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Es kam ein Herbsttag, warm und träge, zitternd unter der Stille, die den Wechsel der Jahreszeiten ankündigt, ein echter kalifornischer Spätsommertag, mit dunstiger Sonne und leichten, wechselnden Winden, die den Schlummer der Luft nicht störten. Feine Purpurnebel, die nicht Dämpfe, sondern Farbengewebe waren, verhüllten die Bergschluchten. San Franzisko lag wie ein dunkler Rauchfleck auf seinen Höhen. Die Bucht zwischen der Stadt und den Bergen war eine mattschimmernde Fläche wie aus geschmolzenem Metall, auf der Segler unbeweglich lagen oder mit der langsam gleitenden Strömung trieben. Der ferne Tamalpais hob sich, im Silbernebel kaum sichtbar, groß und mächtig vom Goldenen Tor ab, das wie ein blaßgoldener Weg unter der westwärts wandernden Sonne lag. Auf der andern Seite breitete sich, undeutlich und mächtig, der Stille Ozean, und am Horizont schäumten zusammengestürzte Wolkenmassen, die auf das Land eindrangen und den ersten stürmischen Hauch des Winters verkündeten.

Der Sommer ging auf die Neige. Und doch weilte er noch, wenn er auch immer mehr schwand und gegen die Berge zurückwich, einen immer tieferen Purpurschleier über die Täler breitend, ein Leichentuch von Nebel aus schwindenden Kräften und gesättigtem Entzücken webend, auf den Tod wartend mit der ruhigen Zufriedenheit darüber, daß er gelebt und gut gelebt hatte. Und in den Bergen, an ihrer Lieblingsstelle, saßen Martin und Ruth Seite an Seite, über dasselbe Buch gebeugt, und lasen laut die Liebessonette, geschrieben von der Frau, die Browning mit einer Liebe, wie sie nur den wenigsten Männern zuteil wird, geliebt hatte.

Aber das Lesen ging nur langsam. Der Zauber der sterbenden Schönheit um sie her war zu stark. Das goldene Jahr starb, wie es gelebt hatte, in schöner reueloser Wollust, und die Luft war schwer von Erinnerungen an befriedigte Entzückungen. Dies Gefühl erfaßte auch sie, ließ sie träumen und schmachten, schwächte die Fibern des Entschlusses und legte Dunst und Purpurnebel über das Antlitz der Moral und der Vernunft. Martin fühlte, wie ihm weich und zärtlich zumute wurde, und von Zeit zu Zeit durchfuhr ihn eine warme Woge. Sein Haupt war dem ihren sehr nahe, und wenn das wandernde Phantom des Sommerwindes ihr Haar in Unordnung brachte, daß es sein Gesicht berührte, so verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen.

»Ich glaube nicht, daß Sie selbst ein Wort von dem verstehen, was Sie lesen«, sagte sie einmal, als er den Faden verloren hatte.

Er sah sie mit brennendem Blick an und wollte verlegen werden, als ihm plötzlich eine treffende Antwort auf die Lippen kam:

»Ich glaube, Sie auch nicht. Wovon handelte das letzte Sonett?«

»Ich weiß es nicht«, lachte sie freimütig. »Ich habe es schon vergessen. Lassen Sie uns nicht mehr lesen. Das Wetter ist zu schön.«

»Und es wird für einige Zeit der letzte Tag sein, den wir hier draußen verbringen«, sagte er ernst. »Vom Meere her zieht ein Sturm herauf.«

Das Buch glitt aus seinen Händen auf die Erde, und sie sahen schweigend über die träumende Bucht hinaus mit Augen, die träumten und nicht sahen. Ruth warf einen verstohlenen Blick auf seinen Hals. Sie lehnte sich nicht an ihn. Sie fühlte sich zu ihm getrieben von einer Kraft, die stärker war als das Gesetz der Schwere, so stark wie das Schicksal selbst. Sie brauchte nur einen Zoll weiter zu rücken, und es geschah, ohne daß sie selbst einen Willen hatte. Ihre Schulter berührte die seine so leicht wie ein Schmetterling eine Blüte, und ebenso leicht war der Gegendruck. Sie fühlte, wie seine Schulter sich gegen die ihre drückte und ein Zittern ihn durchfuhr. Jetzt war für sie der Augenblick gekommen, sich zurückzuziehen. Aber ihr Tun ließ sich nicht mehr von ihrem Willen beherrschen – sie dachte nicht einen Augenblick an Beherrschung oder Willen in der süßen Torheit, die über sie gekommen war.

