Arbeit vor den Stadel hinaus. Er selber riegelte das Tor hinter ihm zu. Die offene Tür in den Stadelgarten gab ihm Licht genug. Niemand sollte ihn sehen, bevor seine Haare wieder zu der alten wilden Herrlichkeit herangewachsen waren.

Draußen hielt mancher Vorübergehende eine Weile an, um bei dem Lehrjungen nach dem Fritz zu forschen. Es kam auch mancher, um nach bestellter Arbeit zu fragen oder neue zu bestellen. Hörte der Fritz sein wildes Wesen loben und bewundern, dann freute er sich und sagte: »Ja, denen zum Trotz soll's anders werden.« Tadelten sie ihn aber und wünschten, er möge sich bessern, dann war es gut für den neuen Entschluß des Fritz, daß er gegen seine Haare gewütet hatte. Zum Glück geschah das erstere öfter als das letztere. »Wenigstens sollen sie nicht denken,« sagte er, »daß ich's tu.«

Vor Zorn und Langerweile bei der Arbeit, die nicht geraten wollte, schnitt er zuweilen wie rasend in die Reife hinein. Dann sagte er sich: »Pfui, Bursch! Das ist immer wieder das alt Wildern, und der Heiterethei und allen Leuten zum Trotz werd' ich ein anderer!«

Mittags ließ er sich das Essen holen. Er konnte sich denken, die Großmutter, die ihm sein Hauswesen besorgte, werde selber kommen, um zu sehen, was er mache, weil sie an seinem unberührten Bett bemerken mußte, er sei über Nacht außen geblieben. Er ließ es ihr verbieten. Er fürchtete auch, ihre Freude, wenn sie ihm seinen Änderungsentschluß anmerkte, würde ihm diesen verleiden.

Allmählich begann die Arbeit, mit der er sich zuerst nur zu betäuben gesucht, ihn zu zerstreuen. Darüber fand er seine Lust daran wieder. Dann sah er mit Freude, wie sie ihm besser gelang, immer schneller ihm von den Händen ging.

Abends freute er sich über die kräftige Müdigkeit, die ihm eine Nacht gesunden Schlafes versprach. Das war eine ganz andere Empfindung als die geistige Abspannung von dem wilden Müßiggang. Er fühlte, sogar die Folgen der letzten wilden Nacht hatte die Arbeit und die wieder erwachte Freude daran beseitigt. Nach dem Feierabend ging er nicht heim. Die Werkstatt begann ihm so lieb zu werden, daß er sich nicht von ihr trennen mochte. Aus Stroh machte er sich ein Lager zurecht. Der Lehrling mußte ihm sein Kopfkissen und seine Decke herbeiholen.

Ehe er sich darauf zur Ruhe begab, ging er durch die Hintertür in den großen Gras- und Baumgarten, der zum Stadel gehört, hinaus, um die Abendkühle zu genießen.

Er hatte die schöne Ruhe in der Brust, womit ein fleißig durcharbeiteter Tag zu lohnen pflegt. Alles sonst mag stehen, wie es will, der Arbeiter fühlt, daß er sich ein Asyl erworben hat, in welches selbst die Sorge um den nächsten Morgen nicht mit Heftigkeit eintreten darf. Er hat das Seine getan, für die Seinen getan; er kann und darf an einen anderen glauben, der auch das Seine für ihn tun wird als für den Seinen.

Vielleicht war es dieses Gefühl, das alles, was ihm naht, verklärt, warum dem Holders-Fritz der Garten so schön vorkam, wie nie vorher. Was war das für eine andere Luft als in den dumpfen, rauchigen Bierstuben! Er ging unter den blühenden Bäumen hin durch das grüne Gras. Er empfand, nur wer sein Bestes gegeben hat, besitzt den Sinn, wiederum das Beste anderer zu empfangen. Wie er den Tag tätig war, ist am Abend alles tätig für ihn. So haben ihm sonst die Blüten nicht geduftet, so weich hat das Gras ihm die wandelnden Füße nicht gebettet, so emsig hat die Luft ihn nicht gekühlt. Es arbeitet alles um den Preis, den er bereits in der Brust trägt. Alles will so zufrieden sein können, als er es ist. Der Trotz gegen die Heiterethei, gegen die Leute schlummert; er hat ihn mit den Leuten vergessen.

Hat er auch die Heiterethei vergessen? Sie wird schon sorgen, ihn an sie zu erinnern. Und an den wilden Fritz dazu, den er froh ist, vergessen zu haben.

Denn das ist sie doch, die umschlingend und umschlungen da drüben mit dem Nagelschmiede geht? Der ist's, es ist sein Stadelgarten, der zweite nach Reick zu von dem des Holders-Fritz. Und die Heiterethei ist's auch; es gibt nur ein Mädchen so hoch und schlank in Luckenbach. Es ist ihr kleiner Kopf, der lange Oberleib und die schmale Mitte; es ist der rote Unterrock, und es ist auch ihr federnder Gang, ihre trotzige Nackenhaltung, der dicke Zopf, der ihr bis auf den Hals hinabwuchert. Es sind ihre Bewegungen, das Wegwerfen der rechten Hand, die Wendung, als wenn sie sich der ganzen Welt entgegenstemmen wollte.

