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Der eine öffnete die Tür mit einem Drücker und trat ein. Ihm folgte ein junger Bursche, der linkisch die Mütze abnahm. Seine Kleidung war derb und erinnerte an die See; offenbar fühlte er sich in der geräumigen Halle wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er wußte nicht, was er mit seiner Mütze anfangen sollte und wollte sie gerade in die Hosentasche stopfen, als der andere sie ihm abnahm. Es war eine ganz ruhige, natürliche Handlung, und der linkische junge Bursche wußte sie zu schätzen. »Er hat Verständnis dafür«, dachte er. »Er wird mir schon weiterhelfen.«

Er folgte dem andern auf den Fersen, indem er die Schultern vor und zurück schob und die Füße unbewußt weit auseinandersetzte, als höbe und senkte sich der ebene Boden wie Meereswogen. Die großen Räume schienen ihm zu eng für seinen rollenden Gang, und er hatte selbst eine furchtbare Angst, daß seine breiten Schultern mit den Türrahmen kollidieren oder die Kunstgegenstände von dem niedrigen Kamin fegen würden. Er prallte zwischen den verschiedenen Dingen hin und her und vervielfältigte dadurch die Gefahren, die in Wirklichkeit nur in seiner Einbildung bestanden. Zwischen einem Flügel und einem bücherbeladenen Tisch in der Mitte des Zimmers wäre Platz genug für ein halbes Dutzend Männer nebeneinander gewesen, aber er wagte den Weg nur mit Angst und Beben. Seine schweren Arme hingen schlaff an seinen Seiten herab. Er wußte nicht, was er mit diesen Armen und Händen anfangen sollte, und als seine geängstigte Phantasie ihm vorspiegelte, daß er die Bücher auf dem Tische berühren könnte, machte er wie ein scheues Pferd einen Satz nach der anderen Seite und entging mit Mühe und Not einem Zusammenstoß mit dem Klavierschemel. Er bemerkte den leichten Gang des andern vor ihm, und zum erstenmal wurde ihm klar, daß sein Gang sich von dem anderer Leute unterschied. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Scham über seine eigene Ungeschicklichkeit. Der Schweiß brach in kleinen Tröpfchen auf seiner Stirn aus, er blieb stehen und wischte sich das sonnenverbrannte Gesicht mit seinem Taschentuch.

»Wart' ein bißchen, Arthur, mein Junge«, sagte er, indem er seine Angst hinter einem scherzhaften Auftreten zu verbergen suchte. »Das ist zuviel auf einmal für deinen ergebenen Diener. Du mußt mir Zeit lassen, mal Luft zu schöpfen. Du weißt, daß ich nicht mitkommen wollte, und vermutlich wird deine Familie sich auch nicht gerade soviel daraus machen, mich kennenzulernen.«

»Laß nur«, lautete die beruhigende Antwort. »Du brauchst nicht bange vor uns zu sein. Wir sind ganz einfache Menschen. Hallo, da ist ja ein Brief für mich!« Er trat an den Tisch, riß einen Brief auf und begann zu lesen, so daß der Fremde Gelegenheit hatte, sich zu sammeln. Und der Fremde verstand ihn und war ihm dankbar. Er hatte selbst die Gabe des Verstehens, und auch jetzt verließ sie ihn nicht trotz seiner Ängstlichkeit. Er trocknete sich die Stirn und sah sich ruhiger um, wenn in seinen Augen auch der Ausdruck des wilden Tieres war, das die Falle fürchtet. Er befand sich in einer unbekannten Umgebung, fürchtete sich vor dem, was da geschehen mochte, und wußte nicht, wie er sich benehmen sollte; aber er war sich seiner Ungeschicklichkeit wohl bewußt und fürchtete, daß sein Geist und seine Seele ebenso gelähmt waren wie sein Körper. Er war sehr empfindsam, hoffnungslos selbstbewußt, und der belustigte Blick, den der andere ihm heimlich über den Rand des Briefes zuwarf, brannte wie ein Dolchstoß in ihm. Er ließ sich jedoch nichts merken, denn unter den Dingen, die er gelernt hatte, befand sich auch Selbstbeherrschung. Aber der Dolchstoß hatte auch seinen Stolz getroffen. Er verwünschte sich, weil er gekommen war, und beschloß gleichzeitig, die nun einmal begonnene Sache auch durchzuführen. Die Linien in seinem Gesicht wurden schärfer, und ein kampfbereiter Ausdruck trat in seine Augen. Er sah sich mit größerer Sorglosigkeit um und fühlte mit seiner schnellen Auffassungsgabe, wie jede Einzelheit in dem schönen Raum sich seinem Bewußtsein einprägte. Seine Augen standen weit auseinander; nichts innerhalb ihres Gesichtskreises entging ihm; und wie sie die Schönheit, die sie sahen, tranken, schwand der kampfbereite Ausdruck in ihnen und wich einer warmen Glut. Er war empfänglich für Schönheit, und hier gab es genug aufzunehmen.

