Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als Martin eines Tages gegen Abend mit einem Sonett kämpfte, das alle Schönheit und allen Gedankenreichtum, der in ihm glühte und wogte, verzerrte, wurde er ans Telephon gerufen. »Die Stimme einer Dame –, einer sehr feinen Dame«, spöttelte Herr Higginbotham, der ihn gerufen hatte.

Martin trat an das Telephon in der Ecke der Stube und fühlte eine warme Woge sein ganzes Wesen durchströmen, als er Ruths Stimme hörte. In seinem Kampf mit dem Sonett hatte er ihre Existenz ganz vergessen, und beim Klang ihrer Stimme fühlte er seine Liebe plötzlich wie einen Schlag. Und wie war diese Stimme doch! – fein und sanft wie Musik in der Ferne, oder eher wie eine Silberglocke mit einem reinen, kristallklaren Ton. Kein irdisches Weib hatte eine solche Stimme. Es war etwas Himmlisches in ihr. Sie kam aus einer andern Welt. Er hörte kaum, was sie sagte, so überwältigt war er, wenn er auch seine Miene beherrschte, denn er wußte, daß Bernard Higginbotham ihn mit seinen kleinen listigen Augen belauerte.

Es war nicht viel, was Ruth zu sagen hatte – nichts, als daß Norman am Abend mit ihr in einen Vortrag hätte gehen sollen, aber Kopfschmerzen hätte, und daß es ihr leid täte, und nun hätte sie die Karten, und ob er, wenn er nichts anderes vorhätte, vielleicht mit ihr gehen wollte?

Ob er wollte? Er mußte sich Gewalt antun, um den Eifer in seiner Stimme zu unterdrücken. Das war verblüffend. Er hatte sie stets nur in ihrem Heim gesehen, hatte nie den Mut gehabt, sie zu bitten, mit ihm auszugehen. Während er noch am Telephon mit ihr sprach, fühlte er einen ganz unmotivierten, aber überwältigenden Drang, für sie zu sterben, und Bilder von Heldentaten und Opfern kamen und gingen in seinem rastlosen Hirn. Er liebte sie so heiß, so schrecklich und hoffnungslos. In diesem Augenblick, als er sich so wahnsinnig glücklich fühlte, weil sie mit ihm – mit ihm, Martin Eden! – zu einem Vortrag gehen wollte, erhob sie sich so hoch über ihn, daß ihm schien, ihm bliebe nichts übrig, als für sie zu sterben. Das war die einzige Möglichkeit, das mächtige, erhabene Gefühl, das er für sie hegte, auszudrücken. Es war die stolze Verleugnung der wahren Liebe, die über alle Verliebten kommt, und über ihn kam sie hier am Telephon in einem Wirbelsturm von Flammen und Herrlichkeit; und für sie sterben, das fühlte er, hieß auf die rechte Art sein Leben gelebt und geliebt zu haben. Er war ja erst einundzwanzig Jahre alt und hatte noch nie geliebt.

Seine Hand zitterte, als er den Hörer anhängte, und er fühlte sich ganz matt, so heftig war der Aufruhr, der in seinem Innern tobte. Seine Augen leuchteten, und sein Gesicht war wie verwandelt, von allem irdischen Schmutz befreit, rein und heilig.

»Stelldichein außer dem Hause, was?« spottete sein Schwager. »Du weißt wohl, was das bedeutet. Nimm dich nur vor der Polizei in acht.«

Aber Martin konnte nicht von seiner Höhe herabsteigen. Selbst diese viehische Andeutung konnte ihn nicht zu Boden ziehen. Zorn und Kränkung waren Gefühle, die weit hinter seinem Horizont lagen. Er hatte eine große Vision gehabt und sich als Gott gefühlt und konnte nur tiefes, inniges Mitleid mit diesem elenden Wurm von Mensch fühlen. Er sah ihn nicht, obwohl seine Augen ihn von oben bis unten streiften, und ging wie im Traum zum Zimmer hinaus, um sich umzuziehen. Erst als er sein eigenes Zimmer erreicht hatte und sich seine Krawatte band, hörte er ein Geräusch, das ihm noch unangenehm in den Ohren tönte. Als er dieses Geräusch bis zu seinem Ursprung zurückverfolgte, wurde ihm klar, daß es Bernard Higginbothams verächtlicher Schlußschnaufer war, der jetzt erst sein Bewußtsein erreichte.

