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Eine schreckliche Unrast, eine Art Hunger hatte Martin Eden gepackt. Ihn hungerte nach dem Anblick des jungen Mädchens, dessen zarte Hände so gewaltsam in sein Leben gegriffen hatten, aber er konnte sich nicht dazu ermannen, sie zu besuchen. Er fürchtete, daß es zu früh sein, und daß er sich dadurch eines furchtbaren Bruchs dieses »Etikette« genannten Dinges schuldig machen würde. Er verbrachte viele Stunden in den Volksbibliotheken von Oakland und Berkeley und erwarb die Mitgliedschaft für sich, seine beiden Schwestern Gertrude und Marian, sowie für Jim, dessen Einwilligung er jedoch erst nach verschiedenen Gläsern Bier erlangte. Und auf die vier Karten brachte er Bücher mit heim und brannte bis spät in die Nacht hinein in seinem Stübchen Gas, wofür Bernard Higginbotham ihm fünfzig Cent wöchentlich extra ankreidete.

Aber die vielen Bücher, die er las, erhöhten nur seine Unrast. Jede Seite aller dieser Bücher war ein Guckloch ins Reich der Erkenntnis. Und sein Hunger wuchs nur mit dem Lesen. Dazu wußte er nicht, wo beginnen, und litt beständig unter seiner mangelhaften Vorbereitung. Die gewöhnlichsten Hinweise, die seiner Meinung nach alle Menschen kennen mußten, waren ihm unbekannt. Und dasselbe galt auch von den Gedichten, die er las, und die ihn toll vor Entzücken machten. Er las mehr von Swinburne, als in dem Bande stand, den Ruth ihm geliehen hatte, und »Dolores« verstand er völlig. Ruth aber, meinte er, könnte es unmöglich verstehen. Wie sollte sie auch, sie, dieses verfeinerte, wohl behütete junge Mädchen? Dann erwischte er einen Band Gedichte von Kipling und wurde völlig hingerissen von dem Rhythmus, dem Schwung und dem Glanz, den der Dichter alltäglichen Dingen verlieh. Er war erstaunt über die Lebensfreude und die scharfe Psychologie des Mannes. Psychologie war ein neues Wort in Martins Wortschatz. Er hatte sich ein Wörterbuch gekauft, was seinen Geldbeutel stark angegriffen und den Tag seiner Abfahrt nähergerückt hatte. Bernard Higginbotham war darüber erbost, da er es lieber gesehen hätte, wenn das Geld in Kost und Logis umgesetzt worden wäre.

Am Tage wagte er sich nicht in die Gegend, wo Ruth wohnte, abends aber schlich er wie ein Dieb um das Haus der Familie Morse, warf verstohlene Blicke zu den Fenstern hinauf und liebte selbst die Mauern, die SIE schützten. Einige Male entwischte er mit Mühe und Not ihren Brüdern, und einmal folgte er ihrem Vater bis in die Stadt, studierte sein Gesicht im Schein der Straßenlaternen und wünschte sich nichts heißer, als daß er in irgendeine Gefahr geriete, so daß er hinzuspringen und ihn retten könnte. Wieder an einem Abend wurde seine Ausdauer dadurch belohnt, daß er an einem Fenster im zweiten Stock einen Schimmer von Ruth erblickte. Er sah nur ihren Kopf, ihre Schultern und die Arme, die sie hob, um ihr Haar vor einem Spiegel zu ordnen. Es dauerte nur einen Augenblick. Aber ihm schien es eine Ewigkeit, in der sein Blut zu Wein ward und singend durch seine Adern brauste. Dann ließ sie die Gardine herab. Aber nun wußte er, welches Zimmer ihr gehörte, und von jetzt an stand er oft hier auf der andern Seite der Straße im Schatten eines Baumes und rauchte unzählige Zigaretten. Eines Nachmittags sah er ihre Mutter aus einer Bank kommen, und das überzeugte ihn von neuem von dem ungeheuren Abstand, der Ruth von ihm schied. Sie gehörte der Klasse an, die mit Banken zu tun hatte. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in einer Bank gewesen und stellte sich vor, daß diese Einrichtung nur für die ganz Reichen und Mächtigen bestand.

