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Frau Morse bedurfte nicht ihres scharfen Mutterblicks, um zu lesen, was auf Ruths Antlitz geschrieben stand, als sie heimkehrte. Die Glut, die noch nicht von ihren Wangen gewichen war, erzählte die einfache Geschichte; noch beredter aber waren die großen, strahlenden Augen, die eine unverkennbare innere Herrlichkeit spiegelten.

»Was ist geschehen?« fragte Frau Morse, die geduldig gewartet hatte, bis Ruth zu Bett gegangen war.

»Du weißt also?« fragte Ruth mit bebenden Lippen.

Statt zu antworten, schlang die Mutter ihren Arm um sie und strich ihr sanft liebkosend übers Haar.

»Er sagte nichts«, brach es aus ihr heraus. »Es war nicht meine Absicht, und ich hätte es ihn nie sagen lassen – aber er sagte auch nichts.«

»Aber wenn er nicht gesprochen hat, dann kann doch auch nichts geschehen sein?«

»Und doch ist es.«

»Du lieber Gott, Kind, was redest du da?« Frau Morse war ganz verwirrt. »Ich glaube, ich weiß doch nicht, was geschehen ist. Was ist es denn?«

Ruth sah ihre Mutter erstaunt an.

»Ich glaubte, du wüßtest es. Wir haben uns verlobt, Martin und ich!«

Frau Morse lachte ungläubig und ärgerlich.

»Nein, er hat nichts gesagt«, erklärte Ruth. »Er liebte mich eben, und das war alles. Ich war ebenso erstaunt wie du jetzt. Er sagte nicht ein Wort. Er legte nur seinen Arm um mich. Und ... und ich kannte mich nicht mehr. Und er küßte mich, und ich küßte ihn. Ich konnte es nicht lassen. Ich mußte einfach. Und da wußte ich, daß ich ihn liebte.«

Sie schwieg und wartete gespannt, daß ihre Mutter sie küssen und segnen sollte, aber Frau Morse blieb stumm und kalt.

»Es ist schrecklich, das weiß ich«, begann Ruth wieder mit sinkender Stimme. »Und ich weiß nicht, wie ihr mir je verzeihen wollt. Aber ich konnte nichts dafür. Ich ahnte nicht, daß ich ihn liebte, bis zu dem Augenblick. Und du mußt mit Vater für mich sprechen.«

»Wäre es nicht am besten, Vater gar nichts zu sagen? Laß mich mit Martin Eden sprechen und ihm alles erklären. Er wird es verstehen und dir deine Freiheit wiedergeben.«

»Nein, nein!« rief Ruth und fuhr hoch. »Ich will meine Freiheit nicht wiederhaben. Ich liebe ihn, und es ist süß, zu lieben. Ich will ihn heiraten – wenn ihr mich laßt, natürlich.«

»Wir haben andere Pläne für dich, Ruth, dein Vater und ich – ach nein, nein! Wir haben noch keinen Mann für dich gewählt oder dergleichen. Unsere Pläne gehen nicht weiter, als daß du in deinem eigenen Stande heiraten sollst, einen guten rechtschaffenen Mann, den du selbst wählen magst, wenn du ihn liebst.«

»Aber ich liebe Martin schon«, klagte Ruth.

»Wir wollen deine Wahl in keiner Weise beeinflussen, aber du bist unsere Tochter, und wir könnten es nicht ertragen, dich in einer solchen Ehe zu sehen. Er ist nichts als plump und gewöhnlich, und du bist fein und gebildet. Er ist in keiner Weise eine Partie für dich. Er kann dich nicht erhalten. Wir machen uns keine törichten Vorstellungen von Reichtum, aber Wohlstand ist etwas ganz anderes, und unsere Tochter sollte doch wenigstens einen Mann heiraten, der ihr den geben könnte, nicht einen armen Abenteurer, einen Matrosen, Cowboy, Schmuggler, und der Himmel mag wissen, was sonst – der noch dazu keine Vernunft und kein Verantwortungsgefühl kennt.«

Ruth schwieg. Sie wußte, daß jedes Wort richtig war. »Er vergeudet seine Zeit mit seinen Schreibereien, mit seinen Versuchen, das zu erreichen, was ein Genie oder ein begabter Mann mit akademischer Bildung zuweilen durchführen mag. Ein Mann, der daran denkt, sich zu verheiraten, muß sich darauf vorbereiten. Aber er? Wie gesagt, und ich weiß, daß du darin mit mir einig bist, er hat kein Verantwortungsgefühl. Und warum sollte er auch? So sind eben die Seeleute. Er hat nie Sparsamkeit und Mäßigkeit gelernt. Die Jahre, in denen er ein hohes Spiel mit sich selbst getrieben, haben ihn geprägt. Es ist selbstverständlich nicht seine Schuld, aber das macht ihn nicht anders. Und hast du an das zügellose Leben gedacht, das er in diesen Jahren geführt haben muß? Hast du daran gedacht, mein Kind? Du weißt, was Ehe bedeutet.«

Ruth klammerte sich schaudernd an die Mutter.