Ein Ölgemälde fesselte ihn. Schwere Brandung donnerte krachend gegen einen vorspringenden Felsen; drohende Sturmwolken bedeckten den Himmel, und vor der Brandung lag ein Lotsenschoner mit gerefften Segeln, holte gerade über, so daß man jede Einzelheit auf seinem Deck sah, und wurde von den Wellen in ein wolkiges Abendrot gehoben. Das war Schönheit, und er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen. Er vergaß seinen linkischen Gang und trat ganz dicht an das Gemälde heran. Da schwand die Schönheit von der Leinwand. Sein Gesicht drückte Bestürzung aus. Er starrte auf etwas, das scheinbar nichts als eine nachlässige Schmiererei war. Dann trat er wieder zurück. Sofort kehrte alle Schönheit auf die Leinwand zurück. »Ein Trickbild«, dachte er und wandte sich ab, fand aber doch inmitten der vielen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, Zeit, sich darüber zu ärgern, daß man soviel Schönheit auf ein Trickbild geopfert hatte. Von Malerei verstand er nichts. Er war zwischen Öldrucken und Lithographien aufgewachsen, die in der Nähe wie aus der Ferne immer gleich scharf und deutlich waren. Zwar hatte er in Schaufenstern Gemälde gesehen, aber die Scheibe hatte ihn verhindert, dicht an sie heranzutreten.

Er blickte sich nach seinem Freunde um, der immer noch seinen Brief las, und sah die Bücher auf dem Tische. In seine Augen trat der träumerische, sehnsüchtige Ausdruck eines Hungrigen, der etwas Eßbares sieht. Einer Eingebung folgend, trat er mit einem einzigen Schritt und einem Ruck der Schultern von rechts nach links an den Tisch, wo er zärtlich über die Bücher zu streichen begann. Er betrachtete Titel und Verfassernamen, las Bruchstücke von ihrem Inhalt, liebkoste die Bände immer wieder mit Augen und Händen und erkannte ein Buch, das er gelesen hatte; die übrigen Bücher und Schriftsteller waren ihm fremd. Ein Buch von Swinburne fiel ihm plötzlich in die Hand. Er begann darin zu lesen, vergaß bald ganz, wo er sich befand, und sein Gesicht leuchtete. Zweimal blätterte er zurück, um den Namen des Verfassers zu sehen. Swinburne! Den Namen wollte er sich merken. Der Mann hatte Augen im Kopf und hatte wahrhaftig Farben und strahlendes Licht gesehen. Aber wer war Swinburne? War er seit hundert Jahren tot wie die meisten Dichter? Oder lebte und schrieb er noch? Er blätterte zur Titelseite zurück. Ja, er hatte noch andere Bücher geschrieben. Schön, das erste, was er morgen früh tun wollte, war, daß er in die Volksbücherei ging und etwas von dem, was Swinburne geschrieben hatte, zu bekommen suchte. Dann kehrte er wieder zu dem Inhalt des Buches zurück und vergaß alles um sich her. Er bemerkte nicht, daß eine junge Dame ins Zimmer trat. Das erste, dessen er sich bewußt wurde, war die Stimme Arthurs, die sagte:

»Ruth, das ist Herr Eden.«

Das Buch wurde über dem Zeigefinger geschlossen, aber noch ehe er sich umgedreht hatte, fühlte er sich schon von einem neuen Eindruck durchbebt, dessen Ursache nicht das junge Mädchen, sondern die Äußerung ihres Bruders war. Dieser muskulöse Körper barg nämlich höchste Empfindsamkeit. Bei dem geringsten Eindruck von der Außenwelt loderten seine Gedanken und Gefühle in hellen Flammen auf. Er war ungewöhnlich empfänglich, und seine Phantasie, die stets unter Hochdruck arbeitete, bemühte sich immer, Gleichheiten und Unterschiede festzustellen. Was jetzt einen so starken Eindruck auf ihn gemacht hatte, war, daß er »Herr Eden« genannt worden war – er, der sein ganzes Leben lang nur »Eden«, »Martin Eden« oder einfach »Martin« geheißen hatte. Und jetzt »Herr!« Das war wirklich ein weiter Schritt vorwärts, sagte er sich. Sein Kopf schien augenblicklich zu einer ungeheuren Camera obscura zu werden, in der eine endlose Reihe von Bildern aus seinem Leben auftauchte, Bilder von Feuerungsräumen und Mannschaftslogis, von Lagern und Küsten, Gefängnissen und Kneipen, Fieberhospitälern und Armenhäusern, deren einzige Ähnlichkeit in der Art bestanden hatte, wie er in den verschiedenen Situationen angeredet worden war.

Und dann drehte er sich um und sah das Mädchen an. Bei ihrem Anblick verschwanden die Schattenbilder in seinem Kopfe mit einem Schlage. Sie war ein blasses, ätherisches Geschöpf mit großen, träumerischen, blauen Augen und einer Flut goldenen Haares. Von ihrer Kleidung wußte er nichts, als daß sie wunderbar anzusehen war. Er verglich sie mit einer blaßgoldenen Blume auf schlankem Stiel. Nein, sie war eine Elfe, eine Gottheit; diese erhabene Schönheit war nicht von dieser Welt. Oder hatten vielleicht die Bücher recht, und es gab viele ihrer Art in den höheren Klassen? Sie hätte gut von diesem Swinburne besungen werden können. Vielleicht hatte er an eine wie sie gedacht, als er in dem Buch, das dort auf dem Tische lag, dieses Mädchen, die Iseult, schilderte. Dies ganze Übermaß an Sinneseindrücken und Gedanken bestürmte ihn in einem Augenblick. Die wirklichen Dinge, zwischen denen er sich bewegte, geboten ihnen keinen Halt. Er sah, wie sie die Hand ausstreckte und ihm gerade in die Augen blickte, wobei sie ihm die Hand so freimütig schüttelte, als wäre sie ein Mann. Die Frauen, die er bisher gekannt hatte, schüttelten die Hand nicht auf diese Weise. Die meisten von ihnen gaben überhaupt nicht die Hand. Eine Flut von Gedankenverbindungen und Erinnerungen daran, wie er die Bekanntschaft von Frauen gemacht hatte, schlug über seinem Bewußtsein zusammen und drohte es unter sich zu begraben. Aber er schüttelte sie ab und betrachtete das Mädchen. Noch nie hatte er ein solches weibliches Wesen gesehen. Die Frauen, die er gekannt hatte! Sofort stellten sich die Frauen, die er gekannt hatte, zu beiden Seiten neben ihr auf. Eine ewig währende Sekunde stand er mitten in einer Bildnisgalerie, deren Mittelpunkt sie bildete, und um sie scharten sich viele Frauen, die alle mit blitzschnellem Blick gewogen und gemessen werden sollten, während sie selbst die Gewichts- und Maßeinheit darstellte. Er sah die blassen, kränklichen Gesichter der Fabrikarbeiterinnen und die albernen, lauten Mädchen südlich der Market Street, Mädchen aus den Viehdistrikten und dunkelhäutige zigarettenrauchende Mexikanerinnen. Aber die wurden wieder verdrängt von puppenhaften Japanerinnen, die auf Holzklötzen einhertrippelten, von Eurasierinnen, deren feine Züge vom Verfall der Rasse gezeichnet waren, von vollblütigen blumengeschmückten, braunhäutigen Südseeinsulanerinnen. Sie alle wurden ausgelöscht durch eine lächerliche und doch furchtbare Brut – tückische, schmutzige Geschöpfe aus den Straßen Whitechapels, branntweinduftende Hexen der Gassen und der ganze große Höllenschwarm von Harpyen, bösmäulig und dreckig, Ungeheuer in Weibergestalt, die auf Seeleute lauerten, der Abschaum der Häfen, der Bodensatz der Menschheit.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Eden?« sagte das Mädchen. »Seit Arthur uns von Ihnen erzählte, habe ich mich so darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Es war tapfer von Ihnen –«