Sein Arm begann sich hinter ihr um sie zu schleichen. In peinvoller Qual wartete sie die langsame Bewegung ab. Sie wartete, sie wußte selbst nicht auf was, stöhnend, mit trockenen, brennenden Lippen, mit heftig klopfenden Pulsen und einem wahren Fieber der Erwartung in ihrem Blute. Der Arm, der sie umschlang, hob sie ein wenig und zog sie, langsam und liebkosend, an sich. Sie konnte nicht länger warten. Mit einem müden Seufzer und einer unwillkürlichen krampfhaften Bewegung bettete sie ihr Haupt zur Ruhe an seiner Brust. Sein Kopf beugte sich schnell vor, und als seine Lippen sich näherten, begegneten ihnen die ihren.

Das muß Liebe sein, dachte sie in dem einen Augenblick, als sie denken durfte. War das nicht Liebe, dann war es zu schändlich. Dies konnte nichts als Liebe sein. Sie liebte diesen Mann, der den Arm um ihren Leib geschlungen hatte, und dessen Lippen sich auf die ihren preßten. Sie drängte sich näher an ihn mit einer Bewegung, als wolle sie Schutz bei ihm suchen. Und einen Augenblick später riß sie sich aus seiner Umarmung, richtete sich plötzlich triumphierend auf und schlang beide Arme um Martin Edens sonnenverbrannten Hals. Wie ein heftiger Schmerz durchfuhr sie die Liebe und das gestillte Verlangen, und sie stieß einen leisen Klagelaut aus, ließ die Arme sinken und lag halb bewußtlos in seinen Armen.

Nicht ein Wort war gesprochen worden, und lange Zeit hindurch wurde kein Wort gesprochen. Zweimal beugte er sich hinab und küßte sie. Und jedesmal begegneten ihre Lippen scheu den seinen, und ihr Körper bog sich ihm glückselig entgegen. Sie klammerte sich an ihn, unfähig, loszulassen. Und er saß da, stützte sie mit seinen Armen, während seine Augen, ohne etwas zu sehen, nach der großen Stadt starrten, die wie ein undeutlicher Fleck jenseits der Bucht lag. Diesmal entstanden keine Bilder in seinem Hirn. Nur Farben. Lichter und Gluten pulsten dort, warm wie der Tag und warm wie seine Liebe. Er beugte sich über sie. Da redete sie.

»Seit wann liebst du mich?« flüsterte sie.

»Von Anfang an – vom ersten Augenblick an, da meine Augen dich sahen. Schon damals war ich toll vor Liebe nach dir, und in der Zeit, die vergangen ist, bin ich nur noch toller geworden. Und jetzt bin ich am allertollsten, Liebste. Ich bin wie verrückt, und die Freude hat mir den Kopf verdreht.«

»Ich freue mich so, daß ich ein Weib bin, Martin ... Lieber«, sagte sie nach einem tiefen Seufzer.

Er preßte sie immer wieder an sich, und dann fragte er: »Und du – seit wann weißt du es?«

»Ich habe es die ganze Zeit gewußt, fast vom ersten Augenblick an.«

»Und ich bin blind wie ein Maulwurf gewesen«, rief er, und seine Stimme klang ärgerlich. »Ich habe es mir nicht träumen lassen bis zu dem Augenblick, als ich ... als ich dich küßte.«

»Das meinte ich nicht.« Sie zog sich ein wenig zurück und sah ihn an. »Ich meinte, ich wußte fast von Anfang an, daß du mich liebtest.«

»Und du?« fragte er.