Dem Holders-Fritz schießt mit Gewalt das Blut vom Herzen herauf in das Gesicht. Er hatte den schlanken, glatten Wuchs eines Bäumchens mit der umfassenden Hand verfolgt; die Krone fällt ihm auf die Schulter; er hat den Stamm, ohne es zu wissen, umgeknickt. Er ist zornig, ohne zu wissen, warum.

»Also so ist die?« lachte er grimmig vor sich hin. »Ich geh' in die Schwane und trink' die ganz' Nacht. Heint sollt' den Zimmergesellen ihr Tanz erst sein, hernachen . . .« Aber das sagt er nur, um seinen Zorn auszutoben. Es ekelt ihm vor dem wilden Leben noch so sehr als vorhin. Er kommt zu sich und wundert sich. Das ist ja, als wäre er der Heiterethei zu Gefallen im Begriffe, ordentlich zu werden, und um ihre Gunst zu gewinnen. Und das ist ihm nie eingefallen. Nein, aber daß sie so ist! Aber das ist auch wunderlich. Was geht's ihn denn an, wie sie ist? Aber dann soll sie auch anderen nichts vorwerfen wollen.

Wie er sich wieder wendet, sind beide fort. Er muß über sich selber lachen. Er hat nie nach einem Mädchen gefragt, nach der am allerwenigsten. Aber das eigene nagende Gefühl im Herzen wird er nicht los. Es ist sonderbar! er will nichts mit ihr haben, aber ein anderer soll's auch nicht.

Nun, so soll er erst merken, was gesunde Müdigkeit für ein schönes Ding ist. Ohne sie hätte er weder so zeitig, noch so ununterbrochen die ganze Nacht hindurch schlafen können, als er tat.

Am Morgen ist er mit der Sonne auf und wieder an der Arbeit.

Was ist das für ein anderer Morgen, als er seit vielen Jahren erlebt hat! Aber eigentlich hat er seit vielen Jahren gar keinen Morgen erlebt. Es ist ihm wie eine neue Entdeckung, daß die Sonne früh aufgeht und daß die Vögel singen.

Das Behagen, womit er auf seiner Schnitzbank schafft, oder die glatten Dauben in den Schnürleib der Reife zwingt, hört sich aus jedem Schnitt, aus jedem Hammerschlag heraus. Nur dann fallen die Schläge unregelmäßiger und mit unlustigem Klange, wenn er sich der Leute erinnert oder der Heiterethei, wie er sie gestern belauscht hat. Aber das kommt immer seltener und geht immer schneller vorüber.

Die Stadeltür öffnete er noch nicht. Hört er draußen Vorübergehende mit dem Lehrling reden, dann bekommt er vielleicht Lust, noch eine Wand mehr zwischen sich und jene zu ziehen. Zuweilen fragt einer seiner bisherigen Kameraden nach ihm; dann muß er sich Gewalt antun, daß er nicht sein Verfahren von vorgestern in der Schwane an ihm wiederholt.

So geht es Tag für Tag. Die Ordnung und Mäßigkeit im Genuß von Speise und Getränk, der Schlaf vor Mitternacht, die wachsende Lust an der Arbeit, der regelmäßige Fleiß geben ihm eine Frische und Freudigkeit, die er noch nie gekannt. Das Schwerste gelingt ihm, das Gelungene baut einen ganz anderen Stolz in ihm auf, als sein früherer auf das Wildtun gewesen. Für die Stunden der Ruhe findet er einen ganz anderen Gefährten in sich, als seine ehemaligen Kameraden. Er macht sich über alles seine eigenen Gedanken. Es genügt ihm nicht mehr, das so und das so zu machen, weil's sein Lehrmeister so gemacht hat, dem's wiederum sein Lehrmeister so vorgemacht. Er versucht manches anders. Eins mißlingt, dafür gibt ihm das Gelungene, das ganz sein Werk ist, doppeltes Behagen.

Wenn er etwas vollendet vor sich stehen sieht, dann sagt er wohl: »Es geht doch kein Handwerk über die Büttnerei. So ein Ding, das steht auf sich selber da, so rund, so glatt und so fest, und man kann seine Freud' daran sehen, wie's gefügt ist, daß man keine Fuge sieht. Dagegen, was hilft dem Schneider und dem Schuster das Schönst', was sie machen? Der Kerl, der hernachen darin steckt, ist er häßlich, so verschimpfiert er das Werk, und ist er schön, so denkt man wieder, der macht's. Ich möcht' wissen, wie ein Schreiber an seiner Arbeit könnt' seine Freud' haben, oder ein Kaufmann, denn die Taler, die der erwirbt, die hat er nicht selber gemacht. Dem Musikanten seine Sach', die ist vollends in die Luft geblasen. Er sieht's kein Mal ganz vor sich, was er hat gemacht, daß er sich könnt' darüber freuen.«

Das Denken über alles, was ihm vorkommt, bedeckt wenigstens die Leere, die dem vereinsamten Menschen nicht ausbleiben kann, wenn es sie auch nicht erfüllt. Allmählich aber empfindet er doch, daß ihm etwas fehlt, weiß er auch nicht, was es ist.

Eines Tages hört er ein paar fremde Stimmen draußen vor dem Stadel. Sie bewundern seine letzte fertige Arbeit, die draußen steht.

