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Martin kehrte an seinen Aufsatz über die Perlenfischer zurück, der schneller fertig geworden wäre, hätte er ihn nicht immer wieder beiseitegelegt und sich in Versen versucht. Seine Gedichte waren von Ruth inspirierte Liebesgedichte, aber sie wurden nie fertig. Er konnte nicht an einem Tage lernen, in edlen Versen zu singen. Reim und Versmaß waren an sich schon ernste Hindernisse auf seinem Wege, weit schwerer aber war das nicht handgreifliche und immer weichende Element, das er in allen großen Dichtungen fand, aber nicht selbst in seinen eigenen Dichtungen einfangen konnte. Es war der täuschende Geist der Poesie selbst, den er fühlte und suchte, aber nicht greifen konnte. Es war wie eine ständige Glut, ein warmer, wogender Dampf, der sich immer außer Reichweite hielt, wenn er ihm auch zeitweise seine Mühe lohnte und ihm Bruchstücke zuteil werden ließ. Diese Bruchstücke verwob er zu Sätzen, die unabhängig in seinem Geist in Tönen widerklangen oder vor seinem Blick wie Nebel von ungeahnter Schönheit wogten. Es war fast unerträglich. Er brannte vor Sehnsucht, sich auszudrücken, und konnte nur in Prosa schwatzen. Er las seine Bruchstücke laut. Das Versmaß war vollkommen, Reim und Rhythmus auch, aber die Glut der Begeisterung, die er in seinem Innern fühlte, fehlte. Das verstand er nicht, und immer wieder kehrte er verzweifelt zu seinem Aufsatz zurück. Ja, Prosa war wirklich leichter!

Nach dem Aufsatz über die Perlenfischer schrieb er einen über den Seemannsberuf, einen zweiten über den Schildkrötenfang und einen dritten über den Nordostpassat. Dann versuchte er es mit einer kurzen Erzählung und schrieb nun hintereinander sechs Kurzgeschichten, die er verschiedenen Zeitschriften sandte. Er schrieb unaufhörlich, mit glühendem Eifer, vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein, und unterbrach die Arbeit nur, um auf die Bibliothek zu gehen, zu lesen, sich Bücher zu holen, oder um Ruth zu besuchen. Er war grundglücklich. Er fühlte die Schöpferfreude, die die Götter gekannt haben sollen. Das ganze Leben um ihn her, der Geruch von altem Gemüse und Seifenwasser, der Anblick seiner schlampigen Schwester und des spöttischen Gesichts Bernard Higginbothams waren wie ein Traum. Die wirkliche Welt war die, die in seinen Gedanken lebte; und die Geschichten, die er schrieb, waren ebenso viele Stücke Wirklichkeit aus der Werkstatt der Gedanken.

Die Tage waren nur allzu kurz. Es gab so vieles, das er studieren wollte. Er gewöhnte sich daran, sich mit fünf Stunden Nachtschlaf zu begnügen, und kam zu der Erkenntnis, daß er damit auskam. Dann versuchte er es mit viereinhalb Stunden, kehrte aber mit Kummer zu den fünf zurück. Er hätte mit Freude seinen ganzen Tag mit jedem einzelnen der Gegenstände verbracht, mit denen er sich beschäftigte. Nur mit Bedauern unterbrach er sein Schreiben, um Bücher zu lesen, oder legte die Bücher beiseite, um auf die Bibliothek zu gehen, und nur mit Bedauern riß er sich los aus dem Kompaßhaus der Kenntnisse oder von den Zeitschriften im Lesesaal, die so voll waren von den Geheimnissen, welche die Autoren, deren Arbeiten gekauft wurden, kannten. Und wenn er mit Ruth zusammen war, so hieß es fast den Lebensfaden zerschneiden, wenn er sich erheben und gehen mußte; und er eilte durch die dunklen Straßen, um mit dem geringsten Zeitverlust wieder zu seinen Büchern zu kommen; am allerschwersten aber war es, mit Mathematik und Physik aufzuhören, Heft und Bleistift beiseitezulegen und die müden Augen zum Schlaf zu schließen. Er haßte den Gedanken, daß er, selbst für eine so kurze Weile, aufhören sollte zu leben, und sein einziger Trost war, daß ihn die Weckuhr in fünf Stunden rufen sollte. Er sollte nur fünf Stunden verlieren, dann riß ihn der Klang der Glocke aus seiner Bewußtlosigkeit, und er erwachte zu einem neuen, herrlichen neunzehnstündigen Tage.