»Das kam ganz plötzlich.« Sie sprach sehr langsam, in ihren Augen leuchtete ein warmes, unsicheres, zärtliches Licht, und auf ihren Wangen lag eine heiße Röte, die nicht weichen wollte. »Ich habe es nie gewußt ... bis du mich in deine Arme schlossest. Und ich hätte nie daran gedacht, dich zu heiraten, Martin, bis heute. Wie hast du es nur gemacht, daß ich dich liebe?«

»Ich weiß es nicht«, lachte er. »Wohl nur dadurch, daß ich dich liebte; denn ich liebte dich heiß genug, um einen Stein zu schmelzen, wieviel eher das Herz eines lebendigen atmenden Mädchens, wie du es bist.«

»Das ist alles so anders, als ich mir die Liebe gedacht habe«, sagte sie plötzlich zusammenhanglos.

»Wie hast du sie dir denn gedacht?«

»Ich glaubte nicht, daß es so wäre.« Sie sah ihm beim Sprechen in die Augen, dann aber schlug sie die ihren nieder und fuhr fort: »Ich wußte ja nicht, wie es war.«

Er versuchte sie wieder an sich zu ziehen, aber es war nur die Andeutung einer Muskelbewegung in dem Arm, der sie umschloß, denn er fürchtete, zu gierig zu sein. Da fühlte er, wie ihr Körper nachgab, und wieder lag sie, Lippe auf Lippe gepreßt, eng an ihm.

»Was sie nur zu Hause sagen werden?« fragte sie plötzlich erschrocken in einer Pause.

»Das weiß ich nicht. Aber wir können es ja leicht erfahren, sobald wir wollen.«

»Wenn Mutter sich aber widersetzt? Ich fürchte mich schrecklich davor, es ihr zu sagen.«

»Dann laß mich es ihr sagen«, schlug er mutig vor. »Ich glaube zwar nicht, daß deine Mutter mich besonders gern hat, aber ich werde schon ihre Einwilligung erringen. Der Mann, der dich gewinnen kann, kann alles gewinnen. Und selbst, wenn wir nicht ...«

»Was dann?«

»Nun, so haben wir ja uns. Aber es ist keine Gefahr, daß deine Mutter nicht in unsere Heirat einwilligt. Sie liebt dich viel zu sehr.«

»Ich möchte ihr nicht das Herz brechen«, sagte Ruth sinnend.

Er hätte ihr am liebsten versichert, daß die Herzen der Mütter nicht so leicht brechen. Statt dessen aber sagte er: »Und Liebe ist das Größte auf der Welt.«

»Weißt du, Martin, manchmal erschreckst du mich. Das tust du auch jetzt, wenn ich daran denke, wie du gewesen bist. Du mußt sehr, sehr gut zu mir sein. Vergiß nicht, daß ich trotz allem noch ein Kind bin. Ich habe noch nie geliebt.«

»Ich auch nicht. Wir sind beide Kinder. Und wir sind glücklicher als die meisten, denn wir haben uns in unserer ersten Liebe gefunden.«

»Aber das ist doch unmöglich!« rief sie und löste sich mit einer hastigen, leidenschaftlichen Bewegung aus seinen Armen. »Unmöglich! Du bist Seemann gewesen, und Seeleute, wie ich gehört habe, sind ... sind ...«

Ihre Stimme zitterte und versagte.

»Sind gewohnt, in jedem Hafen eine Liebe zu haben«, ergänzte er. »Ist es das, was du meinst?«

»Ja«, antwortete sie leise.

»Aber das ist nicht Liebe«, sagte er ruhig. »Ich bin in vielen Häfen gewesen, aber ich habe nie, selbst noch so kurz, etwas gefühlt, das Liebe genannt werden könnte, ehe ich dich an jenem ersten Abend sah. Denk' dir, als ich dir Lebewohl gesagt hatte und heimging, wäre ich fast verhaftet worden.«

»Verhaftet?«

»Ja. Der Schutzmann glaubte, daß ich betrunken wäre, und ich war es auch – trunken von Liebe zu dir.«

»Aber du sagtest, wir wären Kinder, und ich sagte, bei dir sei das unmöglich, und wir sind vom Kern der Sache abgekommen.«

»Ich sagte, daß ich nie eine andere als dich geliebt hätte«, antwortete er. »Du bist meine erste, meine allererste Liebe.«