»Ich habe daran gedacht«, Ruth wartete eine Weile, daß ihre Gedanken Form annehmen sollten. »Und es ist schrecklich. Der Gedanke daran macht mich krank. Ich sagte ja, es sei furchtbar, aber ich kann nichts dafür. Konntest du dafür, daß du Vater liebtest? Ebenso geht es mir. Es ist etwas in mir, in ihm – bis auf den heutigen Tag habe ich nicht gewußt, daß es da war; aber es ist da, und es zwingt mich, ihn zu lieben. Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn liebte, aber siehst du, ich tue es eben«, schloß sie, und ein leiser Klang von Triumph war in ihrer Stimme.

Sie sprachen lange miteinander, kamen aber zu keinem Ergebnis und einigten sich schließlich dahin, zunächst nichts weiter in der Sache zu tun.

Zu demselben Ergebnis kamen etwas später am Abend Ruths Vater und Mutter, als sie ihm den unglücklichen Ausfall ihres Planes berichtete.

»Es war kaum anders möglich«, lautete Herrn Morses Urteil. »Der junge Seemann ist der einzige Mann, mit dem sie je in Berührung getreten ist. Früher oder später mußte sie erwachen, und jetzt ist sie erwacht. Dieser Seemann war der einzige junge Mann, der für sie erreichbar war, und natürlich mußte sie sich sofort in ihn verlieben oder es sich jedenfalls einbilden, was auf dasselbe herauskommt.«

Frau Morse übernahm es, Ruth langsam und indirekt zu beeinflussen, was ihr besser erschien, als mit ihr zu kämpfen. Sie hatte Zeit genug dazu, denn Martin war nicht in der Lage zu heiraten.

»Laß sie ihn sehen, soviel sie will«, lautete Herrn Morses Rat. »Je mehr sie ihn kennenlernt, desto weniger wird sie ihn lieben, das möchte ich wetten. Und gib ihr Gelegenheit, Vergleiche anzustellen. Zieh junge Leute ins Haus; junge Mädchen und junge Männer – jede Art junger Leute, tüchtige Männer, die etwas erreicht haben und etwas tun. Männer aus ihrem eigenen Stande – gebildete Männer. Sie kann ihn mit ihnen vergleichen, und so wird sie ihn erkennen. Und schließlich ist er ja ein reines Kind, erst einundzwanzig Jahre alt. Ruth ist auch ein Kind. Es ist die reine Backfischschwärmerei, und die verliert sich schon.«

Und dabei blieb es. Im engsten Familienkreise wußte man natürlich, daß Ruth und Martin verlobt waren. Sonst aber wurde die Verlobung nicht veröffentlicht. Die Familie glaubte nicht, daß es je nötig sein würde. Es war auch schweigende Voraussetzung, daß es eine lange Verlobungszeit sein würde. Ruths Eltern forderten nicht, daß Martin arbeiten oder mit Sehreiben aufhören sollte, und er half ihnen und unterstützte sie in ihren unfreundschaftlichen Plänen, denn nichts lag seinen Gedanken ferner als Arbeiten.

»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird, was ich getan habe«, sagte er einige Tage später zu Ruth. »Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es zu teuer ist, bei meiner Schwester zu wohnen, und so will ich mir ein Zimmer mieten und mich selbst beköstigen. Ich habe schon ein Zimmer im Norden von Oakland gefunden – ruhige Nachbarschaft und auch sonst alles in Ordnung, weißt du, und ich habe mir einen Petroleumkocher angeschafft.«

Ruth war begeistert. Namentlich der Petroleumkocher war etwas für sie.

»Das ist die Art, wie Herr Butler anfing«, sagte sie.