In gewisser Weise war eine moralische Umwälzung in ihm vorgegangen. Ihre körperliche und geistige Reinheit hatte ihre Wirkung auf ihn ausgeübt, und er fühlte einen heißen Drang, selbst rein zu sein. Er mußte es sein, wenn er je würdig werden wollte, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Er bürstete sich die Zähne und schrubbte sich die Hände mit einer Scheuerbürste, bis er einmal im Schaufenster eines Drogisten eine Nagelbürste sah und ihren Zweck erriet. Er ging hinein, kaufte sie, und der Kommis, der seine Nägel sah, empfahl ihm auch eine Nagelfeile. So wurde er Besitzer noch eines Toilettengegenstandes. Zufällig stieß er in der Bibliothek auf ein Buch über Körperpflege, und sofort entwickelte sich bei ihm eine Neigung für ein tägliches kaltes Morgenbad, zum großen Erstaunen Jims und zum Ärger Bernard Higginbothams, der für derartige vornehme Übergeschnapptheiten nichts übrighatte und ernsthaft überlegte, ob er Martin nicht für das Wasser extra bezahlen lassen sollte. Ein weiterer Fortschritt waren Bügelfalten in seinen Hosen. Als Martins Interesse für derartige Dinge einmal geweckt war, bemerkte er schnell den Unterschied zwischen den gebeutelten Knien in den Hosen der arbeitenden Klasse und der geraden Linie vom Knie bis zum Fuß, die er bei Männern besserer Herkunft sah. Er lernte auch, wie er es machen mußte, und drang in die Küche seiner Schwester ein, um Bügeleisen und Plättbrett zu finden. Das erstemal hatte er Pech und verbrannte eine Hose, so daß sie völlig unbrauchbar wurde und er sich eine neue kaufen mußte, eine Ausgabe, die wiederum den Tag seiner Abreise näherrückte.

Aber diese Reformen gingen weiter als bis zu seiner äußeren Erscheinung. Zwar rauchte er immer noch, aber er trank nicht mehr. Bisher hatte er Trinken für eine sehr angemessene Beschäftigung für Männer gehalten und war stolz auf seinen starken Kopf gewesen, der ihn befähigt hatte, die meisten Männer unter den Tisch zu trinken. Sooft er einen alten Schiffskameraden traf – und es gab viele in San Franzisko –, lud er ihn wie in alten Tagen ein und wurde wieder eingeladen, aber er selbst forderte nur alkoholfreie Getränke und ließ sich ihre Neckereien gutlaunig gefallen. Und wenn sie dann allmählich redselig wurden, beobachtete er sie und sah, wie das Tier in ihnen erwachte und sie übermannte, und er dankte Gott, daß er jetzt anders war als sie. Sie mußten ihre Grenzen vergessen, und wenn sie berauscht waren, wurde ihr benebeltes, dummes Hirn so weitschauend wie das der Götter, und jeder einzelne herrschte in eben dem Himmel, den sein berauschtes Verlangen ihm schuf. Martins Drang nach starken Getränken war verschwunden. Er war auf eine neue Art berauscht – berauscht von Ruth, die die Flamme der Liebe in ihm entzündet und ihm einen Funken höheren, ewigen Lebens gezeigt hatte; berauscht von Büchern, die ein Ameisenkribbeln von Verlangen und Entbehrung in seinem Hirn geweckt hatten; berauscht von dem Gefühl persönlicher Reinheit, die er erstrebte, die ihn noch gesunder und kräftiger machte, als er früher gewesen war, und die seinen ganzen Körper mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens durchbebte.

