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»Die erste Schlacht ist verloren«, sagte Martin, als er sich zehn Tage später im Spiegel betrachtete. »Aber es kommt eine zweite und eine dritte; Schlachten ohne Ende, wenn nicht ...«

Er beendete den Satz nicht, sondern sah sich in dem kleinen Zimmer um und ließ den Blick betrübt auf einem Stapel zurückgesandter Manuskripte weilen, die, noch in ihren langen Umschlägen, in einer Ecke auf dem Fußboden lagen. Er hatte keine Briefmarken, um sie weiter zu verschicken, und seit einer Woche hatten sie sich hier angehäuft. Morgen und übermorgen kamen weitere, und immer mehr, bis alle wieder da waren. Er schuldete einen Monat Miete für die Schreibmaschine und konnte nicht bezahlen, denn er hatte die letzte Woche kaum genug für Kost und Logis und für die Einschreibegebühr beim Arbeitsnachweis gehabt.

Er setzte sich und blickte nachdenklich auf den Tisch. Es waren Tintenflecke darauf, und er merkte plötzlich, daß er diesen Tisch liebte.

»Lieber, alter Tisch,« sagte er, »ich habe manche glückliche Stunde an dir verbracht, und alles in allem bist du mir ein guter Freund gewesen. Du hast mir nie den Mut genommen, mir nie ein Untauglichkeitsattest ausgestellt, dich nie bei mir über zuviel Arbeit beklagt.«

Er legte die Arme auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. Seine Kehle schmerzte ihn, und er hätte am liebsten geweint. Er mußte an seine erste Prügelei denken, als er, der sechsjährige, trotz aller Gegenwehr von dem andern, zwei Jahre älteren Jungen bis zur völligen Erschöpfung geprügelt worden war. Er sah den ganzen Kreis von Jungen, die wie die Barbaren heulten, als er endlich, sich vor Übelkeit windend, zu Boden stürzte, während das Blut ihm aus der Nase rann, und die Tränen aus den zerschlagenen Augen strömten.

»Armer kleiner Kerl,« murmelte er, »und jetzt ist es dir ebenso schlecht ergangen. Jetzt bist du wieder zu Brei geschlagen. Erledigt.«

Und wie er noch das Bild dieses ersten Kampfes vor sich sah, löste es sich auf und wich dem einer Reihe neuer Schlägereien, die der ersten gefolgt waren. Ein halbes Jahr später hatte ihn Käsgesicht (so hieß der Knabe) wieder geprügelt. Aber diesmal hatte er Käsgesicht auch ein blaues Auge versetzt. Das war doch immerhin etwas. Er sah eine Prügelei nach der andern, immer bekam er Prügel, und immer triumphierte Käsgesicht über ihn. Aber nie war er weggelaufen. Er war geblieben und hatte seine Medizin genommen. Käsgesicht war ein wüster Draufgänger und hatte ihm nie die geringste Barmherzigkeit erwiesen. Aber er war nicht gewichen. Er hatte ausgehalten.

Dann sah er eine enge Gasse zwischen verfallenen Fachwerkbauten. Das Ende der Gasse war von einem einstöckigen Ziegelbau versperrt, aus dem das rhythmische Poltern der Maschinen ertönte, wenn sie die erste Ausgabe des Enquirer fertigstellten. Er war elf Jahre alt und Käsgesicht dreizehn, und beide trugen den Enquirer aus. Daher standen sie hier und warteten auf ihre Zeitungen. Selbstverständlich war Käsgesicht wieder über ihn hergefallen, und eine neue Prügelei hatte begonnen, die aber unentschieden blieb, weil die Druckerei um dreiviertel vier aufgerissen wurde und die Knaben hineinströmten, um ihre Zeitungen zu falzen.

»Morgen kriegst du deine Dresche«, hörte er Käsgesicht sagen, und er hörte seine eigene Stimme, keuchend und von unterdrückten Tränen zitternd, sagen, daß er zur Stelle sein würde.