Unterdessen aber verstrichen die Wochen, sein Geld ging auf die Neige, und es kam kein neues. Einen Monat, nachdem er seine lange Geschichte an die Jugendzeitung gesandt hatte, kam sie zurück. Die gedruckte Ablehnung war in so taktvolle Ausdrücke gekleidet, daß er dem Redakteur ganz freundlich gesinnt war. Weniger freundlich aber war er dem San Francisco Examiner gesinnt. Nach zwei Wochen hatte er an das Blatt geschrieben. Eine Woche später schrieb er wieder. Als ein Monat vergangen war, fuhr er nach San Franzisko und bat, den Redakteur sprechen zu dürfen. Dank einem minderjährigen rothaarigen Laufburschen, der die Pforte wie ein zweiter Zerberus bewachte, traf er die erhabene Persönlichkeit nicht. Nach fünf Wochen kam das Manuskript mit der Post ohne eine Bemerkung zurück. Es gab keine gedruckte Ablehnung, keine Erklärung, nichts. Ebenso lagen seine andern Aufsätze bei den andern größeren Blättern San Franziskos. Als er sie zurückerhielt, schickte er sie an die Zeitschriften in den östlichen Staaten, von denen er sie ebenfalls, aber schneller und von den üblichen gedruckten Ablehnungen begleitet, zurückerhielt.

Ebenso wurden auch die Kurzgeschichten zurückgesandt. Er las sie immer wieder, und sie gefielen ihm so gut, daß er sich durchaus nicht denken konnte, warum er sie zurückerhielt, bis er eines Tages in einer Zeitung las, daß Manuskripte stets mit der Maschine geschrieben sein müßten. Das erklärte alles. Selbstverständlich hatten die Redakteure zuviel zu tun, um Zeit und Kräfte darauf zu verschwenden, Handschriften zu lesen. Martin mietete sich eine Schreibmaschine und verbrachte einen ganzen Tag damit, ihre Hantierung zu erlernen. Täglich schrieb er auf der Maschine das verfaßte Pensum ins reine und schrieb ferner seine älteren Manuskripte ebenso schnell ab, wie sie zurückkamen. Er war überrascht, als auch die mit der Maschine geschriebenen Manuskripte zurückzukommen begannen. Aber er preßte nur die Lippen zusammen, schob das Kinn vor und schickte die Manuskripte an andere Redaktionen.

Dann fiel ihm ein, daß er vielleicht, wenn es die eigenen Arbeiten galt, kein guter Richter sei, und er las die Geschichten Gertrude vor, um zu sehen, was sie dazu meinte. Ihre Augen leuchteten, sie sah ihn mit Stolz in den Augen an und sagte:

»Nein, daß du so was schreiben kannst! Ist das nicht großartig?«

»Ja, ja«, sagte er ungeduldig. »Aber die Geschichte – wie gefällt sie dir?«

»Großartig«, antwortete sie. »Großartig und spannend dazu. Ich war ganz hingerissen.«

Er konnte sehen, daß ihr die Sache nicht ganz klar war. Ein verwirrter, verdutzter Ausdruck lag auf ihrem gutmütigen Gesicht. Er wartete.

»Aber sieh mal, Mart«, – und nach einer langen Pause: »Wie ging die Geschichte aus? Hat der junge Mann, der so hochtrabende Dinge redete, sie gekriegt?«

Und nachdem er ihr erklärte, wie die Geschichte ausging, was er seiner Ansicht nach künstlerisch einleuchtend dargestellt hatte, sagte sie:

»Das wollte ich eben gern wissen. Aber warum hast du das nicht in der Geschichte geschrieben?«

Eins wußte er jedenfalls, als er ihr mehrere Geschichten vorgelesen hatte – nämlich, daß ihr die Geschichten am besten gefielen, die glücklich endeten. »Die Geschichte ist großartig!« sagte sie mit einem müden Seufzer, indem sie sich vom Waschzuber abwandte und sich den Schweiß mit der roten nassen Hand von der Stirn wischte. »Aber sie macht mich so trübselig. Ich möchte direkt weinen. Es gibt natürlich viel Trauriges in der Welt, aber ich freue mich nun mal, wenn ich an frohe Dinge denke. Sieh mal, wenn er sie nun geheiratet hätte und ... du bist mir doch nicht böse, Mart?« fragte sie ängstlich. »Ich fühle nun mal so, und das kommt wohl daher, weil ich so müde bin. Aber die Geschichte war wirklich großartig, wahrhaftig – großartig! Wem willst du sie verkaufen?«

»Ja, das ist eine andere Frage«, lachte er.