Eines Abends ging er in der Hoffnung, sie vielleicht zu sehen, ins Theater, und von der Galerie aus sah er sie auch wirklich. Er sah sie durch den Mittelweg gehen mit Arthur und einem fremden jungen Mann mit einer mächtigen Tolle und einer Brille, bei dessen Anblick ihn augenblicklich Unruhe und Eifersucht befiel. Er sah, wie sie ihren Orchesterplatz einnahm, und viel mehr sah er an diesem Abend nicht – nur, undeutlich in der Ferne, ihre feinen weißen Schultern und einen Schwall blaßgoldenen Haares. Aber andere hatten auch Augen, und jedesmal, wenn er den Blick über die Umsitzenden gleiten ließ, bemerkte er einige Plätze weiter in der Reihe vor sich zwei junge Mädchen, die sich umdrehten und ihn mit dreisten Augen betrachteten. Er war immer recht gutmütig gewesen. Von Natur aus war er durchaus nicht abweisend. In alten Tagen würde er wiedergelächelt und sie dadurch noch ermutigt haben. Jetzt aber war es anders. Er lächelte zwar, wandte aber den Kopf ab und bemühte sich, nicht mehr hinzusehen. Mehrmals jedoch, wenn er die beiden jungen Mädchen ganz vergessen hatte, wurde sein Blick von ihrem Lächeln gefangen. Er konnte sich weder an einem Tage verändern, noch seine angeborene Gutmütigkeit vergewaltigen, und deshalb lächelte er in diesen Augenblicken die beiden jungen Mädchen an, nur aus reinem warm-menschlichen Gefühl. Es war ihm nichts Neues. Er wußte, daß sie ihre Hände nach ihm ausstreckten. Aber jetzt war es etwas anderes. Unten im Parkett saß die Einzige in der ganzen Welt, so anders – so erschreckend anders – als diese beiden jungen Mädchen seiner eigenen Klasse, daß er für die nur Mitleid und Kummer fühlte. Er wünschte im Innern, daß sie einen geringen Bruchteil IHRER Güte und Herrlichkeit erlangen könnten. Aber um keinen Preis wollte er sie kränken, weil sie die Hände nach ihm ausstreckten. Er fühlte sich nicht dadurch geschmeichelt, im Gegenteil, eher ein wenig beschämt, daß seine eigene Niedrigkeit es ihnen erlaubte. Hätte er dem Kreise Ruths angehört, so hätten diese jungen Mädchen, das wußte er, keine Annäherung versucht. Und bei jedem Blick, den sie ihm sandten, war ihm, als ob der Stand, dem er angehörte, nach ihm griffe, um ihn niederzuhalten.

Er verließ seinen Platz, ehe der Vorhang nach dem letzten Akt gefallen war, denn er wollte sie sehen, wenn sie herauskam. Es standen immer viele Männer vor dem Theater, und er brauchte nur die Mütze in die Stirn zu ziehen und sich hinter einem andern Mann zu verstecken, damit sie ihn nicht bemerkte. Er war einer der ersten, der das Theater verließ, aber kaum hatte er sich auf den Bürgersteig gestellt, als auch schon die beiden jungen Mädchen herauskamen. Er wußte gut, daß sie es auf ihn abgesehen hatten, und in diesem Augenblick hätte er seine Anziehungskraft auf Frauen verfluchen können. Er merkte, daß sie ihn gesehen hatten, denn sie gingen, gleichsam zufällig, schräg über die Straße, um in seine Nähe zu gelangen. Dann gingen sie langsamer, tauchten mitten im dichtesten Gewühl neben ihm auf, und die eine von ihnen tat, als ob sie ihn zum erstenmal bemerkte. Sie war ein schlankes, dunkles Mädchen mit schwarzen, herausfordernden Augen, die den seinen lächelnd begegneten. Er lächelte zurück.

»Hallo!« sagte er.

Das geschah rein mechanisch; er hatte dasselbe so oft unter ähnlichen Umständen, bei einer ersten Begegnung, gesagt. Weniger konnte er ja übrigens auch nicht tun. Bei der großen Nachsicht und Freundlichkeit seines Wesens konnte er wirklich nicht weniger tun. Das schwarzäugige junge Mädchen lächelte heiter und einladend und machte Miene, stehenzubleiben, ebenso wie ihre Freundin, die Arm in Arm mit ihr ging. Er überlegte schnell. Es war nicht auszudenken, daß sie jetzt herauskommen sollte und ihn hier stehen und mit den beiden reden sehen. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, trat er neben die Dunkeläugige und ging mit ihr weiter. Hier kannte er keine Verlegenheit. Hier war er zu Hause, und er war ein Meister in der leichten, mit Slang und heiterer Neckerei gemischten Unterhaltung, die stets der erste Schritt zu weiterer Entfaltung derartiger schnell gemachter Bekanntschaften war. An der Ecke, wo der Hauptstrom in derselben Richtung weiterfloß, bog er in die Querstraße ab. Aber das junge Mädchen mit den schwarzen Augen packte ihn am Arm und ging, ihre Begleiterin mit sich ziehend, mit.