»Na, ich bin doch auch ein Büttner,« sagte der eine, »und ich mein', nicht der ungeschickt'st. Aber so was von Arbeit hab' ich doch noch nicht gesehn. Mein alter Lehrmeister ist der geschickt'st gewest im ganzen Land, aber das hat er nicht machen können. Weiß der Kuckuck, wie das gemacht ist! Das ist eine ganz neue Mode.«

Sie wollen den Meister sprechen, der das gemacht hat. Der Lehrling, dem Befehle des Fritz gehorsam, sagt, der Meister sei nicht daheim, und in seine Werkstatt dürfe er niemand lassen. Sie bieten dem Jungen vergeblich Geld, wenn er sie hineinlasse; sie seien Freunde, dem Meister könne es nicht schaden.

»Ja,« sagt der andere, indem beide gehen, »glaub's schon, daß er niemand in seiner Werkstatt leiden mag, und Büttner am wenigsten. Da muß manch's abzugucken sein.«

Was ist das für ein ander Gefühl, als wenn ihn die Kameraden um Dinge lobten, um die er sich hätte schämen müssen!

»Ja, Denken,« sagt der Fritz vor sich hinlachend auf seiner Schnitzbank, »Denken macht den Mann, und nicht, daß er starke Arm' hat am Leib. Stärk' und Gesundheit sind viel wert, wenn sie richtig gebraucht werden. Und dazu ist das Denken da. Wie oft hab' ich meine und anderen ihre Stärk' und Gesundheit um nix in die Gefahr bracht, weil ich nicht weiter Gedanken hab' gehabt, als zu albernem Zeug. Aber hier will ich mir mein heilig Wort drauf geben, in meinem Leben will ich nicht wieder handgemein werden. Wenn ich nun die Hand einbüßt oder nur einen Finger davon, ich war der elend'st Mensch; und hätt' ich einen anderen drum bracht, ich könnt' nimmermehr wieder ruhig werden! Und die Leut' sind doch auch nicht so dumm, wenigstens die fremden nicht.«

Aber auch die Luckenbacher lernt er allmählich ruhig reden hören; freilich, weil er sich außerhalb der unmittelbaren Berührung mit ihnen und in seinen Gedanken über sie gestellt hat. Und es ist ein eigen Ding! In seinen Gedanken kann der Mensch sich frei machen; aber sowie er mit Menschen lebt, wird er ihr Sklave, und wenn er sich zu ihrem Beherrscher aufschwänge. Dann muß er den allgemeinen Gedanken anerkennen, sei's durch Fügen, sei's durch Trotz.

Wenn er nach vollbrachter Tagesarbeit in das Gärtchen geht, dann wird das eigene, aus Schmerz und Zorn gemischte Gefühl wieder wach, daß ihn die Heiterethei in ihrem Kosen mit dem Nagelschmied hat kennen gelehrt. Er könnte ihm entgehen; seine Schnitzbank und die weite Gedankenwerkstatt, die ihm die Einsamkeit geöffnet, sind ihm eine ganze Welt. Aber er geht absichtlich heraus, jenes Gefühl zu erneuern. Er möchte Ursache finden, es noch wilder und tiefer zu empfinden. Seit dem ersten Abendspaziergange in dem Gärtchen hat er das Paar nicht gesehen. Daß sie beisammen sein können, wo er sie nicht sieht, daß es ihn zwingt, ihr Gehaben dabei auf alle mögliche Art sich bis ins Einzelnste auszumalen, das erregt ihn weit stachelnder, als sie zu sehen. In dem Augenblicke, wo sie ruhig zusammensprachen, hat er wenigstens nicht denken müssen: »Jetzt küßt er sie, jetzt streichelt sie ihn!«

Heute endlich soll er sie wiedersehen, und zwar in größerer Nähe als jenesmal. Sie kommen, einander jagend, aus der Tür von des Nagelschmieds Stadel in den Garten heraus. Sie läuft vor ihm bis fast an die andere Planke, der Tür gegenüber, dann schmiegt sie sich um ein schlankes Blütenbäumchen und wendet sich schnell in der Richtung nach dem Fritz zu, der hinter einem großen Mehlfäßchenstrauch steht. Im Mutwillen springt sie über den Haag in den Nachbarsgarten; der Nagelschmied immer nach. Sie läuft weiter. Eben wie sie über den Haag in den Garten des Holders-Fritz hinein will, ergreift sie der Nagelschmied. Sie will sich losmachen; er hält sie fest. Sie ringen miteinander. Sie macht sich doch wieder los. »Nun warte nur, Annedorle!« droht der Nagelschmied. »Du bist schuld, daß ich in einen Dorn bin getreten, oder was es ist, aber es tut verdammt weh.«

Sie meint erst, es ist eine List von ihm, durch die er sie beilocken will. Aber als er in das Gras sinkt, da kommt sie näher. Sie muß doch glauben, er hat sich beschädigt. Sie kniet bei ihm nieder und sagt herzlich und bedauernd: »Ich bin auch recht dumm.« »Ja,« lacht der Nagelschmied, indem er sie umschlingt, »das bist du, sonst hätt'st du dich nicht lassen fangen.«

Aber noch lauter lacht der Holders-Fritz hinter seinem Mehlfäßchenstrauch – so laut, daß die beiden erschrecken und in Eile wieder dahin zurücklaufen, wo sie hergekommen sind.