Als Ruths Haustür sich hinter ihnen geschlossen hatte, und er neben ihr die Treppe hinabschritt, überkam ihn eine große Unruhe. Es war keine ungemischte Freude, mit ihr zum Vortrag zu gehen. Er wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Wenn er Leute ihrer Klasse auf der Straße gesehen, hatte er gewöhnlich bemerkt, daß die Frau den Arm des Mannes nahm. Dann aber hatte er wieder Leute gesehen, die es nicht taten, und er dachte darüber nach, ob Frauen nur abends Arm in Arm mit Männern oder Verwandten gingen, oder ob es zwischen Mann und Frau und zwischen Verwandten so üblich war.

Als sie den Bürgersteig erreichten, mußte er indessen an Minnie denken. Minnie hatte immer sehr auf Formen gehalten. Sie hatte ihn einmal, als sie mit ihm spazierenging, ausgescholten, weil er nicht auf der richtigen Seite ging, und jedesmal, wenn er es vergaß, hatte sie ihm einen Fußtritt versetzt, um ihn daran zu erinnern, was sich gehörte. Er dachte darüber nach, wo sie wohl dies Stückchen Lebensregel erwischt hatte, ob es von den höheren Kreisen zu ihr herabgedrungen war, und ob er sich darauf verlassen konnte, daß es so stimmte.

Ein Versuch kann ja nie schaden, sagte er bei sich, als sie auf dem Bürgersteig waren, und er ging dann auch hinter ihr herum und gelangte zwischen sie und den Fahrdamm.

Aber nun tauchte die nächste Frage auf. Sollte er ihr den Arm reichen? Nie im Leben hatte er jemand den Arm gereicht. Die Mädchen, die er bisher gekannt hatte, nahmen nie den Arm eines Mannes. Sie gingen anfangs nebeneinander, bald aber hatte der Mann seinen Arm um ihren Leib geschlungen, und in dunklen Straßen lehnten sie das Haupt an seine Schulter. Aber jetzt war es etwas ganz anderes. Sie war ein ganz anderes Mädchen. Er mußte etwas tun. Er krümmte den Arm, der ihr am nächsten war, krümmte ihn ganz leicht und gleichsam versuchsweise, nicht einladend, sondern nur zufällig, als pflege er so zu gehen. Und da geschah das Wunder. Er fühlte ihre Hand auf seinem Arm. Ein wonniges Zittern durchfuhr seinen ganzen Körper bei der Berührung, und einen Augenblick war ihm, als würde er von der Erde gehoben und schwebte mit ihr durch die Luft. Bald aber befand er sich wieder auf der Erde und wurde von einer neuen Schwierigkeit gequält. Sie waren im Begriff, die Straße zu kreuzen. Dann ging er auf der falschen Seite. Sollte er ihren Arm fahren lassen und auf die andere Seite gehen? Und wenn er es tat, wäre er dann gezwungen, dasselbe Manöver Mal auf Mal zu wiederholen? Irgend etwas stimmte nicht, und er beschloß, nicht herumzutanzen und sich zum Narren zu machen. Dennoch befriedigte ihn das Ergebnis, zu dem er gekommen war, nicht, und als er sich jetzt auf der falschen Seite von Ruth befand, begann er eifrig und eindringlich auf sie einzureden, um sich den Anschein zu geben, als wäre er ganz von dem, was er sagte, in Anspruch genommen. So hatte er die Entschuldigung, daß er in der Hitze der Begeisterung vergessen hätte, den Platz mit Ruth zu tauschen, falls er es hätte tun müssen. Als sie über den Broadway schritten, wurde er einem neuen Problem gegenübergestellt.

In dem starken Licht der elektrischen Lampen sah er Lizzie Connolly und ihre lachlustige Freundin. Er zögerte einen Augenblick, dann aber hob er die Hand und nahm den Hut ab. Er konnte seinen eigenen Stand nicht verleugnen, und es war nicht Lizzie Connolly allein, vor der er den Hut abnahm. Sie nickte und sah ihn mit einem dreisten Blick an, nicht mit milden, freundlichen Augen wie Ruth, sondern mit Augen, die schön und hart waren und sofort von ihm zu Ruth schweiften, um sich über jede Einzelheit ihres Gesichts, ihrer Kleidung und ihrer Stellung in der Gesellschaft Klarheit zu verschaffen. Und er war sich auch bewußt, daß Ruth, hastig und furchtsam, die andere ansah, mit Augen, die sanft wie die einer Taube waren, aber doch zugleich dieses junge Mädchen aus der arbeitenden Klasse in ihrem billigen Putz und mit dem eigenartigen Hut, den alle jungen Mädchen der arbeitenden Klasse zur Zeit trugen, wogen und abschätzten.

»Welch ein hübsches Mädchen!« sagte Ruth einen Augenblick später.