Er machte eine abwehrende Handbewegung und murmelte, das, was er getan habe, sei nicht der Rede wert. Jeder andere hätte genau so gehandelt. Sie bemerkte, daß seine Hand von frischen, in der Heilung begriffenen Hautabschürfungen bedeckt war, und ein Blick auf die andere Hand zeigte ihr, daß sie sich in derselben Verfassung befand. Ihr schneller prüfender Blick entdeckte auch eine Narbe an seinem Kinn, eine zweite unter den Haaren verschwindende Narbe auf seiner Stirn und eine dritte am Halse, wo sie unter dem steifen Kragen verschwand. Sie unterdrückte ein Lächeln beim Anblick des roten Strichs, den der Kragen in die sonnenverbrannte Haut gerieben hatte. Er war offenbar nicht gewohnt, steife Kragen zu tragen. Ihr weiblicher Blick schweifte auch über seine Kleidung und bemerkte den schlechten, ungeschickten Schnitt, den Rock, der sich an den Schultern beutelte, und die Falten in den Ärmeln, die seine mächtigen Muskeln ahnen ließen.

Während er die Handbewegung machte und murmelte, daß er nichts getan hätte, kam er ihrer Aufforderung, sich zu setzen, nach. Er hatte gerade noch Zeit, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der sie sich setzte, dann taumelte er nieder auf einen Stuhl, der dem ihren gegenüberstand, überwältigt von dem Bewußtsein seiner eigenen Ungeschicklichkeit. Das war ihm etwas ganz Neues. Sein ganzes Leben, bis zu diesem Tage, hatte er nicht darüber nachgedacht, ob er gewandt oder linkisch war. Er war gar nicht auf derartige Gedanken gekommen. Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante und wußte durchaus nicht, wo er mit seinen Händen bleiben sollte. Wohin er sie auch steckte, waren sie im Wege. Arthur verließ das Zimmer, und Martin Eden sah ihm mit sehnsüchtigen Blicken nach. Wie er allein mit diesem blassen Mädchen hier saß, kam er sich ganz verloren vor. Hier gab es keinen Kellner, bei dem er sich etwas zu trinken bestellen, keinen Jungen, den er nach einer Kanne Bier um die Ecke schicken konnte, um mit Hilfe eines gemeinsamen Trunkes die Grundlage für eine freundschaftliche Verständigung zu schaffen.

»Sie haben eine Narbe am Hals, Herr Eden«, sagte das Mädchen. »Wie haben Sie die bekommen? Das ist sicher ein ganzes Abenteuer.«

»Ein mexikanisches Messer, Fräulein«, antwortete er, indem er sich die trockenen Lippen anfeuchtete und sich räusperte. »Es war nur eine Schlägerei. Als ich ihm das Messer weggenommen hatte, versuchte er mir die Nase abzubeißen.«

