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Am nächsten Morgen erwachte er aus seinen rosigen Träumen in einer Atmosphäre von Dampf, Seifengeruch und schmutziger Wäsche, einer Atmosphäre, die unter den schreienden Disharmonien eines zerquälten Lebens zitterte. Als er sein Zimmer verließ, hörte er ein Plätschern von Wasser und ein gereiztes, von einem Schlage gefolgtes Schelten: seine Schwester ließ ihren Zorn an einem ihrer vielen Kinder aus. Das Schreien des Kindes durchbohrte ihn wie ein Messer. Er war sich bewußt, daß das alles, ja selbst die Luft, die er einatmete, unendlich niedrig und widerwärtig war. Wie anders, dachte er, ist doch die Atmosphäre von Schönheit und Ruhe in dem Heim, in dem Ruth wohnt. Dort ist alles Geist, hier Materie, elende Materie.

»Komm her, Alfred!« rief er dem weinenden Kinde zu und griff gleichzeitig in die Hosentasche, wo er sein Geld hatte. Er hatte es stets dort lose, überlegen und gleichgültig, wie er immer und überall im Leben war. Dann steckte er dem kleinen Burschen ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück in die Hand und hielt ihn einen Augenblick in seinen Armen, bis er aufgehört hatte zu schluchzen. »So, jetzt läufst du hin und kaufst dir Malzbonbons, und gib deinen Geschwistern auch etwas ab. Aber paß auf, daß du die kriegst, die am längsten anhalten.«

Seine Schwester hob ihr warmes rotes Gesicht vom Waschzuber und sah ihn an.

»Zehn Cent wären mehr als genug gewesen«, sagte sie. »Aber das sieht dir ähnlich, kein Begriff von Geldeswert. Das Kind überfrißt sich ja nur.«

»Laß nur, Trudel,« sagte er gutmütig, »das Geld reicht schon noch. Wenn du nicht so viel zu tun hättest, würde ich dir einen Gutenmorgenkuß geben.«

Er wäre gern liebevoll zu seiner Schwester gewesen, die gut war und ihn, wie er wußte, auf ihre Art liebte. Aber sie war gleichsam mit den Jahren immer weniger sie selbst geworden, und es war schwer, aus ihr klug zu werden. Die schwere Arbeit, die vielen Kinder und das ewige Schelten des Mannes hatten sie verändert. Ihm schien plötzlich, als wäre über ihr ganzes Wesen etwas von dem gekommen, was über dem welken Gemüse, dem übelduftenden Seifenwasser und dem schmutzigen Kleingeld lag, das sie am Ladentisch einnahm.

»Geh hinein und frühstücke«, sagte sie verdrießlich, obwohl sie sich innerlich über seine Bemerkung freute, denn von all ihren Brüdern war er immer ihr Liebling gewesen.

»Aber deshalb will ich nun doch einen Kuß von dir haben«, sagte sie in einem Anfall von Zärtlichkeit.

Mit Daumen und Zeigefinger strich sie sich den Seifenschaum zuerst vom einen Arm und dann vom andern. Er legte die Arme um ihren starken Leib und küßte ihre naßkalten Lippen. Sie bekam Tränen in die Augen, nicht weil sie so viel dabei fühlte, sondern weil sie von der ewigen Anstrengung geschwächt war. Sie schob ihn von sich, aber nicht, ehe er ihre tränengefüllten Augen gesehen hatte.

»Nimm dir selbst das Essen aus dem Ofen«, sagte sie hastig. »Jim wird jetzt auch aufgestanden sein. Ich mußte selbst wegen des Essens früh aufstehen. Aber mach', daß du aus dem Hause kommst, sobald du kannst. Tom ist gegangen, und kein anderer kann den Wagen fahren als Bernard. Das wird nicht angenehm.«