»Halt, Bill! Warum so eilig? Meinst du, daß du uns gleich wieder loswerden kannst?«

Er blieb stehen und wandte sich ihnen lächelnd zu. Über ihre Schultern hinweg konnte er die Menge sehen, die sich im Schein der Straßenlaternen vorüberdrängte. Hier war es weniger hell, und er konnte sie unbemerkt sehen, wenn sie vorbeikam. Sie mußte vorbeikommen, denn der Weg führte zu ihrem Hause. »Wie heißt sie?« fragte er das kichernde junge Mädchen und machte eine Kopfbewegung nach der Dunkeläugigen.

»Frag' sie selbst«, lautete die Antwort, die fast von Lachen erstickt wurde.

»Na also, wie heißt du denn?« fragte er und wandte sich zu der andern.

»Du hast mir ja auch nicht erzählt, wie du heißt«, antwortete sie.

»Du hast mich ja auch nicht gefragt«, antwortete er lächelnd. »Übrigens hast du es gleich erraten, Bill, jawohl.«

»Ach, geh!« Sie sah ihm mit einem brennenden einladenden Blick in die Augen. »Wie heißt du – aber wirklich!«

Wieder sah sie ihn an. Alle Jahrhunderte des Weibes von ihrer ersten Geschlechtsregung an sprachen aus ihren Augen. Und er maß sie mit einem gleichgültigen Blick und wußte, daß sie, wenn er sie, die jetzt so dreist war, verfolgte, sofort schamhaft und vorsichtig ihren Rückzug antreten, aber stets, sobald sein Eifer nachließe, bereit sein würde, umzukehren. Aber auch er war nur ein Mensch, und er spürte ihre Anziehungskraft und fühlte sich unbewußt von ihrer Freundlichkeit geschmeichelt. Oh, er kannte ja dies alles, kannte diese Mädchen in- und auswendig. Gute Mädchen, was man in ihrem Stande »gut« nannte, Mädchen, die um geringen Lohn schwer arbeiteten und sich für zu gut hielten, als daß sie sich für ein angenehmeres Leben verkauft hätten; Mädchen, die erfüllt waren von einem fieberhaften Drang nach einem ganz klein wenig Glück in der Wüste des Daseins. Dann kam die Zukunft, die zwischen dem Elend ewiger Plackerei und dem noch größeren Elend schwankte, zu dem der Weg kürzer, wenn auch besser bezahlt war.

»Bill«, antwortete er nickend. »Wahrhaftig, Bill und nicht anders.«

»Du uzt mich nicht?« fragte sie.

»Es ist nicht wahr«, mischte sich das andere Mädchen ein.

»Woher weißt du das?« fragte er. »Du hast mich doch noch nie gesehen.«

»Das ist nicht nötig, um zu wissen, daß du lügst«, lautete die Antwort.

»Sag' nun, wie du heißt, Bill«, drängte das erste junge Mädchen.

»Bill ist wohl ebensogut wie jeder andere Name«, sagte er.

Sie griff seinen Arm und schüttelte ihn scherzend.

»Ich wußte, daß du lügst, aber deshalb gefällst du mir doch.«

Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und fühlte auf der Handfläche vertraute Zeichen und Narben.

»Wann hast du in der Konservenfabrik aufgehört?« fragte er.

»Woher weißt du?« und »Gott, er ist wohl Gedankenleser!« riefen die jungen Mädchen im Chor.

Und während er törichte Worte mit ihnen wechselte, wie sie für törichte Seelen paßten, erhoben sich vor seinen innern Augen die Bücherregale der Bibliothek voll von der Weisheit der Jahrhunderte. Er lächelte weiter bei dem Gedanken an den inneren Gegensatz in alledem, und ein starker Zweifel stieg in ihm auf. Und während er, von seinen inneren Gesichten und seiner rein äußeren Heiterkeit in Anspruch genommen, hier stand, hatte er sogar noch Zeit, die Menge zu beobachten, die aus dem Theater strömte. Und da sah er sie im Schein der Laternen, zwischen ihrem Bruder und dem fremden jungen Mann mit der Brille, und ihm war fast, als ob sein Herz stillstände. Lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Er konnte eben das spinnwebfeine Tuch, das den stolzen Kopf verbarg, die schönen Linien der verhüllten Gestalt, die anmutige Haltung und die Hand, die die Röcke hob, bemerken, dann war sie verschwunden, und er stand da und starrte auf die beiden Fabrikarbeiterinnen, ihren armseligen Ersatz schöner Kleider, ihre tragischen Bemühungen, rein und fesch zu sein, den billigen Stoff, die billigen Bänder und die billigen Ringe an ihren Fingern. Er fühlte, wie die eine ihn am Arm zog, und hörte eine Stimme:

»Wach' auf, Bill! Was ist los mit dir?«

»Was sagst du?« fragte er.