So nüchtern er das sagte, stand doch vor seinem Auge das farbenprächtige Bild jener heißen, sternenklaren Nacht in Salina Cruz, der schmale weiße Strand, die Lichter der Zuckerdampfer im Hafen, die Stimmen der betrunkenen Seeleute in der Ferne, die fleißigen Güterpacker, die flammende Leidenschaft im Gesicht des Mexikaners, das Funkeln seiner Raubtieraugen im Sternenlicht, der Stich in den Hals, das hervorschießende Blut, die schreiende Menge, die beiden Körper – seiner und der des Mexikaners –, die, ineinander verschränkt, wütend über den Sand rollten, und weit in der Ferne das weiche Klimpern einer Gitarre. Das war das Bild, das er sah, und das ihn völlig in Anspruch nahm, während er darüber nachdachte, ob der Mann, der den Lotsenkutter an der Wand gemalt hatte, auch das wohl malen könnte. Der weiße Strand, die Sterne, die Lichter auf dem Zuckerdampfer müßten ein prachtvolles Bild ergeben, dachte er, und mitten auf dem Strand dazu die dunkle Gruppe, die die Kämpfenden umgab. Das Messer würde auch seinen Platz auf dem Bilde haben, entschied er, und es würde großartig aussehen, wie es im Sternenlicht funkelte. Aber von alledem wurde seine Erzählung nicht berührt. »Er versuchte, mir die Nase abzubeißen«, schloß er.

»Oh!« sagte das junge Mädchen mit leiser, ferner Stimme, und er bemerkte den erschrockenen Ausdruck in ihren beweglichen Zügen.

Er erschrak selbst, und eine schwache Röte der Verlegenheit stieg ihm in die sonnenverbrannten Wangen, aber er hatte das Gefühl, daß sie ebenso stark brannten, wie wenn er vor der offenen Heizungstür im Feuerungsraum gestanden hätte. Derartige schmutzige Dinge wie Messerstechereien waren offenbar kein Unterhaltungsgegenstand für eine Dame. In den Büchern sprachen Menschen ihres Standes nicht über derlei – wußten vielleicht gar nichts davon.

Eine kurze Pause trat in dem Gespräch ein, das sie gerade in Gang zu setzen versuchten. Dann fragte sie nach der Narbe an seiner Wange. Als sie fragte, merkte er, daß sie sich bemühte, so zu sprechen, wie er zu sprechen gewohnt war, und er beschloß, in ihrer Sprache zu antworten.

»Das war nur ein Unfall«, sagte er und legte die Hand an die Wange. »Eines Nachts, bei stillem Wetter und schwerer See, sprang die Großbaumtopnant und gleich darauf die Talje. Die Topnant war aus Stahldraht und fuhr wie eine Schlange hin und her. Die ganze Wache versuchte sie einzufangen, und ich kriegte beim Zupacken mächtig eins in die Fresse.«

»Oh!« sagte sie, diesmal in einem Ton, als hätte sie alles verstanden, obwohl seine Sprache das reine Griechisch für sie gewesen war und sie gern gewußt hätte, was eine Topnant war und was Fresse bedeutete.

»Dieser Mann, der Swineburne«, begann er mit einem Versuch, seinen Plan zur Ausführung zu bringen.

»Wer?«

»Swineburne,« sagte er mit derselben falschen Aussprache, »der Dichter.«

»Swinburne«, berichtigte sie.

»Ja, das meine ich auch«, stammelte er wieder mit heißen Wangen. »Wann ist er gestorben?«

»Wie bitte? Ich habe nie gehört, daß er tot ist!« Sie betrachtete ihn neugierig. »Wo haben Sie seine Bekanntschaft gemacht?«

»Ich habe ihn nie gesehen«, lautete die Antwort. »Aber ich habe einige von seinen Gedichten in dem Buch dort auf dem Tisch gelesen, ehe Sie hereinkamen. Wie finden Sie seine Gedichte?«