»Sie ist's ja nicht, es ist ja gar nicht die Heiterethei!« wiederholt er wohl sechsmal und lacht immer wieder dazwischen. Er lacht, daß sie's nicht ist, wie er sich geärgert, weil er meinte, sie sei's. Sonst hat er keinen Grund. Er geht in den Stadel zurück und beginnt im Mondenscheine zu arbeiten, weil er nicht weiß, was er sonst vor Freude tun soll. Aber die Tür gibt nicht Licht genug. Er muß wieder aufhören. Er bleibt auf der Schnitzbank sitzen, legt die Hände auf seine Knie.

»Ob das nicht die junge Frau ist gewest?« sagte er vor sich hin. Es hat schon lang' geheißen, der Nagelschmied holt eine Fremde in die Stadt. Dergleichen hat den Holders-Fritz sonst wenig gekümmert, drum hat er's vergessen. Jetzt fällt's ihm wieder ein. »Ja,« meint er, »der Nagelschmied ist nicht dumm. Wenn er den Tag gearbeitet hat, dann hat er jemand, mit dem er reden kann. Und das Denken ist doch nur eine halbe Sach', wenn man niemand hat, dem man's sagt. Und ich wär' noch hundertmal so vergnügt, wenn ich eins hätt', das sich mit mir könnt' freuen. Ja, nun begreif ich's freilich, warum meine alten Kameraden das Wildtun müde geworden sind, wenn sie haben geheiratet gehabt. Und hätt' ich auch geheiratet, ich könnt' schon lang da sein, wo ich jetzt bin, und braucht's nicht heimlich zu sein.

Nun weiß er auf einmal, was ihm fehlt. Und wiederum, nun er's weiß, nun fehlt's ihm erst recht. Das Denken, womit er die Leere seither verdeckt hat, hilft, nun er sie sieht, auch nur sie noch größer machen. Und es freut ihn nicht mehr, weil er's niemanden mitteilen kann.

»Wenn du mich noch hätt'st zur Frau, da könnt' noch ein Mann aus dir werden!« Das klingt ihm immer noch vor den Ohren. »Ja, sie hat auch darin recht gehabt, die Heiterethei. Und sie hat's doch wohl eigentlich gut gemeint mit allem, was sie mir am Gründer Markt gesagt hat. Und es war gut, daß sie das hat getan. Und wenn ich mir's recht überleg', so hab' ich doch immer an ihre Reden gedacht. Ich wär' doch nicht anders worden ohne die Heiterethei. Weil ich ihr hab' folgen müssen, das hat mich wild auf sie gemacht. Und so wild ich auf sie war, ich hab' doch nicht anders können. Wenn ich ihr das selber könnt' sagen, es war' doch ein ganz ander Ding. Und sie tät' sich drüber freuen.«

Solche Gedanken hätte er noch vor wenigen Wochen mit Spott verjagt und sich ihrer geschämt. So erweichend wirkt Einsamkeit und Einfluß des Aufenthaltes in freier Natur. Aber auch nur vor sich selber konnte er sich in solchen unbewußten Geständnissen ergeben; dachte er sich in die Welt, unter die Leute zurück, dann schämte er sich in der Denkart, die er ihnen unterlegte und die er widerwillig teilen mußte, solcher Gefühle desto mehr.

Am anderen Morgen kam seine Großmutter in den Stadel. Sie wollte sich nicht länger zurückhalten lassen, nach ihm zu sehen. Die Gerüchte, die über ihren Fritz in der Stadt umherliefen, konnten ihr nicht fremd bleiben. Sie kam zitternd vor ängstlicher Erwartung und war ganz glücklich, als sie den geliebten Enkel weder still wahnsinnig, noch über schlimmen Plänen brütend fand. Sie erstaunte über die an Eigensinn grenzende Ordnung, die in seiner Werkstatt herrschte, über seinen Fleiß – denn er allein schaffte den Tag über mehr, als früher mit seinen beiden Gesellen zusammen – am meisten und freudigsten über sein heiteres, gesundes und freundliches Aussehen. Bedenklich freilich war es ihr, wenn sie ihn mit dem Lehrling reden hörte. Dann glich er in der Tat dem Bilde, wie ihn die Gerüchte malten. Das geschah auch zuweilen, wenn Bekannte draußen vorbeigingen.

Das »Fräle« schüttelte den Kopf, als er ihr seine Gründe dazu mitgeteilt hatte, aber sie kannte ihn zu gut und war zu klug, ihm ihre Meinung zu sagen. Auch von den Gerüchten über ihn schwieg sie, um ihn nicht noch mehr gegen die Leute aufzureizen.