Martin ärgerte sich heimlich, daß dieser würdige Mann ins Feld geführt wurde, und fuhr fort: »Ich habe Briefmarken auf alle meine Manuskripte geklebt und sie wieder an die Redaktionen geschickt. Heute ziehe ich ein, und morgen fange ich an zu arbeiten.«

»Du hast eine Stellung!« rief sie, und sie fühlte die frohe Überraschung in ihrem ganzen Körper, schmiegte sich dichter an ihn und drückte ihm lächelnd die Hand. »Und das hast du mir nicht erzählt. Was ist es?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich meinte, ich wollte wieder anfangen zu schreiben.« Ihr froher Ausdruck schwand, und er fuhr hastig fort: »Du darfst mich nicht mißverstehen. Diesmal gehe ich nicht mit allzu strahlenden Erwartungen daran. Es soll ein ganz prosaisches Geschäft werden. Das ist besser, als wieder zur See zu gehen, und ich werde mehr Geld verdienen, als irgendeine Stellung in Oakland einem Manne ohne Vorbildung einbringen kann. Siehst du, die Ferien, die ich mir genommen habe, haben mir Perspektive geschenkt. Ich habe mir nicht die Seele zum Leibe herausgeschunden, und ich habe nichts geschrieben – wenigstens nichts, was für die Öffentlichkeit berechnet ist. Ich habe nichts getan, als dich geliebt und nachgedacht. Ich habe auch etwas gelesen, aber das war ein Teil meines Denkens und bestand hauptsächlich aus Zeitschriften. Ich habe allgemeine Betrachtungen angestellt über mich selbst und die Welt und die Möglichkeit, eine Stellung zu erringen, die deiner würdig wäre. Und dann habe ich Spencers ›Philosophie des Stils‹ gelesen und ein ganz Teil gelernt, was mit mir – oder vielmehr mit meiner Schreiberei los war; und übrigens mit dem meisten, was jeden Monat in den Zeitschriften steht.

Aber das Ergebnis von allem – von meinem Denken, Lesen und Lieben ist, daß ich jetzt Semmeln backen werde – Witze, Anekdoten, Skizzen, humoristische Verse und all den Unsinn, nach dem anscheinend eine so große Nachfrage herrscht. Es gibt ja die großen Zeitungskorrespondenzen, Korrespondenzen für Kurzgeschichten und Korrespondenzen für Sonntagsbeilagen. Ich will ihnen den Stoff liefern, den sie brauchen, und soviel verdienen, daß es einem sehr guten Lohn entspricht. Es gibt Leute, die mit derartiger Zufallsarbeit vier- bis fünfhundert Dollar monatlich verdienen. Ich will nicht mit ihnen wetteifern, aber ich will mir ein ordentliches Einkommen schaffen und dabei viel Zeit zu meiner Verfügung haben, was in einer festen Stellung nicht möglich ist. In meiner freien Zeit kann ich dann studieren und die richtige Arbeit tun. Zwischendurch will ich versuchen, Meisterwerke zu schaffen. Ich bin direkt erstaunt, wie weit ich schon gekommen bin! Als ich anfing zu schreiben, hatte ich keinen Stoff außer einigen jämmerlichen Erlebnissen, die ich weder verstand noch richtig einschätzte. Aber ich hatte keine Gedanken. Mir fehlten selbst die Worte, um zu denken. Meine Erlebnisse waren Bilder ohne Sinn und Zusammenhang. Als ich aber begann, mein Wissen und meinen Wortschatz zu erweitern, da sah ich, daß meine Erlebnisse mehr waren als bloße Bilder. Damals begann ich gute Sachen zu schreiben: ›Abenteuer‹, ›Freude‹, ›Der Topf‹, ›Der Wein des Lebens‹, ›Liebeszyklus‹ und ›Seelyrik‹. Ich will weiter solche und bessere Dinge schreiben, aber in meiner freien Zeit. Jetzt stehe ich mit den Füßen auf der Erde. Zuerst Gelegenheitsarbeit und Einkünfte – dann Meisterwerke. Ich kann dir ein paar Verse zeigen, die ich für ein Witzblatt gemacht habe – ich hatte die Idee gestern im Bett, und ehe eine Stunde vergangen war, hatte ich vier Gedichte geschrieben. Sie müssen mir einen Dollar das Stück einbringen. Vier Dollar auf den Tisch für einen Einfall, der mir kam, als ich zu Bett ging.