Und dann kam der nächste Tag, an dem er von der Schule heimeilte, um zwei Minuten vor Käsgesicht dazusein. Die andern Jungen sagten, er würde es schon machen, gaben ihm gute Ratschläge und versprachen ihm den Sieg, wenn er ihnen folgte. Aber dieselben Jungen hatten auch Käsgesicht beraten. Wie sie doch die Prügelei genossen! Martin hielt einen Augenblick in seinen Erinnerungen inne und beneidete sie wegen des Anblicks, den er und Käsgesicht geboten hatten. Dann hatte die Schlägerei begonnen. Sie hatte eine halbe Stunde ohne Aufhören gedauert, bis die Tür der Druckerei geöffnet wurde.

Er sah sich weiter in seiner Jugend, wie er Tag für Tag aus der Schule heim und dann in die Gasse eilte, wo die Druckerei des Enquirer lag. Das Gehen wurde ihm schwer. Er war steif von der ewigen Prügelei. Seine Arme waren vom Handgelenk bis zum Ellbogen blau von den vielen parierten Schlägen, und hin und wieder reagierte das gepeinigte Fleisch sogar durch Beulen. Kopf und Schultern schmerzten, sein Rücken schmerzte, der ganze Körper schmerzte, und sein Gehirn war schlaff und wirr. Er spielte nicht mehr in der Schule und tat auch nichts in den Stunden. Schon daß er den ganzen Tag still an seinem Pulte sitzen mußte, war eine Qual. Ihm schienen Jahrhunderte vergangen, seit diese täglichen Schlägereien begonnen hatten, und die Zukunft wuchs mit neuen Schlägereien wie ein Alp ins Unendliche. Warum kann ich Käsgesicht nicht verprügeln, dachte er oft, das würde mich von allem Elend befreien. Es fiel ihm nie ein, sich nicht mehr zu wehren und sich von Käsgesicht verprügeln zu lassen.

Und so schleppte er sich denn Tag für Tag, krank an Leib und Seele, in die Gasse, um seinem ewigen Feinde Käsgesicht zu begegnen, der ebenso elend wie er selbst war und ebenso gern aufgehört hätte, würde nicht die ganze Schar der Zeitungsjungen zugesehen und den Stolz zu einer peinlichen Angelegenheit gemacht haben. Als sie eines Nachmittags zwanzig Minuten lang verzweifelte Anstrengungen gemacht hatten, sich nach den festgesetzten Regeln zu verhauen, die es verboten, zu treten, unterhalb des Gürtels zu treffen oder auf den andern loszuschlagen, wenn er am Boden lag, rief Käsgesicht stöhnend und wankend, ob sie jetzt nicht quitt sein könnten. Und Martin, der jetzt, den Kopf auf die Arme gelegt, dasaß, wurde von dem Bilde durchschauert, das er vor sich sah, wie er an jenem Nachmittag vor langer Zeit, selbst wankend und stöhnend und halb erstickt von dem Blut, das ihm von den zerrissenen Lippen in Mund und Hals lief, auf Käsgesicht zutaumelte, einen Mund voll Blut ausspie und, sobald er ein Wort herausbringen konnte, rief, sie würden nie quitt sein, aber Käsgesicht könne sich ja ergeben, wenn er wolle. Aber Käsgesicht ergab sich nicht, und die Prügelei nahm ihren Fortgang.

Der nächste Tag und die folgenden endlosen Tage waren Zeugen derselben ewigen Nachmittagsprügelei. Jeden Tag, wenn er die Arme hob, um loszuschlagen, schmerzten sie wahnsinnig, und die ersten Schläge, die er austeilte oder empfing, legten seine Seele auf die Folterbank, dann aber begann er gefühllos zu werden und kämpfte weiter, während er wie im Traum das große Gesicht Käsgesichts mit den brennenden tierischen Augen auf- und niederhüpfen sah. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf dies Gesicht – alles andere war für ihn wirbelnde Leere. Es gab nichts in der Welt außer diesem Gesicht, und er fand keine Ruhe, ehe er es nicht mit seinen blutenden Fäusten zerschmettert, oder ehe nicht die blutigen Fäuste, die zu diesem Gesicht gehörten, ihn zerschmettert hatten. Erst dann gab es Frieden. Aber aufhören – aufhören, er, Martin! – unmöglich.