»Weißt du denn, Tichterle (Enkel), was ich eigentlich bei dir will? Ja, du weißt's net. Guck, Fritzle, es wäre freilich besser gewest für dich, wenn dein Vater oder deine Mutter selig länger wär' am Leben geblieben. Wie du kaum bist zwölf Jahre alt gewest, da hast du armer Jung' schon nix mehr gehabt als dein alt Fräle. Ja, wenn du doch noch wen'gstens hätt'st Geschwister gehabt; mit denen hätt'st du dich verstanden, und es wär manch's von euch geredt worden, was gut wär' gewest. Aber was kann ein junger Bursch mit einem alten Fräle reden? Siehste, das ist, als wenn ein Franzos und ein Pariser miteinander wollten reden. Da red't der ein' Französisch und der andere Pariserisch, und hernachen weiß keiner, was der ander eigentlich hat gewollt. Siehste, da hab' ich immer gedacht, wenn das Fritzle nur einmal so weit aus dem Gröbsten war, daß er könnt' frein. Und guck', wenn einer auch ist wie ein Baum, wo einen Stamm hat, wer weiß, wie dick, und einen Wust von Blättern, eine rechte Wurzel kriegt er doch erst, wenn er hat gefreit. Jed' Kind ist hernachen ein Würzle mehr, das ihn mit der Erden zusammenhält, wo drin er steht. Nu, du wirst dir das alles besser ausdenken, wie's ein alt Fräle dir kann sagen. Und wenn dir's nicht recht ist, so ist's eben auch ein Wort gewest. Man red't gar viel den Tag, was man nicht in den Kalender schreibt. Nun sind Mädle genug in der Stadt, wo dich möchten. Es ist schon eine Zeit her, daß mir die Valtinessin hat merken lassen, ihre Ev' gäb' dir keinen Korb. Die Valtinessin ist eine große Frau, und wo viel Geld hat und viel Sachen; es wär' davon zu reden. Ich hab' freilich Gedanken für mich gehabt, und ich weiß nicht, ob's auch deine könnten sein. Guck', ich bin ein arm' Mädle gewest, wie mich dein Härle (Großvater) selig hat genommen, er hat's aber keine Stund' bereut. Ich will nicht weiter davon reden, aber ich hab' gedacht, eine Reiche müßt's nicht sein, wenn's nur eine wär, wie sie für dich passen tut. Es ist nix leichter, als Frau heißen, aber damit ist's noch nicht getan. Guck, die Heiterethei hast du immer so gut können leiden, und wenn ich eine Tichterlesfrau nach meinem Gustum finden müßt', ich braucht' nicht lang' zu suchen.«

Der Fritz saß rittlings auf seiner Schnitzbank. Er streckte seine Beine gerade aus in die Luft und lachte, damit die Großmutter nicht merken sollte, ihm sei derselbe Gedanke schon gekommen. Wohl auch aus Freude über das unvermutete Zusammentreffen.

»Ihr seid nicht gescheit,« sagte er dann. »Ihr habt Einfäll', wie ein alt Haus, Fräle. Von mir red' ich gar nicht, und bei der Heiterethei, da kämt ihr auch schön an.«

»Ja, du meinst,« entgegnete die Alte, »wegen ihrem Getu'? Es ist aber gar ein ander Ding, wenn einem Mädle wird gesagt: willst du frein? oder wenn einer sagt: willst du mich frein? Und einem armen Mädle klingt sell (jenes) wie Spott. Und so haben's die Leut' ihr oft gesagt. Frag du sie nur, Fritzle: willst du mich? du fragst gewiß nicht fehl.«

Der Fritz zog die Beine wieder an sich und setzte die Füße vor sich auf die Schnitzbank. »Ihr seid ein dumm's Fräle,« lachte er noch einmal. »Ihr meint, weil sie arm ist. Ja, seht Ihr, Ihr denkt nicht. Und ein alt Fräle, wie Ihr seid, hat's auch nicht nötig. Aber ein Mann, den macht erst das Denken. Wer fleißig ist, der ist nicht arm. Das sind nur die Leut', die nix machen und sich umsehn, wo von selber was kommen könnt für sie. Na, Ihr versteht das nicht. Wenn ich einmal will frein – ich hab' noch Zeit genug. Und nu geht heim und laßt Euch nicht merken, wie Ihr mich habt angetroffen. Der alt' Schramm und die ganzen Leut' sollen nicht meinen, sie sind schuld. Und wenn Ihr sagt, ich bin anders geworden, hernachen werd' ich gleich wieder wild.«

Die Großmutter ging, das alte, ehrliche Herz so froh, wie seit vielen Jahren nicht.

Der Fritz nahm das Schnitzmesser wieder zur Hand; aber er legte beide nur auf seine Knie; dafür schnitzte er im Kopf an einem Entschlusse. Das Holz, daraus der Entschluß werden sollte, war verdammt hart und voll Äste. Es gab ihm manchen Ruck, wenn das Messer darüber hinrutschte, ohne zu packen.

»Wenn du mich zur Frau hätt'st,« begann sein Selbstgespräch – »ja, wenn sie das nicht im Zorn hätt' gesagt! Und das: du denkst, dich möcht' ich? dich? das war ein dicker Ast. Und wenn du einen Rock anhätt'st, und der wär' aus lauter Talern gemacht, und an jed's Haar wär' ein Dukaten gespießt, dich möcht' ich nicht. Der ärmst' Bettelmann wär' mir lieber, als du, wenn ich einen möcht'. Aber ich mag gar keinen! Aber das hat sie eben auch im Zorn gesagt. Der Adams-Lieb und die anderen waren dabei und ich selber, und ich hab' sie erst in den Zorn hineingebracht gehabt. Ich hätt's ebenso gemacht an ihrer Stell', und ich tät's heut' noch, wenngleich ich innerlich nicht so dächt'. Ja, wenn man wüßt', was sie sich innerlich dabei gedacht hat hernachen! – Und das, was das Fräle hat gesagt wegen ihrem Getu'? Solch ein alt stumpf Fräle hat manchmal auch eine Stell', wo sie schneid't. Den Reif da, wo noch seine Rinden hat und ungespalten ist, den mach' ich auch nicht so um die Stutzen herum. Und ich hab' damals freilich noch meine ganze Rinden um mich gehabt und ich bin noch nicht gespalten gewest. Sie hat gemeint, wie ich damals bin gewest, und da verdenk ich ihr's jetzt selber nicht, wenn sie mich nicht hat gewollt. Hergegen, wenn sie wüßt', wie ich jetzt bin, und daß man schon könnt' sagen: Wer was gescheit will anfangen, der muß den Meister Holder fragen! Und wenn sie's nun wüßt' und möcht' mich doch nicht und tät' sich groß damit; der Holders-Fritz ist wie dem Herrnmüller sein Spitz; er tut, was ich will, aber einen Spitz nehm ich doch nicht? Oder so: denn sie hat verwünschte Reden, wenn sie anfängt.«

Ohne es zu wissen, zerhieb er mit dem Schnitzmesser den Reif, der vor ihm lag.

