Hermann Löns
Mein grünes Buch
Hermann Löns

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Silvesternebel

Kahlfrost, den mag ich nicht. Es ist mir dann zu nackt draußen, mich friert dabei. Schnee muß ich haben, soll mir der Winter Freude machen, weicher, weißer, dicker Schnee, der wärmt mir das Herz und macht meine Augen froh. Bei Kahlfrost wintert mir alle Lebenslust aus.

Darum lachte ich damals, als ich nachts aus dem Café kam, in der Nacht vor dem Silvestertag. Kalt pfiff es über die Georgstraße, und weiß stob es über ihre Trottoire, und als die anderen Menschen mit zugekniffenen Lippen eilig heimgingen, da schritt ich langsam über die Straße und atmete tief.

Früh war ich auf am anderen Morgen. Und froh. Ich sang, als ich in die Stiefel fuhr. Das war lange nicht vorgekommen. Und als ich auf die Straße kam, wo der Sturm pfiff und johlte wie betrunken und weiße Fahnen schwenkte, da hätte ich gern weiter gesungen.

Die Fahrt in der Eisenbahn war wunderschön. Durch fremde Welten führte sie, durch weißverschleierte Länder. Keine Station war zu erkennen, jede Dorfsilhouette war verwischt, alles begrub der Sturm im Winterschnee.

Die Endstation, ich kannte sie kaum wieder. Brüllend warf der Nordwind den Schnee über die Geleise, wirbelte ihn in Wolken über den Perron, fegte ihn in wilden Strudeln über die Straße. Eine tolle Freude faßte mich und machte mich frosthart und sturmfest.

Schneewolken warf mir der Sturm nach, als ich im Dorf in die Gaststube trat. Da war es mir aber zu heiß, das Blut sprang mir krabbelnd durch die Adern, und schnell rettete ich mich wieder in das weiße Schneesturmbad.

»Kriegst ja doch nichts!« hatten die Freunde gesagt, die da bei Grog und Karten eingeschneit waren. Was wissen die denn? Fuchs und Has, was mir daran liegt heute! Nicht so viel! Großes such ich nach den Kleinheiten der Stadt, Weites nach ihrer Enge, Hartes nach ihrer Weichlichkeit, Frische nach ihrem erschlaffenden Druck.

Alles das fand ich draußen. Schritt um Schritt mußte ich mit dem Sturm ringen, jeden Tritt dem Schnee abzwingen, manchmal wurde mir schwach zumute, aber am Ende wurde ich Herr über Sturm und Schnee.

Die Stunden flogen dahin wie die Flocken im Sturm. Und mit den Stunden Unruhe und Nervengekribbel. Und wie der Sturm sich brach und über der weißen Weite blaßblaugrauer Abendhimmel stand, da war ich umgeschaffen und neu geboren und wußte nichts von den Sorgen und dem Ärger und den Kämpfen der letzten Zeit, und still wie am Himmel der helle Mond leuchtete in mir ruhige Gleichmütigkeit.

Oben auf der Düne stand ich und sah in die weiße Feldmark, in der riesengroß, durch die Maßstabslosigkeit des Geländes unmeßbar geworden, die Hasen und Rehe sich hin und her bewegten.

Goldener Gleichmut ging in mir auf. Lächelnd sah ich auf das, was unter mir war, Angst und Ärger und Sorgen, einmal fällt doch der Schnee darüber, und der tollste Sturm, er hat sein Ziel und sein Ende.

Morgen fängt ein neues Jahr an. Ohne Angst und ohne Hoffen sehe ich ihm entgegen. Es wird Mai werden. Dann sind hier alle Birken grün und alle Böcke rot, die Grauartschen singen, und der Stechginster blüht. Nachher kriegt die Heide ihre Rosenfarbe, dann blaßt sie ab, und wieder fällt Schnee auf alles, ein Jahr wie das andere.

Auf der anderen Seite der Düne liegt das Moor. Es ist heute so weit und so weiß. Sonst ist es eng und braun. Wie ist es nun in Wirklichkeit? Und wie sind wir? Heute so, morgen so. Wie das Wetter des Schicksals es will.

Sonst kenne ich jeden Fußbreit darin, heute weiß ich nicht ein noch aus. Heute haben wir im Leben Ziel und Zweck, morgen ist alles verschneit, und Wege und Stege sind fort.

Das dachte ich so, als ich unter der krummen Schirmfuhre saß, die über dem alten Abstieg steht, und vor mich hindämmerte. Bis der Fuchs mich weckte, der hinten im Stiftsmoor bellte. Da sah ich auf und sah nichts mehr, keine Fuhre, keine Birke, keinen Torfhaufen, weder Torfkuhle noch Moordamm. Der Nebel war gekommen vom Steinhuder Meer und hatte alles ausgelöscht, was ich wußte. Schnee lag über der Vergangenheit und Nebel vor der Zukunft.