Dann kam der Tag, da er sich zur Druckerei des Enquirer schleppte und kein Käsgesicht da war. Es kam auch kein Käsgesicht. Die andern Jungen beglückwünschten ihn und sagten, er hätte Käsgesicht endgültig geschlagen. Aber er war nicht befriedigt. Weder hatte er Käsgesicht noch hatte Käsgesicht ihn besiegt. Das Problem war nicht gelöst. Erst später erfuhr er, daß Käsgesichts Vater an diesem Tage ganz plötzlich gestorben war.

Dann übersprang Martin die Jahre bis zu der Nacht auf der Galerie im Theater. Er war siebzehn Jahre alt und eben von See zurückgekehrt. Es gab Streit. Ein Bursche legte sich mit einem andern an, und als Martin vermitteln wollte, sah er plötzlich in die blitzenden Augen Käsgesichts.

»Nach der Vorstellung werde ich mit dir abrechnen«, fauchte sein alter Feind.

Martin nickte. Der Aufseher näherte sich der Stelle, wo es Lärm gab.

»Nach dem letzten Akt treffen wir uns draußen«, flüsterte Martin, während seine Miene nur ungeteiltes Interesse für den Tanz auf der Bühne zeigte. Der Aufseher machte ein wütendes Gesicht und entfernte sich. »Hast du eine Bande?« fragte er Käsgesicht, als der Akt vorbei war.

»Und ob!«

»Dann muß ich auch sehen, eine zu kriegen«, verkündete Martin.

In der Pause hielt er eine Ansprache an sein Gefolge, die drei jungen Leute, die er aus der Nägelfabrik kannte, einen Eisenbahnheizer, ein Dutzend Burschen von der Boo-Bande und ebenso viele von der gefürchteten Eighteenth-and-Market-Bande.

Nach Schluß des Theaters zogen die beiden Banden ganz unbemerkt je auf einem Bürgersteig durch die Straßen, bis sie an eine stille Ecke kamen, wo sie zusammentrafen, um Kriegsrat zu halten.

»Die Eighth-Street-Brücke ist der rechte Ort«, sagte ein rothaariger Bursche, der zu Käsgesichts Partei gehörte. »Ihr könnt euch mitten darauf unter dem elektrischen Licht schlagen, und wenn die Polente von einem Ende kommt, könnt ihr euch immer nach dem andern wegmachen.«

»Also einverstanden«, sagte Martin, nachdem er sich mit dem Anführer seiner eigenen Bande beraten hatte. Die Eighth-Street-Brücke, die über einen Arm der San-Antonio-Mündung führte, war so lang wie drei gewöhnliche Brücken zusammen, und an beiden Enden befanden sich elektrische Bogenlampen. Kein Polizist konnte unbemerkt an den Lampen vorbeikommen. Es war der sicherste Ort für diese Prügelei, die jetzt wieder so lebendig vor Martins Augen stand. Er sah die beiden Banden finster und kampfbereit, jede um ihren Anführer geschart, getrennt dastehen, und er sah sich und Käsgesicht den Oberkörper entblößen. Etwas weiterhin standen zwei Mann Schmiere, um die erleuchteten Brückenenden zu beobachten. Ein Mann von der Boo-Bande hielt Martins Jacke, Hemd und Mütze, bereit, damit zu verschwinden, falls die Polizei einschreiten sollte. Martin sah sich selbst in die Mitte treten, Käsgesicht gegenüberstehen und warnend die Hand heben und hörte sich sagen:

»Hier gibt's kein Händeschütteln, verstanden? Hier geht's aufs Ganze. Es ist eine alte Geschichte, und wir schlagen uns, bis einer am Boden liegt, verstanden? Einer von uns muß erledigt werden!«

Käsgesicht wollte Einwände erheben – das sah Martin wohl –, aber sein alter Stolz war gereizt, und die zwei Banden standen dabei und sahen zu.

»Also los, komm!« antwortete er. »Was soll das Schwatzen? Ich bin dabei!«

Dann gingen sie aufeinander los wie zwei junge Stiere, in ihrer ganzen strahlenden Jugend, mit bloßen Fäusten, im Herzen Haß und den Wunsch, zu verletzen, zu verstümmeln, zu vernichten. All die qualvollen Jahrtausende, die der Mensch seit der Urzeit emporgeklommen war, waren vergessen. Nur das elektrische Licht blieb, ein Meilenstein auf dem Wege des großen menschlichen Abenteuers. Martin und Käsgesicht waren zwei Wilde aus der Steinzeit, aus den Höhlen und Baumwohnungen. Immer tiefer sanken sie in dem schlammigen Abgrund auf den Grund des Anfangs alles Lebens zurück, blind kämpfend, wie der Sternennebel in den Himmeln kämpft, wie Atome kämpfen, zusammenprallend, zurückgeschleudert und wieder und ewig zusammenprallend.