»Oho!« sagte er dann; »das Wildern ist vorbei.« Er packte sich selber mit der nervigen Faust vorn beim Hemdkragen. »Ich will doch über dich Herr werden, Bursch! Du sollst doch nicht der einzig' sein, den ich nicht unterkriegt'! Na, da wär ja der alte Fritz wieder! Das ist was rechts, einen an der Gurgel packen. Das ist's nicht, sondern Denken macht den Mann!«

»Ja, wenn man halt wüßt', was sie innerlich meint,« setzte er sein Selbstgespräch in einem Tone fort, der mit seiner Aufregung absichtlich im Gegensatze stand. »Aber wie soll man das erfahren? Da sind wieder die verwünschten Leut'!«

Er vergaß, daß er ja selber die Wand zwischen den Leuten und sich aufgeführt. Es ging ihm wie allen, die sich vereinsamen. Er meinte, die Leute machten Opposition gegen ihn, während er dies gegen die Leute tat. Den Leuten ist's bloß um vorübergehenden Zeitvertreib zu tun. Wäre er wieder unter sie getreten, hätt' er offen um die Heiterethei geworben und gezeigt, daß er anders sei, als sonst, man hätte ihn gelobt und getadelt und – nach wenig Tagen über etwas anderem vergessen. Aber er setzte seinen Groll bei allen voraus, er meinte, ihnen sei es ebenso eine Sache des innersten Menschen, ein Ehrenpunkt, wie ihm. In geringerem Maße begegnet jedem etwas Ähnliches. Er kann nicht drüber hinwegkommen, was andere über seine Reden und Handlungen denken mögen, die längst von jenen vergessen sind. Er meint, sie sind so angelegentlich mit ihm beschäftigt, als er selbst es ist.

»Das Fräle mag ich nicht schicken,« dachte er weiter. »Sie kann nicht gut hören, und ich schämt' mich, wenn ich ihr's sollt' auftragen. Ich könnt' die Heiterethei an einen Ort bestellen lassen; das ist auch nix. Wenn ich ihr aufpaßt'? Sie ist immer die letzt' herein vom Feld. So daß sie meinen müßt', ich kam' so zufällig den Weg. Und im Zwielicht; und ich müßt' passen, wenn sie einmal allein wär', und auch niemand in den Weg kommen könnt'. Ja, ich tu's! Und die Barten da nehm' ich mit. Wenn mir doch jemand begegnet, daß er meint, ich geh' Weiden hauen. Finster ist's genug! wenn ich noch den Rock umwend', kennt mich keine Seel'. Und merken sie doch, und die Heiterethei mag mich nicht, hernachen geh ich nach Amerika!«

Wir wissen, wie wenig es ihm glückte, seinen Vorsatz auszuführen. Einmal wartete er vergeblich; sie war wo anders gewesen, als er gemeint; ein andermal war sie nicht allein, ein drittes Mal mußte er seinen Lauerposten verlassen, um nicht entdeckt zu werden.

Je öfter er vergeblich gegangen war, desto versessener wurde er darauf, sie zu sprechen. Arbeit und Denken freuten ihn nicht mehr; er dachte bald nur noch an die Heiterethei, und wenn er fleißig arbeitete, so geschah es nur, um das Denken, das immer qualvoller wurde, los zu werden. Und wozu arbeitete er, wenn er nicht für sie mitschaffte? Auch auf die Leute, die zwischen dem Mädchen und ihm hindernd standen, ward er immer zorniger. Und dieser Zorn entfernte ihn wiederum immer mehr von dem einfachsten Wege, das Mädchen durch seine Großmutter ausforschen zu lassen, oder sie offen in ihrem Häuschen oder sonst wo aufzusuchen. Am schlimmsten wurde es mit ihm, als er zu bemerken glaubte, sie weiche ihm geflissentlich aus.

Wir können uns nun leicht erklären, wie es ihn packte, als er dem Schmied glauben mußte, es wisse die ganze Stadt, er sei ein anderer geworden, und zwar aus Gehorsam gegen die Heiterethei, und er bemühe sich um sie, die ihn verschmähe. Sein ganzer alter Stolz wachte wieder auf. Es war ihm nicht genug, sich den Anschein zu geben, als verfolge er die Heiterethei in böser Absicht. Er wollte nun wieder der alte werden, wieder der völlig wilde Fritz, der Heiterethei, der ganzen Stadt und sich selber zum Trotze.