»Aber wenn du sie verkaufst, wieviel, glaubst du, kriegst du dann dafür?«

»Ach, hundert Dollar. Das wäre das mindeste, wie die Preise sind.«

»Du lieber Gott! Wenn du sie nur verkauftest!«

»Ja, das wäre leicht verdientes Geld, nicht wahr?« Er fügte stolz hinzu: »Ich hab' sie in zwei Tagen geschrieben. Das sind fünfzig Dollar den Tag.«

Er sehnte sich danach, seine Geschichten Ruth vorzulesen, wagte es aber nicht. Er entschloß sich zu warten, bis einige von ihnen gedruckt waren, dann wußte sie ja, wozu er gearbeitet hatte. Im übrigen arbeitete er weiter. Noch nie hatte der Abenteuerdrang ihn so gelockt wie bei dieser verblüffenden Entdeckungsreise ins Reich des Geistes. Er kaufte sich Handbücher über Physik und Chemie, und zu seinen mathematischen Aufgaben kamen jetzt noch physikalische und chemische. Was er über die Experimente las, nahm er auf Treu und Glauben hin, und seine seltene, lebhafte Phantasie schenkte ihm ein größeres Verständnis von der Reaktion der Chemikalien, als der Student, der sie im Laboratorium sah, gewöhnlich hatte. Martin ackerte sich durch die schweren Seiten hindurch, überwältigt von dem Verständnis, das ihm aus dem Zusammenhang aller Dinge aufging. Er hatte sich vor der Weltordnung gebeugt, ohne weiter darüber nachzudenken, jetzt aber begann er zu verstehen, wie die Welt organisiert war, und wie Kräfte und Stoffe ineinanderspielten. Jeden Augenblick fand er die Erklärung von Dingen, die er früher einmal gesehen hatte. Hebel und Flaschenzüge interessierten ihn ungeheuer, und er mußte wieder an die Handspeichen, Blöcke und Taljen aus seiner Seemannszeit denken. Die theoretische Navigation, die Schiffe instand setzte, sicher ihrer Bahn über das unbeugsame Meer zu folgen, wurde ihm jetzt klar. Die Mysterien des Sturmes, des Regens und der Gezeiten offenbarten sich ihm, und die Ursachen, die man den Passatwinden zugrunde legte, ließen ihn jetzt darüber nachdenken, ob sein Aufsatz über diesen Gegenstand nicht ein wenig übereilt gewesen wäre. Auf alle Fälle wußte er, daß er jetzt einen besseren schreiben könnte. Eines Tages nahm Arthur ihn mit auf die California-Universität, und mit zurückgehaltenem Atem und einem Gefühl religiöser Ehrfurcht schritt er durch die Laboratorien, sah Experimente und hörte einen Professor der Physik, der seinem Auditorium eine Vorlesung hielt.

Aber darüber versäumte er seine Schreiberei nicht. Ein wahrer Strom von Kurzgeschichten floß aus seiner Feder, und er versuchte es auch mit Gedichten leichterer Art – wie er sie in den Zeitschriften gedruckt sah –, wenn er auch den Kopf verlor und zwei ganze Wochen auf eine Tragödie in Jamben vergeudete, die zu seinem großen Erstaunen gleich von einem Dutzend Zeitschriften zurückgeschickt wurde. Dann entdeckte er Henley, nahm sich die ›Hospital-Skizzen‹ zum Beispiel und schrieb eine Reihe von Seegedichten. Es waren einfache Gedichte mit Licht und Farbe und romantischen, abenteuerlichen Geschehnissen. »Seelyrik« nannte er sie, und er hielt sie für das Beste, was er bis jetzt geschrieben hatte. Es waren alles in allem dreißig Gedichte, und er schrieb sie in einem Monat, jeden Tag eines, wenn er seine Tagesarbeit geschrieben hatte, ein Pensum, das einem gewöhnlichen Autor von Ruf für eine Woche genügt hätte. Er fürchtete die Arbeit nicht, ja, für ihn war es gar keine Arbeit. Er begann in die Geheimnisse der Sprache einzudringen, und all ihre Schönheit und all ihre Herrlichkeit, für die seine Lippen jahrelang keinen Ausdruck hatten finden können, strömte jetzt in einem alles besiegenden männlichen Reichtum hervor.