»Herrgott! Wir waren Tiere – wilde Bestien!« murmelte Martin, während er den Kampf verfolgte. Seine blendende Einbildungskraft zeigte ihn ihm wie einen Film. Er war gleichzeitig Zuschauer und Teilnehmer. Die langen Monate verfeinerter Kultur ließen ihn schaudern; dann aber verschwand die Gegenwart aus seinem Bewußtsein, die Geister der Vergangenheit überwältigten ihn, und er war wieder der Martin Eden, der soeben von See zurückgekehrt war und sich mit Käsgesicht auf der Eighth-Street-Brücke schlug. Er litt und stritt, schwitzte und blutete und triumphierte, wenn seine Fäuste trafen.

Sie waren wie zwei Wirbelstürme von Haß, die sich mit ungeheurer Gewalt umeinander drehten. Die Zeit verstrich, und die zwei feindlichen Banden wurden sehr still. Noch nie hatten sie eine solche Wildheit und Heftigkeit gesehen, und das machte sie stumm, denn sie sahen, daß die beiden Gegner noch größere Bestien waren als sie selbst. Plötzlich fühlte Martin, daß seine Backe bis zum Knochen aufgerissen wurde. Das konnten nicht bloße Fäuste allein getan haben. Er hörte ein erstauntes Murmeln, als die Zuschauer den angerichteten Schaden sahen; das Blut troff von ihm herab. Aber er ließ sich nichts merken. Er wurde ungeheuer vorsichtig, denn er besaß in vollem Maße die ganze Pfiffigkeit und Bosheit seiner Klasse. Er wartete und lauerte, bis er unvermutet einen Ausfall machte; aber er schlug nicht zu, denn er hatte Metall schimmern sehen.

»Hände hoch!« rief er. »Du hast einen Schlagring.«

Beide Banden gingen knurrend und fauchend vor. In der nächsten Sekunde mußte ein allgemeines Handgemenge im Gange sein, aber er wollte sich die Rache nicht aus den Händen nehmen lassen. Er war ganz außer sich.

»Ihr mischt euch nicht hinein«, schrie er heiser. »Verstanden?«

Sie wichen zurück. Sie waren Bestien, aber er war schlimmer als sie, ein Geschöpf, das Schrecken einflößte und dem sie sich beugten.

»Das ist mein Kampf, und ihr habt die Finger davon zu lassen. Gib mir den Schlagring!«

Käsgesicht lieferte, ruhiger geworden und ein wenig eingeschüchtert, die Mordwaffe ab.

»Den hast du ihm zugesteckt, Rotkopf«, fuhr Martin fort und warf den Schlagring ins Wasser. »Ich sah dich angeschlichen kommen und konnte nicht verstehen, was du wolltest. Wenn du noch mal so was tust, schlag ich dich tot, verstanden?«

Sie kämpften weiter, durch Ermattung zu immer größerer, unermeßlicher, unfaßbarer Ermattung, bis die andern Bestien, deren Blutdurst jetzt gestillt war, ohne Rücksicht auf die Partei sie anflehten, aufzuhören. Käsgesicht, der so weit war, daß er jeden Augenblick tot niederstürzen oder auch stehend sterben konnte, ein schreckliches Ungeheuer, dessen zerschlagene Züge keine Ähnlichkeit mehr mit Käsgesicht hatten, wankte und zauderte; Martin aber sprang auf ihn los und schlug ihn immer wieder.