Er stand schon in der Kegelbahn im Schwanengarten, als er zu sich kam und begriff, es sei der verkehrte Weg, sich an der Heiterethei und den Leuten zu rächen, wenn er nun wieder wild würde, da die Leute wußten, er tat es nur, weil die Heiterethei ihn verschmähte. Nein, ihnen zum Trotz mußte er nun ordentlich bleiben, und die Heiterethei mußte Respekt vor ihm bekommen und bereuen, was sie getan. Der Schwanengarten stieß unmittelbar an die lange Reihe der Stadelgärten. Wenn er über etwa zehn Hage wegstieg, kam er unbemerkt wieder in seiner Werkstatt an. In wenig Minuten war der Gedanke ausgeführt. Schon stand er an dem letzten Zaune, der ihn noch von seinem Garten schied.

»Ja, wenn's auf mich ankäm',« hörte er da die Stimme der Heiterethei sagen. Er merkt, sie steht im Garten des Nagelschmieds bei diesem und seiner jungen Frau.

»Meinetwegen,« sagt er trotzig zu sich selbst, »ich geh' in meine Werkstatt.« Er tat das wirklich; es war nur seltsam, daß er dazu einen Umweg wählte durch den Nachbarsgarten, und zwar einen, der ihn hinter dichten Weichselbüschen ganz nahe an den Sprechenden vorbeiführte; und noch seltsamer, daß er dort stehen blieb. Und doch war das letztere gar nicht seltsam, denn das Rauschen seiner Schritte im tiefen Gras mußte ihn den Sprechenden verraten, wenn er weiter ging.

»Ja, wenn's auf mich ankäm',« hatte die Heiterethei gesagt. »Ich könnt' bei guter Zeit mit dem Eisen da sein. Aber im Zainhammer ist's immer, als machten sie das Eisen erst, das man holen will. Da läuft ein Schmiedeknecht nach dem Buchhalter. Der ist nach Reick gegangen. Hernachen finden sie die Schlüssel nicht, und wer weiß, was noch!«

»Das Annedorle muß nur recht tribulieren,« entgegnete der Nagelschmied.

Jetzt kann der Holders-Fritz die Heiterethei mit der jungen Frau vergleichen, die er neulich für sie gehalten hat. Und er begriff nun kaum, wie die Verwechslung möglich war. Wer die junge Frau allein sieht, der kann sie wohl für hübsch halten; doch der Heiterethei gegenüber! Aber er hat eben selber gar nicht gewußt, wie hübsch die Heiterethei ist. Das sieht er jetzt erst.

Die Heiterethei ist an jedem Gliede voller, als die Nagelschmiedin, und doch im ganzen schlanker. Die Nagelschmiedin hat viel in der Art, sich zu halten und sich zu bewegen, mit der Heiterethei gemein; aber es sieht so zufällig an ihr aus, als könnte sie es auch anders machen; bei der Heiterethei dagegen begreift man nicht, wie eine Bewegung an ihr anders sein könnte, als sie ist. Sie gehört zu jenen seltenen Gestalten, die ganz und nur sie selbst sind, wo jeder Zug, jede Bewegung ein notwendiger Bestandteil des Ganzen ist, eine Ausstrahlung ihres innersten Wesenkerns.

Der Holders-Fritz stellt sich vor, wie sie aussehen müßte, wenn sie geputzt an seiner Seite ginge.

»Du bist mir der recht' Denker!« sagt er zu sich. »Da hätt'st du gleich daran denken sollen, daß der Morzenschmied ein Duckmäuser ist, der dich bloß hat ausholen wollen und dich gegen die Heiterethei aufbringen. Das ist dumm, daß die, der Nagelschmied und seine Frau, mit der Heiterethei gehn, sonst probiert' ich's heut noch, dem Duckmäuser zum Trotz, ob ich mit ihr sollt zum Sprechen kommen. Aber nun geschieht's morgen ganz gewiß. Die werden sie ja im Zainhammer wieder aufhalten bis zu Abend.«

Und mit dem Beginne des nächsten Zwielichtes ist er auf dem Wege.

Die Bäuerin, die er am Eingange in das Ulrichsholz fragte, ist ihr nicht begegnet. Herein in die Stadt kann sie noch nicht sein.

»Wenn sie aber den Bühel fährt,« meint er, »verpass' ich sie doch. Den Weg an der Herrnmühl' vorbei, den geht sie nicht; der wär' ihr zu viel um. Wenn ich auf dem Ulrichssteg wart, da kann ich sie nicht verfehlen.«

Und auf dem Ulrichssteg steht er nun schon eine ganze Stunde lang.

Alles ist still um ihn, kein Mensch zu sehen und zu hören, das ganze Tal hin und her. Wie ist's so schwül und so ängstlich! Die Weiden flüstern wehmütig und winken ihn vom Steg weg. Der Bach hüpft, als möchte er nur schnell vorüber sein, und der Fritz sollt's auch so machen. Gar nicht fern rauscht das Walkmüllerwehr. Zuweilen blickt der Mond aus den Wolken, als wolle er sehen, ob denn der Holders-Fritz noch immer auf dem Unglückssteg stehe. Dann verhüllt er schnell wieder sein Antlitz, wie einer, der sich seine Angst nicht will ansehen lassen. Wenn er herunter sieht, dann blinkt das Wasserrad der Walkmühle wie die Silberstickerei von einem Leichentuche auf dem Dunkel der Nacht. Eine Singdrossel singt so ängstlich eifrig, als wollte sie einem Scheidenden noch schnell soviel von ihrer süßen Stimme mit auf den Weg geben, als sie kann.