Und jetzt begann sie schnell und leicht über den Gegenstand zu sprechen, den er aufs Tapet gebracht hatte. Er fühlte sich wohler und setzte sich etwas mehr auf den Stuhl, stützte sich aber immer noch fest mit den Armen auf die Lehnen, als fürchtete er, daß er unter ihm hinwegschlüpfen würde. Es war ihm geglückt, sie zum Sprechen zu bringen. Und während sie drauflos redete, strengte er sich an, ihr zu folgen, verwundert über all das Wissen, das in dem reizenden Köpfchen steckte, und freute sich über die blasse Schönheit ihres Gesichts. Er folgte ihr auch, obwohl ihn unbekannte Worte, die leicht von ihren Lippen glitten, und kritische Bemerkungen und Gedanken störten, die ihm fremd waren, die aber doch seinen Geist reizten und entflammten. Hier war geistige Regsamkeit, dachte er, und hier war Schönheit, eine warme, wunderbare Schönheit, wie er sie sich nie hatte träumen lassen. Er vergaß sich und starrte sie mit gierigen Augen an. Hier war etwas, für das es sich lohnte zu leben, vorwärtszukommen, zu kämpfen – ja, und zu sterben. Die Bücher sprachen die Wahrheit. Es gab solche Frauen in der Welt. Sie war eine von ihnen. Sie verlieh seiner Phantasie Schwingen, und große leuchtende Bilder erschienen vor seinem Blick, undeutliche, riesige Bilder, die Liebe, Romantik und Heldentum um einer Frau willen darstellten – um einer bleichen Frau, einer goldenen Blume willen. Und hinter der zitternden schwingenden Vision sah er wie hinter einer Fata Morgana das lebendige Weib, das hier saß und von Literatur und Kunst sprach. Er hörte auch zu, aber er blickte sie dabei an, ohne sich bewußt zu sein, wie starr sein Blick war, und daß alles, was seine Natur an Männlichkeit besaß, ihm aus den Augen leuchtete. Sie aber, die wenig von der Welt der Männer wußte, weil sie ein Weib war, sie fühlte deutlich seine brennenden Augen. Sie war noch nie auf diese Weise angesehen worden, und es machte sie verlegen. Sie stockte und suchte nach Worten. Sie verlor den Faden ihrer Erklärungen. Er erschreckte sie, und doch wurde sie wieder von einer seltsamen Freude durchbebt, daß jemand sie auf diese Weise ansah. Ihre Erziehung warnte sie vor der Gefahr, die in dieser geheimnisvollen, seltsamen Lockung lag; aber ihre Instinkte klangen wie helle Fanfaren durch ihr ganzes Wesen und zwangen sie, die Hindernisse von Kaste und Stand zu nehmen und zu einem Wanderer aus einer anderen Welt zu gelangen, diesem linkischen jungen Burschen mit den zerrissenen Händen und dem roten Strich am Halse von dem ungewohnten Kragen, diesem Menschen, der, allzu offenkundig, von einem harten, strengen Dasein beschmutzt und angesteckt war. Sie war rein, und ihre Reinheit empörte sich dagegen; aber sie war Weib, und sie hatte gerade das Paradoxe der weiblichen Natur kennengelernt.

»Wie gesagt – ja, was sagte ich doch?« Sie unterbrach sich plötzlich und lachte heiter über ihre eigene Verlegenheit.

»Sie sagten, daß dieser Mann, der Swinburne, kein großer Dichter wurde, weil ... und weiter kamen Sie nicht, Fräulein«, half er ihr, während ihm schien, als ob er plötzlich hungrig würde und ein wundervolles leises Zittern ihm bei ihrem Lachen das Rückgrat entlang kroch. Wie Silber, dachte er, wie klingende, silberne Glocken, und im selben Augenblick, aber nur eine Sekunde lang, fühlte er sich in ein fernes Land versetzt, wo er unter rosa Kirschblüten saß, eine Zigarette rauchte und auf die Glocken der spitzen Pagode lauschte, die Gläubige mit Strohsandalen zur Andacht rief.

»Ja, danke«, sagte sie. »Das Höchste erreicht Swinburne nicht, weil er – nun ja, weil er unzart ist. Viele seiner Gedichte sollte man gar nicht lesen. Jede Zeile der wirklich großen Dichter ist von Schönheit erfüllt und wendet sich an alles, was erhaben und edel im Menschen ist. Von den Werken der großen Dichter könnte man nicht eine Zeile entbehren, ohne daß die Welt dadurch ärmer würde.«

»Ich fand es großartig,« sagte er zögernd, »das bißchen jedenfalls, das ich las. Ich hatte keine Ahnung, daß er so ein – ein Schurke war. Das wird wohl in seinen andern Büchern zum Vorschein kommen.«

»Viele Zeilen in dem Buch, das Sie gelesen haben, hätte er sich sparen können«, sagte sie, und ihre Stimme klang streng und lehrhaft.