Natürlich ist es ganz wertlos – langweilige und schmutzige Arbeit, aber nicht langweiliger und schmutziger, als wenn ich für sechzig Dollar monatlich Bücher führte oder bis zum jüngsten Tage endlose Reihen von sinnlosen Zahlen addierte. Dazu bleibe ich bei dieser Gelegenheitsarbeit in Berührung mit meiner literarischen Beschäftigung, und sie läßt mir Zeit für die größeren Dinge.«

»Aber was haben die größeren Dinge für einen Zweck?« fragte Ruth. »Du kannst sie ja nicht verkaufen.«

»O doch«, begann er, aber sie unterbrach ihn.

»Von all den Erzählungen, die du nanntest, und die du selbst gut findest, hast du ja nicht eine einzige verkauft. Wir können uns doch nicht auf unverkäufliche Meisterwerke hin verheiraten.«

»Nein, aber wir können uns auf die kleinen Gedichte zu einem Dollar das Stück hin verheiraten«, erklärte er mutig, während er den Arm um sie legte und sie an sich zu ziehen versuchte. Aber sie entwand sich ihm und sah ihn mit ernstem traurigen Blick an.

»Und das ist der Lohn eines Narren, eines Clowns. Siehst du denn nicht, Martin, daß das furchtbar entwürdigend ist? Der Mann, den ich liebe, soll etwas Besseres sein als ein Spaßmacher und Verseschmied.«

»Du möchtest, daß er wie ... sagen wir, wie Herr Butler ist?« meinte er.

»Ich weiß, daß du Herrn Butler nicht leiden magst«, begann sie.

»Ich habe an Herrn Butler nichts auszusetzen«, unterbrach er sie. »Sein einziger Fehler ist sein schlechter Magen. Aber du kannst mich totschlagen, wenn ich einen Unterschied darin sehen soll, ob man Witze und humoristische Dinge schreibt oder stenographiert und Bücher führt. Das eine ist ebensogut wie das andere, ein Mittel zum Zweck. Deine Theorie lautet, daß ich damit anfangen soll, Bücher zu führen, um mit der Zeit ein großer Rechtsanwalt oder Geschäftsmann zu werden. Meine lautet, daß ich mit Kleinarbeit beginne und mich zu einem tüchtigen Schriftsteller entwickeln will.«

»Aber es ist doch ein Unterschied«, beharrte sie.

»Wieso?«

»Doch. Deine gute Arbeit – die du selbst gut nennst – kannst du nicht verkaufen. Du hast es versucht – das weißt du selbst – aber die Redakteure wollten sie nicht kaufen.«

»Laß mir Zeit, Liebste,« bat er, »die Gelegenheitsarbeit ist nur ein Notbehelf, und ich nehme sie selbst nicht ernst. Laß mir zwei Jahre Zeit. Bis dahin habe ich mich durchgesetzt, und die Redakteure werden mir meine guten Arbeiten abnehmen. Ich weiß, was ich sage, und ich glaube an mich. Ich weiß, was in mir steckt; und jetzt weiß ich auch, was Literatur ist; ich kenne den Unsinn, der von einer Schar kleiner Männer in die Welt hinausgeschickt wird, und ich weiß, daß ich in zwei Jahren auf dem sicheren Wege zu Ansehen und Wohlstand sein werde. Im Geschäft würde ich nie Erfolg haben. Ich habe kein Interesse dafür, und es erscheint mir langweilig, dumm und voller Eigennutz und Winkelzüge. Jedenfalls eigne ich mich nicht dazu. Ich würde es nie weiter bringen als bis zum gewöhnlichen Kontoristen, und wie könntest du mit den jämmerlichen Einnahmen eines Kontoristen glücklich sein? Ich will dir das Beste schaffen, was es in der Welt gibt. Und ich werde es schon so weit bringen. Neben den Einnahmen eines erfolgreichen Schriftstellers nehmen sich selbst die von Herrn Butler ganz jämmerlich aus. Ein Prominenter kann fünfzig- bis hunderttausend Dollar verdienen – manchmal mehr, meistens aber so in der Höhe.«

Sie verharrte in ihrem Schweigen – ihre Enttäuschung war offenbar.

»Nun?« fragte er.

»Ich hatte andere Hoffnungen und Pläne. Ich hatte gedacht und denke es noch, das beste, was du tun könntest, wäre, Stenographie zu lernen – Maschineschreiben kannst du ja schon – und in Vaters Bureau zu kommen. Du bist nicht dumm, und ich bin ganz sicher, daß du eine Zukunft als Rechtsanwalt haben würdest.«

* * *

 


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