Nur der, dem all dieses ängstliche Bemühen gilt, teilt es nicht, obgleich es allmählich, ohne daß er weiß warum, seine warmen Gedanken anfröstelt.

»Heint muß ich erfahren, wie sie meint,« sagt der Holders-Fritz vor sich hin. »Will sie mich, hernachen laß ich Leut' Leut' sein und führ ein Leben mit ihr, wie der lustig Herrgott von Frankreich, einen Tag schöner wie den anderen. Da sollen die Leut' einmal sehen, was ein Büttner eigentlich kann machen, der seine Sach' versteht, und was einer kann erwerben, wenn er nur fleißig will arbeiten. Und am Sonntag gehn wir zusammen nach den Felsenkellern, oder zum Tanz wohin. Die Leut' sollen Respekt haben, sie mögen wollen oder nicht. Und wenn wir den Saal hinauf tanzen zusammen – still! ist das nicht ihr Schiebkarren, was so geklirrt kommt vom Ulrichsholz her? Den soll sie mir nicht mehr anrühren. Sie soll nix als kochen zu Haus, und was sie selber sonst will tun. Wenn ich einmal sterb, soll sie denken: so lieb hätt' mich doch kein anderer gehabt! Oh, ich will's schon machen, daß sie den Fritz nicht soll können vergessen. Wie ich aber jetzt nur aufs Sterben komm? Ein Kerl wie ich, da geht's nicht so leicht damit, wie mit einem Schneider, und wenn ich das Annedorle hab', vollends nicht! Ja freilich: wenn ich sie hab'!« –

»Aber das ist sie endlich doch, was dort gefahren kommt? Ja, jetzt im Mondschein. Wie das kurios aussieht. Alles drum 'rum ist finster, und nur das Annedorle und ihr Schiebkarren sind hell. Es ist ordentlich, als wenn sie selber leuchten tät. Und noch ein Arm daneben, und es ist, als deutet der Arm nach mir. Wem der Arm muß gehören? Das wär verwünscht, wär sie wieder nicht allein. Jetzt – ja nu ist's weg. Nu ist's dort wieder so finster wie überall sonst. Aber nunmehr müßt' ich sie doch den Weg sehn kommen daher, wenn auch nicht mehr so deutlich wie vorhin. Oder den dort, wo nach der Herrenmühl' geht. Und klirren hört man auch nix mehr. Die Bauersfrau hat so wunderlich getan. Hat sie's dem Annedorle doch gesagt, daß sie mir ist begegnet und ich hab nach ihr gefragt? und weicht die mir doch mit Fleiß aus? und hat mich da auf dem Steg gesehn? Aber hernachen müßt' sie umgewandt sein und wieder zurück. Oder hab' ich mir's bloß eingebild't, daß ich sie sah? Die Leut' reden von Ahnungen, wie sie's heißen. Soll ich sie nicht kriegen? Dann geh ich übermorgen nach Amerika. Jetzt war's doch, als klirrt was im Gras unter den Erlen her? – Oder – am allerliebsten wär' mir's hernachen, ich stürb', und lieber heint als morgen. Hernachen wollt' ich, es wär' eine Ahnung gewest, und die mich hätt' bedeutet. Da unten das dunkle Wasser unter mir . . .«

Der arme Holders-Fritz! Er hat sie wirklich gesehen; aber er darf's immer für eine Ahnung nehmen, die ihn bedeutet.

Denn nun klirrt es wirklich und laut und hart an ihm auf dem Steg. Er will sich nach dem Klirren wenden, aber ein gewaltiger Stoß reißt ihn um. Er fühlt keinen Halt mehr unter den Füßen. Im Fallen wirkt die Bewegung noch, mit der er sich wenden wollte. Einen Augenblick sieht er das bleiche Gesicht der Heiterethei über sich; so wild und bleich, so rollend die braunen Augen, so gepreßt die vollen Lippen; es ist immer noch schön. So lange hört er ihr schnelles, tiefes, lautes Atmen.

Jetzt spritzt das Wasser um ihn auf. An allen Gliedern faßt es ihn wie mit kalten Händen an. Mit dem ganzen Leibe aufschlagend, fühlt er wieder festen Boden unter sich; ein Schmerz zuckt vom ersten Finger der rechten Hand nach seinem Herzen zu. Das tut noch ein paar wilde Schläge. In seinen Ohren braust es, als läg er unterm Walkmüllerwehr. Um seine Brust ringelt sich pressend eine ungeheuere grüne Schlange; über seine Augen legt sich ein dunkelrotes Tuch. Er schnappt nach Luft, und zieht ein kaltes, schweres nasses, gurgelndes Ding durch den Mund hinein in die tiefste Brust, das er nicht wieder herauszustoßen vermag. Das rote Tuch wird schwarz mit durcheinander wimmelnden gelben Sternen. Der Boden unter seinem Kopfe versinkt, der Kopf nach in eine endlose Tiefe. Und diese eigene Empfindung, die schon in Bewußtlosigkeit übergeht, weiß er, ist die Empfindung, die jeder Mensch kennen lernt, aber keiner mehr als einmal.

Nicht lange, und keine Blase mehr spritzt auf über dem Liegenden. Der Wasserspiegel schließt sich und zeigt gleichmütig der stillen Nacht ihr Bild.


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