Er zeigte die »Seelyrik« keinem, nicht einmal den Redakteuren. Er hatte begonnen, Redakteuren gegenüber etwas mißtrauisch zu sein. Aber es war nicht dieses Mißtrauen, das ihn hinderte, ihnen die »Seelyrik« zu zeigen. Diese Gedichte waren in seinen Augen so schön, daß ihm schien, er müsse sie aufheben, um sie dereinst mit Ruth zu teilen, wenn er in einer strahlenden, fernen Zukunft Mut genug hätte, ihr vorzulesen, was er geschrieben hatte. Bis dahin aber wollte er die Gedichte für sich behalten, und er las sie sich laut vor und ging sie immer wieder durch, bis er sie auswendig konnte.

Er erlebte jeden Augenblick seiner wachen Stunden, und er erlebte seinen Schlaf, wenn sein Gehirn in den fünf Stunden mit ihm durchging und die Gedanken und Ereignisse des Tages zu grotesken, ungewöhnlichen Wundern verwandelte. Tatsächlich ruhte er nie, und wenn sein Körper schwächer oder sein Gehirn weniger gut abgewogen gewesen wäre, so würde alles mit einem ernsten Zusammenbruch geendet haben. Seine Nachmittagsbesuche bei Ruth wurden seltener, denn es war jetzt nicht mehr lange bis zum Juni, und dann sollte sie ihr Abschlußexamen an der Universität machen. Wenn er an ihr Examen dachte, so war ihm, als flöhe sie von ihm – flöhe weit schneller, als er ihr folgen konnte.

Einen Nachmittag in der Woche opferte sie ihm, und dann kam er gewöhnlich spät, blieb zum Essen und hörte hinterher Musik. Das war sein großer Tag. Die Atmosphäre des Hauses, die in einem schneidenden Gegensatz zu der stand, in der er selber lebte, bestärkte ihn immer wieder in seinem Entschluß, die Höhen zu erreichen. Trotz all der Schönheit, die in ihm wohnte, und seinem fast qualvollen Schaffensdrang kämpfte er doch um Ruths willen. In allererster Reihe war er Liebender. Alles andere ordnete er seiner Liebe unter. Denn weit wichtiger als seine abenteuerlichen Fahrten ins Reich der Gedanken waren seine Liebesabenteuer. Die Welt selbst war nicht so erstaunlich wegen der Atome und Moleküle, aus denen sie – infolge gewisser unwiderstehlich zwingender Kräfte – zusammengesetzt war; was sie so überraschend machte, war der Umstand, daß Ruth in ihr lebte. Sie war das Überraschendste, das er je gekannt, geträumt oder geahnt hatte.

Aber immer bedrückte ihn ihre Ferne. Sie war so weit fort, und er wußte nicht, wie er sich ihr nähern sollte. Er hatte stets viel Glück bei den Frauen seiner eigenen Klasse gehabt, nie aber hatte er eine von ihnen geliebt; sie aber liebte er, und dazu war sie nicht nur aus einer andern Klasse, seine Liebe selbst hob sie hoch über alle Klassen. Sie war ein Wesen für sich – so sehr, daß die Möglichkeit, sich ihr als Liebender zu nähern, ihm gar nicht in den Sinn kam. Es ist wahr: als er sich allmählich Kenntnisse verschaffte, ihre Sprache sprechen lernte und entdeckte, daß sie gemeinsame Interessen und Freuden hatten, kam er ihr näher; aber das befriedigte nicht seine Liebessehnsucht. In seinen Gedanken hatte er sie zu heilig, zu überirdisch gemacht, als daß je eine körperliche Gemeinschaft zwischen ihnen hätte bestehen können. Seine eigene Liebe war es, die sie von ihm fortschob und unerreichbar erscheinen ließ. Seine Liebe selbst verweigerte ihm das einzige, was er erträumte.