Martin ging schweren Herzens in die Küche, während das Bild ihres roten Gesichtes und ihrer vernachlässigten Person sich wie ätzende Säure in sein Hirn fraß. Sie könnte ihn vielleicht lieben, wenn sie nur Zeit dazu gehabt hätte, sagte er bei sich. Aber sie arbeitete sich tot. Bernard Higginbotham war ein Tier, daß er sie sich so abrackern ließ. Andererseits hatte er doch gefühlt, daß nichts Schönes in dem Kuß gewesen war. Es war richtig, es war an sich etwas Ungewöhnliches. Seit vielen Jahren hatten sie sich nur geküßt, wenn er von einer Fahrt zurückkam oder eine Fahrt antreten sollte. Aber der Kuß hatte nach Seifenschaum geschmeckt, und er hatte bemerkt, daß ihre Lippen so seltsam schlaff waren. Es war kein schneller, kräftiger Druck von Lippe zu Lippe gewesen, wie ein Kuß sein sollte. Sie hatte ihn geküßt wie ein müdes Weib, das solange müde gewesen ist, daß sie zu küssen vergessen hat. Er dachte daran, wie sie als junges Mädchen gewesen war, als sie nach hartem Tagewerk in der Wäscherei ganze Nächte hindurch tanzen konnte und sich nicht im geringsten fürchtete, direkt vom Ball an die Plackerei des neuen Tages zu gehen. Und dann dachte er an Ruth und an die kühle Süße, die über ihren Lippen sein mußte, wie sie über ihrem ganzen Wesen lag. Ihr Kuß mußte wie ihr Händedruck oder wie ihr Blick sein, fest und freimütig. In Gedanken wagte er es, sich ihre Lippen auf den seinen vorzustellen, und so lebhaft war seine Einbildungskraft, daß ihm in Gedanken schwindelte und er ein Gefühl hatte, als triebe er dahin durch Wolken von Rosenblättern, die sein Hirn mit ihrem Duft füllten.

In der Küche fand er Jim, den andern Pensionär, der sehr langsam und widerstrebend, mit einem müden, schlaffen Ausdruck in den Augen, Grütze aß. Jim war ein Klempnerlehrling, dessen schwaches Kinn und zu Ausschweifungen neigendes Temperament nebst einem gewissen nervösen Stumpfsinn seine Aussichten im Kampf um das tägliche Brot nicht sehr rosig erscheinen ließen.

»Warum ißt du nicht?« fragte er, als Martin melancholisch in der kalten, halbgaren Grütze zu rühren begann. »Warst du gestern abend wieder besoffen?«

Martin schüttelte den Kopf. Er war niedergeschlagen durch diese ganze, unsagbar schmutzige Umgebung. Der Abstand zwischen ihm und Ruth Morse schien ihm weiter als je.

»Ich war es«, fuhr Jim mit einem prahlerischen, nervösen Kichern fort. »Ich war total besoffen. Oh, ich hatte mächtig einen sitzen! Billy brachte mich nach Hause.«

Martin nickte, zum Zeichen, daß er gehört hatte – er besaß die angeborene Gewohnheit, alles zu hören, was man ihm erzählte – und goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein.

»Gehst du heute abend in den Lotus-Klub tanzen?« fragte Jim. »Es wird frisch angestochen, und wenn die ganze Bande aus Temescal kommt, setzt es sicher was. Mir ist es schnuppe. Ich gehe gerade mit meiner Kleinen hin. Pfui Teufel, was für einen Geschmack ich im Munde habe!«

Er schnitt ein Gesicht und versuchte den schlechten Geschmack mit Kaffee hinunterzuspülen.

»Kennst du Julia?« Martin schüttelte den Kopf.

»Das ist meine Kleine,« erklärte Jim, »und sie ist famos. Ich würde dich ihr vorstellen, aber du würdest sie mir bloß ausspannen. Ich verstehe nicht, was die Weiber an dir sehen, wahrhaftig, aber es ist geradezu ekelhaft, wie du sie den andern wegschnappst.«

»Ich hab' dir nie eine weggeschnappt«, antwortete Martin gleichgültig. Er mußte ja sehen, das Frühstück irgendwie hinunterzubekommen.