Da – es schien Martin, als sei ein Jahrhundert vergangen, und Käsgesicht wurde immer schwächer – ertönte plötzlich in einem wirren Lärm von Schlägen ein lautes Knacken, und Martins rechter Arm sank herab. Ein Knochen war gebrochen. Alle hörten es und wußten Bescheid, auch Käsgesicht, der jetzt wie ein Tiger auf den Arm des andern losschlug und Schlag auf Schlag herabregnen ließ. Martins Bande drang vor, um sich dazwischenzuwerfen; Martin aber, ganz überwältigt von dem Sturm von Schlägen, trieb sie mit kräftigen Flüchen zurück und stöhnte laut vor Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Er kämpfte weiter mit der Linken, und während er hartnäckig, fast bewußtlos kämpfte, hörte er in der Ferne ein erschrockenes Murmeln von den beiden Banden, und eine zitternde Stimme sprach: »Das ist keine Schlägerei, Kameraden. Das ist Mord, und das dürfen wir nicht länger dulden.«

Aber zu seiner Freude mischte sich keiner ein, und er schlug müde, unablässig los auf etwas Blutiges, das kein Gesicht, sondern ein entsetzliches Ding, ein zitterndes, häßliches, namenloses, lallendes Ding war und nicht weichen wollte. Und er hämmerte drauflos, immer langsamer, je mehr seine Kräfte verebbten, hämmerte Jahrhunderte, eine mächtige Zeitspanne, bis er das dunkle Gefühl hatte, daß dieses namenlose Ding ganz langsam auf die Planken der Brücke sank. Und im nächsten Augenblick beugte er sich wankend darüber, griff in die Luft, um einen Halt zu finden, und murmelte mit einer Stimme, die er selbst nicht wiedererkannte:

»Willst du mehr? Willst du mehr?«

Und das sagte er immer wieder – fragend, flehend, drohend, denn er wollte Antwort haben. Da fühlte er, wie die jungen Burschen seiner eigenen Bande ihn griffen, ihm auf die Schulter klopften und versuchten, ihm in die Jacke zu helfen, und dann schlugen ganz plötzlich Dunkel und Vergessen über ihm zusammen. Der Wecker auf dem Tisch tickte weiter, aber Martin Eden, der immer noch den Kopf auf die Arme gesenkt hatte, hörte es nicht. Er hörte nichts. Er konnte nicht denken. So vollkommen hatte er sich wieder hineingelebt, daß er wie vor Jahren auf der Eighth-Street-Brücke ohnmächtig geworden war. Eine ganze Minute dauerten Dunkel und Leere, dann aber sprang er auf, als ob er von den Toten erwacht wäre, und rief mit flammenden Augen und schweißtriefendem Gesicht: »Ich erledigte dich, Käsgesicht! Es dauerte elf Jahre, aber ich erledigte dich!«

Die Knie zitterten ihm, und er fühlte sich matt und müde, wankte zum Bett und sank auf den Rand nieder. Die Vergangenheit wollte ihn immer noch nicht loslassen. Er sah sich verwirrt, erschrocken in der Stube um und wußte nicht, wo er war, bis er den Manuskripthaufen in der Ecke der Stube erblickte. Da drehte sich das Rad der Erinnerung um vier Jahre weiter, und er war wieder in der Gegenwart mit den Büchern, die er gelesen hatte, und dem Weltall, das er durch sie gewonnen hatte, mit seinen ehrgeizigen Träumen und seiner Liebe zu einem blassen, elfenhaften jungen Weibe, das, empfänglich, beschirmt und ätherisch, vor Angst gestorben wäre, wenn sie auch nur einen Bruchteil dessen gesehen hätte, was er soeben durchlebt hatte – einen Bruchteil von all dem Schmutz, den er durchwatet hatte.

Er erhob sich und wandte sich zu seinem Spiegelbild. »Und so erhebst du dich denn aus dem Schmutz, Martin Eden,« sagte er feierlich, »reichst deine Augen der großen Klarheit, hebst deine Schultern zu den Sternen, tust, was das Leben selbst getan, und erkämpfst dir das höchste Erbteil aller Mächte, die da sind.«

Er betrachtete sein Gesicht eingehend und lachte.

»Ein bißchen hysterisch und pathetisch, nicht wahr?« fragte er. »Na, das macht nichts. Du hast Käsgesicht verprügelt, und du wirst auch noch die Redakteure verprügeln, und wenn es auch zweimal elf Jahre dauern sollte. Du kannst nicht hier stehenbleiben. Du mußt weitergehen. Es geht ums Ganze, verstehst du?«

* * *

 


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