Und dann eines Tages wurde, ganz unerwartet, plötzlich die Kluft zwischen ihnen überbrückt, und wenn sie auch noch vorhanden war, so wurde sie doch von nun an immer kleiner. Sie hatten Kirschen gegessen, große reife Kirschen mit einem Saft wie dunkler Wein. Und als sie ihm später »Die Prinzessin« vorlas, bemerkte er zufällig, daß ihre Lippen dunkel gefärbt waren. Für einen Augenblick war sie ihm keine Göttin mehr, sondern ein Mensch. Schließlich war sie auch nur Lehm – gewöhnlicher Lehm – und denselben Gesetzen wie er und alle andern unterworfen. Ihre Lippen waren Fleisch wie die seinen, und sie färbten sich von Kirschen, wie auch die seinen es taten. Und wie ihre Lippen, so war ihre ganze Persönlichkeit. Sie war ein Weib – nur ein Weib wie alle andern. Das war eine Offenbarung für ihn, die ihm fast den Atem benahm. Es war, als hätte er die Sonne vom Himmel fallen sehen, oder als wäre die Schönheit, die er anbetete, entweiht.

Aber dann ging ihm plötzlich auf, was das alles bedeutete, und sein Herz begann zu klopfen und ihn anzutreiben, als Liebender vor dieses Weib zu treten, das kein Geist aus andern Welten, sondern eine Frau wie alle andern war, mit Lippen, die von Kirschen gefärbt werden konnten. Er zitterte bei dem Gedanken, so kühn erschien er ihm, aber seine Seele sang, und in einem triumphierenden Siegessang gab seine Vernunft ihm recht. Sie mußte eine dunkle Ahnung von der mit ihm vorgegangenen Veränderung haben, denn sie hörte plötzlich mit Lesen auf, sah ihn an und lächelte. Sein Blick schweifte von ihren Augen zu ihren Lippen, und es war, als brächte der Anblick der Kirschenflecken ihn fast von Sinnen. Er mußte sich beherrschen, um nicht den Arm auszustrecken und sie zu umfassen, wie er es in seinen alten, gedankenlosen Tagen getan hätte. Sie schien sich vorzulehnen und zu warten, und er bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um sich zurückzuhalten.

»Sie hören ja nicht ein Wort von dem, was ich lese«, schmollte sie.

Dann lachte sie ihm zu und belustigte sich über seine Verwirrung, und als er ihr in die freimütigen Augen sah, wußte er, daß sie nichts von seinen Gefühlen erraten hatte, und schämte sich. Er hatte sich in seinen Gedanken zu weit gewagt. Alle Frauen, die er kannte, hätten es erraten – außer ihr. Sie aber hatte es nicht. Das war der Unterschied. Sie war anders. Er erschrak über seine eigene Plumpheit, ihre reine Unschuld zwang ihn auf die Knie, und er starrte sie wieder über einen klaffenden Schlund hinweg an. Die Brücke war zerbrochen.

Aber doch hatte der Vorfall ihn ihr nähergebracht. Die Erinnerung daran blieb, und in den Augenblicken, wenn er am meisten niedergedrückt war, klammerte er sich an sie. Die Kluft wurde nie mehr so breit, wie sie gewesen war. Ja, Ruth war rein, von einer Reinheit, wie er sie nie geahnt hatte, aber wenn sie Kirschen aß, färbten sich ihre Lippen doch. Sie war den Gesetzen des Universums ebenso unentrinnbar unterworfen wie er. Wie er mußte sie essen, um zu leben, und erkältete sich, wenn sie nasse Füße bekam. Aber das war nicht das Entscheidende. Wenn sie Hunger und Durst, Kälte und Hitze fühlen konnte, so konnte sie auch Liebe fühlen – Liebe zu einem Manne. Nun, und er war ein Mann. Warum sollte er nicht der Mann werden können? »Ich muß es zu etwas bringen«, murmelte er leidenschaftlich. »Ich will der Mann sein. Ich will mich selbst zu dem Manne machen. Ich will vorwärtskommen.«

* * *

 


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