»Und doch bist du Seemann gewesen.«

»Aber das hindert doch nicht, daß du meine erste Liebe bist.«

»Und es hat Frauen gegeben ... andere Frauen – ach!«

Und zu Martin Edens äußerstem Erstaunen brach sie in einen Strom von Tränen aus, und es bedurfte vieler Küsse und Liebkosungen, um sie zu beruhigen. Und die ganze Zeit ging ihm eine Zeile von Kipling durch den Kopf: »Und des Obersten Frau und Judy O'Grady sind Schwestern zuletzt.« Das ist also wahr, sagte er bei sich, obgleich die Romane, die er gelesen, ihm einen andern Begriff gegeben hatten. Der Eindruck, den er durch die Romane gewonnen hatte, war, daß man in den höheren Klassen nur formelle Anträge kannte. Die jungen Männer und Mädchen seiner Schicht konnten sich durch die Berührung gewinnen, den erhabenen Wesen aber, die droben auf den Zinnen standen, auf diese Weise den Hof zu machen, war undenkbar. Und doch hatten die Romane unrecht. Er hatte ja den Beweis in Händen. Derselbe Druck, dieselbe wortlose Liebkosung, die auf das junge Mädchen aus der arbeitenden Klasse wirkten, wirkten ebenso auf das junge Mädchen, das über ihr stand. Sie waren trotz alledem aus demselben Fleisch – Schwestern im Grunde – und das hätte er ja selbst wissen können, wenn er nur an seinen Spencer gedacht hätte. Während er Ruth in seinen Armen hielt und sie beruhigte, war ihm der Gedanke ein großer Trost, daß »des Obersten Frau und Judy O'Grady Schwestern zuletzt« waren. Das brachte Ruth ihm näher, machte sie erreichbarer. Ihr geliebter Körper war wie der Körper aller andern Menschen – wie sein eigener Körper.

Es gab keinen Grund, daß sie sich nicht heirateten, der einzige Unterschied war der Klassenunterschied, und der war ein rein äußerlicher. Man konnte ihn abschütteln. Er hatte von einem Sklaven gehört, der es bis zum Purpur des römischen Kaisers gebracht hatte. War das möglich, so konnte er sich auch zu Ruth erheben. Ohne ihre engelhafte Reinheit, ihre Kultur und ihre ätherische Seelenschönheit war sie in allen rein menschlichen Dingen genau wie Lizzie Connolly und die andern jungen Mädchen dieser Art. Alles, was man von ihnen denken konnte, konnte man auch von ihr denken. Sie konnte lieben und hassen, vielleicht sogar hysterisch und ganz sicher eifersüchtig sein, wie sie es jetzt war, als sie müde in seinen Armen weinte.

»Außerdem bin ich älter als du!« rief sie plötzlich, öffnete die Augen und sah zu ihm auf. »Vier Jahre älter.«

»Still! Du bist nur ein Kind, und an Erfahrung bin ich vierzig Jahre älter als du«, lautete seine Antwort. Wirklich, in allem, was ihre Liebe betraf, waren sie Kinder, und in ihren Ausdrücken für diese Liebe waren sie ebenso naiv und unreif wie zwei Kinder, und das, trotzdem Ruth vollgepfropft war mit Universitätsbildung, und sein Kopf mit Philosophie und den harten Tatsachen des Lebens.

So saßen sie beieinander, während der strahlende Tag schwand, und sprachen zusammen, wie Verliebte so oft tun, von ihrer Liebe und von dem Schicksal, das sie auf so seltsame Art zusammengeführt hatte, und sie glaubten fest, daß sie sich so heiß liebten, wie noch keine vor ihnen sich geliebt hatten. Und immer wieder erzählten sie, welchen Eindruck sie bei ihrer ersten Begegnung aufeinander gemacht hatten, und immer wieder machten sie hoffnungslose Versuche, ihre Gefühle zueinander und den Wert dieser Gefühle zu zergliedern.

Die Wolkenmassen am Horizont im Westen schlossen sich über der sinkenden Sonne, und der ganze Himmelskreis flammte wie die rotesten Rosen, während der Zenit in derselben warmen Farbe strahlte. Das rosenrote Licht ergoß sich über sie und alles um sie her, und sie sang: »Leb' wohl, du schöner Tag!« Sie sang leise in seinem schirmenden Arm, und so saßen sie, Herz an Herz und Hand in Hand.

* * *

 


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