»Das hast du doch«, ereiferte sich der andere. »Denkst du nicht mehr an Maggie?«

»Hab' nie mit ihr zu tun gehabt, nie mit ihr getanzt, außer an dem einen Abend.«

»Ja eben!« rief Jim. »Du hast nur mit ihr getanzt und sie angeguckt. Das war alles. Natürlich hast du dir nichts dabei gedacht, aber für mich genügt es. Sie wollte mich nicht mehr ansehen, fragte nur nach dir. Sie war ganz toll darauf, dich wiederzutreffen, wenn du nur gewollt hättest.«

»Aber ich wollte nicht.«

»War gar nicht nötig. Ich hatte jedenfalls meinen Laufpaß.« Jim blickte ihn bewundernd an. »Wie stellst du das bloß an, Mart?«

»Ich mache mir nichts aus ihnen«, lautete die Antwort.

»Das heißt, du läßt sie glauben, daß du dir nichts aus ihnen machst?« forschte Jim eifrig.

Martin bedachte sich einen Augenblick, dann antwortete er: »Ja, das vielleicht auch, aber es ist doch wohl noch anders. Ich hab' mir nie was aus ihnen gemacht ... jedenfalls nicht viel. Wenn du es ebenso machst, wird es vielleicht auch gehen.«

»Du hättest gestern abend bei Riley sein sollen«, sagte Jim ganz unvermittelt. »Verschiedene von den Jungens gingen in den Ring. Da war ein Prachtkerl aus West-Oakland. Sie nannten ihn ›die Ratte‹. Glatt wie'n Aal. War nicht zu packen. Wir hätten alle gewünscht, daß du dagewesen wärst. Wo warst du eigentlich?«

»In Oakland«, erwiderte Martin.

»Im Theater?«

Martin schob den Teller zurück und stand auf.

»Kommst du heute abend zum Tanzen?« rief Jim ihm nach.

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete er.

Er ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein. In der Atmosphäre oben war er schon am Ersticken gewesen, und das Geschwätz des Klempnerlehrlings hatte ihn verrückt gemacht. Er hatte sich zusammennehmen müssen, um sich nicht vorzubeugen und Jims Gesicht in den Grützeteller zu tauchen. Je mehr der schwatzte, desto ferner schien ihm Ruth. Wie konnte er, der mit solchem Vieh verkehrte, ihrer je würdig werden? Er war erschrocken über das Problem, dem er gegenüberstand, und seine Zugehörigkeit zu der arbeitenden Klasse drückte ihn tief nieder. Alles kam zusammen, um ihn untenzuhalten: seine Schwester, deren Haus und Familie, der Lehrling Jim, jeder, den er kannte, alles, was ihn mit diesem Leben verknüpfte. Das Leben schmeckte ihm nicht mehr. Bis jetzt hatte er es so, wie er und seine Umgebung es lebten, als etwas Gutes hingenommen. Er hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, außer wenn er Bücher las; freilich waren diese Bücher nur Märchen, Märchenbücher von einer schöneren, unmöglichen Welt. Aber jetzt hatte er diese Welt als etwas Mögliches und Wirkliches gesehen, noch dazu mit einer Blume von Weib namens Ruth als Mittelpunkt; und von jetzt an mußte er den bitteren Geschmack schmerzender Sehnsucht und eine Hoffnungslosigkeit spüren, die ihn um so schlimmer quälte, als sie immer wieder von seiner Hoffnung genährt wurde.