»Ach nichts«, antwortete das dunkle junge Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich wollte nur ...«

»Was?«

»Na, ich meinte nur, es wäre eine gute Idee, wenn du einen Freund hättest ... für sie« (sie zeigte auf ihre Freundin), »dann könnten wir Eis essen oder eine Tasse Kaffee trinken gehen.«

Ein plötzliches Gefühl seelischer Übelkeit überkam ihn. Der Übergang von Ruth zu dem hier war zu plötzlich gewesen. Neben den dreisten, frechen Augen des jungen Mädchens sah er die klaren, strahlenden Ruths, Augen, die ihn an eine Heilige erinnerten, und die aus unermeßlichen Tiefen von Reinheit auf ihn blickten. Und er fühlte es mächtig in sich regen. Er war besser als die andern. Das Leben bedeutete für ihn mehr als für diese beiden jungen Mädchen, deren Gedanken nicht höher flogen als bis zu Eis und einem »Freunde«. Er erinnerte sich, daß er in Gedanken stets ein geheimes Leben gelebt hatte. Er hatte versucht, seine Gedanken mit andern zu teilen, aber noch nie hatte er eine Frau gefunden, die imstande gewesen war, ihn zu verstehen – und auch nie einen Mann. Er hatte es zuweilen versucht, hatte aber dabei seinen Zuhörer nur verwirrt. Und wie seine Gedanken höher flogen als die ihrigen, so verlangte er auch mehr vom Leben; aber eine Gesellschaft wie diese konnte ihm nicht mehr geben. Die dreisten, schwarzen Augen hatten nichts zu bieten. Er kannte die Gedanken, die hinter ihnen lagen – Gedanken an Eis und etwas mehr. Aber die heiligen Augen neben ihnen – die boten ihm alles, was er wußte, und mehr, als er ahnen konnte. Sie boten ihm Bücher und Gemälde, Schönheit und Ruhe und die ganze Feinheit und Auserlesenheit eines höheren Daseins. Er kannte jeden Gedanken hinter den schwarzen Augen. Das war wie ein Uhrwerk. Er konnte alle Räder sich drehen sehen. Was sie ihm boten, waren niedrige Genüsse, eng wie das Grab, Genüsse, vor denen man sich ekelte; und das Ende von allem war das Grab. Was aber die heiligen Augen ihm boten, war Mysterium, war das unergründliche Wunder und das ewige Leben. Er hatte einen Schimmer ihrer Seele darin gesehen, und dazu einen Schimmer seiner eigenen Seele.

»Das Programm hat nur einen Haken«, sagte er laut. »Ich hab' heute schon eine Verabredung.«

Ein Ausdruck von Enttäuschung flammte in den Augen des Mädchens auf.

»Wohl bei einem kranken Freund wachen, was?« spottete sie.

»Nein, eine wirkliche Verabredung mit –«, er stotterte, »mit einem Mädchen.«

»Du führst mich nicht an?« fragte sie ernst.

Er sah ihr in die Augen und antwortete: »Es stimmt schon. Aber warum können wir uns nicht ein andermal treffen? Du hast mir noch nicht gesagt, wie du heißt und wo du wohnst.«

»Lizzie«, erwiderte sie, sofort besänftigt, und ihre Hand preßte seinen Arm, während sie sich anlehnte. »Lizzie Connolly. Und ich wohne an der Ecke der Fünften und der Market.«

Er unterhielt sich noch einige Minuten mit ihnen und sagte ihnen dann gute Nacht. Er ging nicht gleich heim, sondern blieb unter dem Baum stehen, wo er so viele Stunden verbracht hatte, und murmelte: »Die Verabredung war mit dir, Ruth. Um deinetwillen habe ich sie gehalten.«

* * *

 


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