»Die muß ich übersehen haben«, erklärte er. »Was ich las, war wirklich gut. Und es war so strahlend und schimmernd, es schien gerade in mich hinein und erleuchtete mich inwendig wie die Sonne oder ein Scheinwerfer. So wirkte es jedenfalls auf mich, aber ich verstehe ja nicht viel von Dichtkunst, Fräulein.« Er hielt erschrocken inne. Er war verwirrt und hatte ein peinliches Gefühl von seiner eigenen Unfähigkeit, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Er hatte die große und lebendige Glut in dem, was er las, gefühlt, aber sein Wortschatz reichte nicht hin. Er konnte nicht ausdrücken, was er fühlte, und er verglich sich selbst mit einem Seemann, der sich in dunkler Nacht auf einem fremden Schiffe befand und sich mit einer Takelung abquälte, mit der er nicht vertraut war. Nun ja, sagte er sich, ich muß eben sehen, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Er hatte noch nie etwas gesehen, hinter das er nicht gekommen war, wenn er es ernstlich darauf anlegte, und es war Zeit, daß er lernte, sich über das, was in seinem Innern vorging, verständlich zu machen. Sie erweiterte seinen Horizont mächtig.

»Longfellow zum Beispiel –«, sagte sie.

»Ja, den habe ich gelesen«, unterbrach er sie, angespornt von dem Ehrgeiz, soviel wie möglich von seinen Kenntnissen zu zeigen, und bemüht, ihr verständlich zu machen, daß er kein dummer Tölpel war. »Der Psalm des Lebens«, »Elysium« und ... ich glaube, das ist alles.«

Sie nickte lächelnd, und er hatte das Gefühl, daß ihr Lächeln ein wenig nachsichtig war – mitleidig nachsichtig. Er war ein Narr, daß er versuchte, sich auf diese Weise aufzuspielen. Dieser Longfellow hatte wahrscheinlich zahllose Gedichtbücher geschrieben. »Entschuldigen Sie, Fräulein, daß ich so drauflosschwatze. Ich weiß ja eigentlich nicht viel von diesen Sachen. Es gehört nicht zu meinem Beruf. Aber ich will es zu meinem Beruf machen.«

Das klang wie eine Drohung. Seine Stimme war entschieden, seine Augen blitzten, die Linien in seinem Gesicht wurden hart. Ihr schien, daß sein Kinn sich verändert hätte; es wirkte fast unangenehm anmaßend. Gleichzeitig aber war es, als ob ihr eine Woge starker Männlichkeit von ihm entgegenschlug.

»Ich glaube wirklich, Sie sollten es zu Ihrem ... Beruf machen«, schloß sie lachend. »Sie sind sehr stark.«

Ihr Blick weilte einen Augenblick auf dem muskulösen, sehnigen, fast stierartigen Nacken, der von der Sonne gebräunt war und von roher Kraft und Gesundheit strotzte. Und obwohl er rot und verlegen dasaß, fühlte sie sich doch von ihm angezogen. Zu ihrer eigenen Überraschung schoß ihr plötzlich ein toller Gedanke durchs Hirn. Ihr schien, sie müsse ihre beiden Hände um seinen Hals legen, und all seine Stärke und Kraft würden auf sie überströmen. Ihr schien, daß sich ihr plötzlich eine ungeahnte Verderbnis ihrer Natur offenbarte. Zudem war Stärke für sie etwas Grobes, Brutales. Ihr Ideal männlicher Schönheit war immer schlanke Anmut gewesen. Aber der Gedanke verließ sie nicht. Es verwirrte sie, daß sie wirklich den Wunsch verspüren sollte, ihre Hände um diesen sonnenverbrannten Hals zu legen. Tatsächlich war sie selbst zart, und das, was ihr Körper und ihre Seele brauchten, war eben Stärke. Aber das wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß kein Mann je eine solche Wirkung auf sie ausgeübt hatte wie dieser, der sie jeden Augenblick durch seine schreckliche Sprache erschreckte.