Er hatte zwischen den Volksbibliotheken von Berkeley und Oakland geschwankt und entschloß sich für die Oakländer, weil Ruth in Oakland wohnte. Wer konnte es wissen? – Eine Bibliothek war ein Ort, wo sie zu Hause war, und vielleicht traf er sie dort. Er wußte nicht Bescheid in Bibliotheken, und er wanderte an endlosen Bücherreihen vorbei, bis das junge Mädchen mit den feinen französischen Zügen, das anscheinend die Aufsicht über die Abteilung führte, ihm erzählte, daß die Handbücherei sich oben befand. Er war zu unbewandert, um den Mann am Tische zu fragen, und machte seine ersten Versuche in der philosophischen Abteilung. Er hatte wohl von Philosophie gehört, aber nicht gedacht, daß so viel darüber geschrieben war. Die hohen, sich unter der Last der schweren Bände biegenden Regale demütigten ihn und spornten ihn gleichzeitig an. Hier gab es doch eine Arbeit, die noch Kopfzerbrechen lohnte. In der mathematischen Abteilung fand er Bücher über Trigonometrie, und er überlief hastig die Seiten und starrte auf die sinnlosen Formeln und Figuren. Englisch konnte er lesen, aber die Sprache, die er hier sah, war ihm völlig fremd. Norman und Arthur kannten diese Sprache. Er hatte sie sie reden hören. Und sie waren ihre Brüder. Verzweifelt verließ er die Regale. Es war, als ob die Bücher von allen Seiten auf ihn einstürmten und ihn unter sich begruben. Nie hatte er sich träumen lassen, daß die Grundlage menschlichen Wissens so breit sei. Er war erschrocken. Wie sollte sein Kopf je damit fertig werden? Später fiel ihm ein, daß andere Männer, viele Männer, damit fertig geworden waren; und mit unterdrückter Leidenschaft schwor er einen wilden Eid, daß sein Kopf auch schaffen sollte, was der ihre geschafft hatte. Und so ging er denn, zwischen Entmutigung und Entzücken schwankend, weiter und starrte auf die von Gelehrsamkeit strotzenden Regale. Auf einem, das verschiedenartige Literatur enthielt, stieß er auf ein Exemplar von »Norries Epitome«. Er durchblätterte es ehrfurchtsvoll. Irgendwie redete es eine verwandte Sprache. Er und das Buch, sie beide gehörten dem Meere an. Dann fand er einen Band von Bowditch sowie Bücher von Leckey und Marshall. Da wußte er es: er wollte selbst Navigation lernen. Er wollte kein Glas mehr anrühren, wollte arbeiten und Kapitän werden. Ruth schien ihm in diesem Augenblick ganz nahe. Als Kapitän konnte er sie heiraten (wenn sie ihn haben wollte), und wenn sie nicht wollte, nun ja, dann wollte er um ihretwillen als Mann unter Männern leben und jedenfalls nicht mehr trinken. Dann fielen ihm die Assekuradeure und Reeder ein, die zwei Herren, denen ein Kapitän dienen muß, wenn er sich nicht den Hals brechen will, und deren Interessen sich strikte zuwiderlaufen. Er blickte sich im Raume um, schloß die Augen und sah all die zehntausend Bücher vor sich. Nein, er wollte nichts mehr mit der See zu tun haben. In diesem Überfluß von Büchern war Macht, und wenn er Großes verrichten wollte, so mußte er es zu Lande. Übrigens durfte ein Kapitän auch seine Frau nicht an Bord nehmen.

Es wurde Mittag, und es wurde Nachmittag. Er vergaß zu essen und suchte weiter nach Büchern über den guten Ton, denn außer seiner Sorge um seine Laufbahn quälte ihn ein einfaches und ganz gegenständliches Problem. Wie bald kann man einen Besuch wiederholen, wenn eine junge Dame einen dazu auffordert? Das waren die Worte, in die er es kleidete. Als er aber das betreffende Regal fand, suchte er vergebens nach Antwort. Er erschrak über das riesige Gebäude der Etikette und verlor sich in einem Labyrinth von Regeln über den Gebrauch von Visitenkarten in der guten Gesellschaft. Er gab es auf, weiter zu suchen. Er hatte nicht gefunden, was er brauchte; das einzige, was er fand, war, daß es einen Menschen ganz in Anspruch nahm, wenn er nach den Regeln der Höflichkeit leben wollte, und daß er zunächst genug damit zu tun hatte, sich der Vorbereitung zu einem solchen Leben zu widmen.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte ihn der Mann am Pult, als er ging.

»Ja«, antwortete er. »Sie haben eine sehr schöne Bibliothek.«

Der Mann nickte. »Wir würden uns freuen, wenn Sie öfter wiederkämen. Sind Sie Seemann?«

»Ja«, antwortete er. »Und ich komme wieder.«

»Woher weiß er das nun?« fragte er sich, als er die Treppe hinunterschritt.

Und bis zur nächsten Straßenecke ging er sehr steif und linkisch, dann aber verlor er sich in Gedanken und verfiel wieder in seinen natürlichen, wiegenden Gang.

* * *

 


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