Martin hätte sie segnen können, aber er sagte:

»Ich weiß nicht. Das ist ja Geschmackssache, aber ich finde sie nicht besonders hübsch.«

»Aber können Sie denn nicht sehen, daß nicht eine Frau von zehntausend so regelmäßige Züge wie sie hat? Ihr Gesicht ist so rein geschnitten wie eine Kamee. Und ihre Augen sind auch schön.«

»Finden Sie?« fragte Martin gleichgültig. Für ihn gab es nur eine schöne Frau in der Welt, und die ging neben ihm und hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt.

»Ob ich das finde? Wenn das junge Mädchen Gelegenheit hätte, sich besser zu kleiden, Herr Eden, und wenn sie etwas Haltung lernte, dann würden Sie, und dann würden alle Männer von ihr geblendet sein.«

»Sie müßte erst lernen, richtig zu sprechen,« sagte er, »sonst würden die meisten Männer sie gar nicht verstehen. Ich bin sicher, daß Sie, Fräulein Ruth, nicht die Hälfte von dem verstehen, was sie sagt, wenn sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«

»Unsinn! Sie sind ebenso verrückt wie Arthur, wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben.«

»Sie vergessen, wie ich gesprochen habe, als ich Sie kennenlernte. Seitdem habe ich eine neue Sprache gelernt, vorher aber redete ich so wie das junge Mädchen. Jetzt kann ich mich Ihnen hinreichend verständlich machen, um Ihnen zu erklären, daß Sie die Sprache dieses jungen Mädchens nicht kennen. Und wissen Sie, woher ihre Haltung kommt? Ich denke jetzt über diese Dinge nach, was ich früher nie getan habe, und fange an, vieles zu verstehen.«

»Nun, woher kommt sie denn?«

»Sie hat jahrelang viele Stunden täglich an der Maschine gearbeitet. Wenn der Körper jung ist, ist er sehr biegsam, und harte Arbeit formt ihn wie Wachs nach ihren Bedingungen. Ich kann vielen Arbeitern, die ich auf der Straße treffe, auf den ersten Blick ihre Beschäftigung ansehen. Schauen Sie mich an. Warum rolle ich stets hin und her? Weil ich so viele Jahre zur See gefahren bin. Wenn ich, als ich jung und biegsam war, ebenso viele Jahre Viehhüter gewesen wäre, dann würde ich jetzt nicht rollen, sondern O-Beine haben. Und ebenso ist es mit dem jungen Mädchen. Sie haben bemerkt, daß ihre Augen, sagen wir, hart sind. Sie ist nie beschirmt worden. Sie hat sich immer selbst behüten müssen, und dabei kann ein junges Mädchen nicht sanfte, freundliche Augen behalten wie ... wie Ihre zum Beispiel.«

»Ja, das stimmt sicher«, sagte Ruth leise. »Aber es ist sehr traurig. Sie ist ein so hübsches Mädchen.«

Er blickte sie an und sah, daß ihre Augen von Mitleid schimmerten. Und dann erinnerte er sich, daß er sie liebte, und vergaß alles über dem Erstaunen, daß sein Glück ihm erlaubte, sie zu lieben und Arm in Arm mit ihr zu einem Vortrag zu gehen.

»Wer bist du, Martin Eden?« fragte er sein Spiegelbild am Abend, als er wieder in seinem Zimmer war. Er betrachtete sich lange und neugierig. »Wer bist du? Was bist du? Wo gehörst du hin? Eigentlich gehörst du zu Mädchen wie Lizzie Connolly. Du gehörst zu den Heerscharen der Schwerarbeitenden, zu allem, was niedrig und gewöhnlich und unschön ist. Du gehörst zu Ochsen und Sklaven, in eine schmutzige, stinkende Umgebung. Hier ist zum Beispiel das verdorbene Gemüse. Diese Kartoffeln sind verfault. Riech an ihnen, pfui Teufel! – Riech an ihnen. Und doch darfst du die Bücher öffnen, darfst du schöne Musik anhören, lernen, schöne Gemälde zu lieben, rein und korrekt zu sprechen, Gedanken zu denken, die kein anderer deines Standes denkt, und doch darfst du dich losreißen von den Arbeitstieren und den Frauen von der Art Lizzie Connollys und eine blasse, zarte Frau lieben, die millionenmal über dir steht und bei den Sternen lebt. Wer bist du? Und was bist du? Donnerwetter! Und wie weit wirst du es bringen?«

Er drohte seinem Spiegelbild mit der geballten Faust und setzte sich auf den Bettrand, um eine Weile mit offenen Augen zu träumen. Dann aber nahm er sein Mathematikbuch und sein Aufgabenheft vor, und bald verlor er sich in quadratischen Gleichungen, und die Stunden flogen, die Sterne verblaßten, und schließlich strömte das graue Licht der Dämmerung durch sein Fenster.

* * *

 


 << zurück weiter >>