»Nein, ein altes Weib bin ich nicht«, sagte er. »Wenn es darauf ankommt, kann ich altes Eisen verdauen. Aber jetzt bin ich gerade ein bißchen verstopft. Das meiste von dem, was Sie gesagt haben, kann ich nicht verdauen. Ich habe mich nie mit dem Zeug abgegeben, wissen Sie. Ich habe Bücher und Poesie gern, und wenn ich mal Zeit hatte, habe ich gelesen, aber ich habe nie so drüber nachgedacht wie Sie. Darum kann ich nicht drüber reden. Mir geht es wie einem Seemann, der ohne Karte und Kompaß auf einem fremden Meer treibt. Jetzt möchte ich gern peilen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Wie haben Sie all das gelernt, was Sie da erzählen?«

»In der Schule wohl und durch Studium«, antwortete sie.

»Ich bin auch zur Schule gegangen, als ich klein war«, wandte er ein.

»Ja; aber ich meine das Gymnasium und Kurse und die Universität.«

»Sie sind auf der Universität gewesen?« fragte er ehrlich erstaunt. Er fühlte, daß sie einen Abgrund von mindestens einer Million Meilen zwischen sich und ihn gelegt hatte.

»Ich besuche jetzt noch die Universität. Ich höre Vorlesungen im Englischen.«

Er verstand nicht, was sie mit »Englisch« meinte, merkte sich aber diesen Mangel in seinem Wissen und fragte weiter:

»Wie lange müßte ich lernen, um auf die Universität kommen zu können?«

Sie lächelte ermutigend über seinen Lerneifer und sagte: »Das hängt davon ab, was Sie schon gelernt haben. Sie haben nie ein Gymnasium besucht? Natürlich nicht. Aber haben Sie die Gemeindeschule ganz durchgemacht?«

»Es fehlten zwei Jahre, als ich abging«, erwiderte er. »Aber ich war immer sehr gut in der Schule.«

Im nächsten Augenblick ärgerte er sich so über seine Prahlerei, daß er die Stuhllehne packte, bis die Fingerspitzen ihm förmlich brannten. Da bemerkte er, daß eine Frau ins Zimmer trat. Er sah, wie das Mädchen vom Stuhl aufstand und der Eintretenden entgegeneilte. Sie küßten sich und kamen dann Arm in Arm auf ihn zu. Das muß ihre Mutter sein, dachte er. Sie war eine hochgewachsene blonde Frau, schlank, stattlich und schön. Ihre Kleidung war so, wie er sie in einem solchen Hause erwartet hatte. Seine Augen hingen mit Entzücken an den anmutigen Linien. In ihrer Tracht erinnerte sie ihn an Frauen, die er auf der Bühne gesehen hatte. Dann erinnerte er sich, daß er ähnlich gekleidete Damen in die Londoner Theater hatte hineingehen sehen. Er hatte ihnen nachgesehen, bis der Schutzmann ihn in den Sprühregen vor der Markise geschoben hatte. Gleich darauf machten seine Gedanken einen Sprung nach dem Grand Hotel in Yokohama, wo er auch vom Bürgersteig aus große Damen gesehen hatte. Dann begann Yokohama selbst mit seinem Hafen in tausend Bildern vor seinen Augen zu erscheinen. Aber er löste sich schnell von diesem Kaleidoskop der Erinnerung, in dem Bewußtsein, daß er jetzt seine ganze Geistesgegenwart nötig hatte. Er wußte, daß er aufstehen mußte, um vorgestellt zu werden, und so erhob er sich denn beschwerlich und stand da, mit Hosen, die sich an den Knien beutelten, mit hängenden Armen und zusammengebissenen Zähnen, bereit, die bevorstehende Prüfung über sich ergehen zu lassen.

* * *

 


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