Morgen ist Neujahr. Eine Neue liegt auf seinen Wegen, und Nebel verhüllt die Aussicht. Rosige Blumen werden neben schwarzen Torflöchern blühen, goldene Blüten leuchten über verräterischem Schlamm. Das große Moor des letzten Jahres habe ich hinter mir, im neuen kenne ich nicht Weg noch Steg.

Mir wird zu einsam. An meinen eigenen Fußstapfen helfe ich mir heraus aus dem Moor. Andere sind nicht da wie im Leben auch nicht. Schließlich ist man doch immer allein, trotz aller Freunde. Das ist traurig, aber wenn man es eingesehen hat, auch tröstlich.

Der Nebel ist dick wie eine Wand. Er ist vor mir und hinter mir und rechts und links und über mir, und unter mir auch, denn keine Fußspur, keine Wagentrane weist der Schnee auf.

Wie ein Blinder gehe ich weiter. Ab und zu strecke ich die Hand aus, um zu wissen, daß ich noch sehen kann. Manchmal bohre ich die Augen in die weiße Dunkelheit, ob da kein Licht vom Dorfe ist, oder sehe nach oben, einen Stern erhoffend, oder bleibe stehen und horche, ob ein Hund kläfft, aber immer lächle ich müde und stampfe weiter, blind, taub und stumm.

Längst müßte ich beim Dorfe sein. Da ist es: die ersten Bäume. Nein, eine Täuschung der Augen! Aber da, endlich, Fußspuren im Schnee. Die führen zum Dorf. Denen folge ich, neuer Hoffnung voll, aber hungrig und müde.

Wie lange, das weiß ich nicht. So lange, bis ich einen Schreck bekam. Als ich sie verlor. Und als ich sie wiederfand nach angstvollem Hin- und Herlaufen, da war ich so froh. Bis der nächste Schreck kam. Denn vor mir das Schwarze, das ich für das äußerste Haus des Dorfes hielt, die beiden Krüppelfuhren unter der Düne sind es. Ich bin in die Runde gegangen.

Mir wird angst und matt. Wie ein Kind im Dunkeln stehe ich da, als wenn ich weinen müßte. Aber dann lache ich mich selbst aus. Verirren kann ich mich ja nicht. Da die Dünen, links die Straße, rechts das Dorf! Also kehrt und geradeaus!

Geradeaus im Nebel! Geradeaus ohne festen Punkt, ohne Weg und Steg! Geradeaus ohne Stern und Strahl, ohne Halt und Hoffnung. Pfeif' dir ein Lied, Menschenskind, du hast hier deinen Humor nötig! Irrst ins neue Jahr hinein und weißt nicht, wohin du kommst.

Siehst du, da bist du ja wieder unter der Düne! Zweimal gingst du im Kreise. Lache doch, wenn du kannst! Und mach' kehrt und marschier' wieder geradeaus!

Oder hilft dir ein Fluch? Oder ein Kognak, ein kleiner Rausch? Oder ein bißchen Nachdenken, kalt und kühl? Nein, mein Lieber, das hilft dir alles nichts. Glück, das ist das einzig Wahre. Entweder du fällst mit der Nase darauf, oder du läufst daran vorbei und stehst wieder vor der verdammten Düne, wie jetzt.

Ich habe keine Lust mehr, mich hier herumzubewegen, das beste ist, ich ruhe mich hier aus. Ich bin zu müde. Vielleicht, daß der Nebel weggeht.

Ich setze mich unter die Fuhre und starre in den Nebel. Bis tausend Fratzen daraus auf mich zukommen. Fratzen, die allerlei dumme Gedanken hochmachen.

Läuft man nicht das ganze Leben so im Kreis? Im dicken Nebel? Hinter halbverwehten Hoffnungen her, auf unbestimmte Ziele zu, und hat schließlich doch nichts davon wie ein weißes Laken?

Die drei Mündungen meiner Waffe grinsen mich an. Wenn ich jetzt an den Abzug rühre, dann bin ich schnell zu Hause. Dann brauche ich nicht erst so weit zu laufen. Soll ich?

Da höre ich etwas. Das erstemal diesen Abend. Hundegebell, da unten! Ich springe auf und gehe darauf zu. Und rufe, so laut ich kann. Der Hund antwortet. Ich laufe, höre das Bellen näher, und jetzt, endlich, ein Licht, ein Haus, die Straße!

Unter dem ersten Fenster sehe ich nach der Uhr. Gleich Mitternacht. Mir wird ganz eigen. Eben noch, da dachte ich voll Abscheu an die Welt und das Leben und die Menschen, und jetzt freue ich mich darauf.

Ich warte noch einige Minuten. Und so, wie die Uhr in der Gaststube den ersten von den zwölf Schlägen tut, da reiße ich die Tür auf und rufe lachend mein Froh Neujahr!


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