Hermann Löns
Mein grünes Buch
Hermann Löns

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Ein blanker Tag

Die Bäche sind weiß, und das Holz ist weiß, weiß ist das Feld, und weiß ist das Dorf, und alle Büsche und Bäume im Felde sind weiß. Gestern nachmittag hat der Schneesturm gearbeitet, hatte die alte, vertaute, mit Fährten und Spuren benarbte Schneedecke frisch überstrichen, eine fußhohe glatte Schneeschicht darüber gedeckt, eine Hauptneue geschaffen, daß mir das Herz im Leibe lacht. Ein blanker Tag, wie ich ihn mag, ein Tag mit einem Charakterkopf, ein Tag, der mir die krause Stirn hell macht und lachend den zusammengekniffenen Mund, hell die Augen und übermütig die Seele, ein Tag, an dem alles gelingt, was man anpackt.

Ich stehe an der Dössel auf der Deele und sehe über den Hof in die Heide. Alles sieht so lustig aus heute. Jedes Ding auf dem Hofe hat ein weißes Mützchen auf, piel steigt der weiße Rauch in die hellblaue Luft, und alles glitzert und glimmert in der Sonne.

Ich habe es mir leicht gemacht. Die Hosen stecken in den dicken Schnuckenhaarstrümpfen, die Weste bleibt zu Hause, die wollne Ärmeljacke genügt, die Joppe steckt hinter dem Rucksack, nun noch die Schneereifen an, und dann will ich dich suchen, gelbkehliger Schleicher im Seidenrock.

Kiek, Lieschen, morr'n! Komm mal her, Mäken, und spring mal über den Drillingslauf. Was ist das! Du sagst, du willst nicht! Na warte, Deern! Wi'st'e nu' oder wist'e nich? Teuf, ich wer' dir Appell beibringen! Na siehste, warum nicht gleich?

Und nun will ich erst das Dorf umschlagen und abspüren. Immer die Zäune entlang geht es, hinter den Gärten her. Kreuz und quer laufen Hasenspuren, ganz dicht am Dorfe ist der Fuchs entlanggeschnürt. Aber kein Marder spürt sich. Die hat der Schnee faul gemacht; sie warten erst Tauwetter ab. Nur ein Ilk spürt sich hier an der Miste.

Hinter der Mühle das Holz, das lockt mich am meisten. Die Bachufer reizen den Marder immer, einen Frosch, den der Bach mit fortriß, einen Vogel, der in den Dornbüschen sein Schlafplätzchen hat, den Igel, der im Fallaub den Winter verschläft, Mäuse, die sich Schlehen und Buch suchen, findet er da.

Die schmale Wasserrinne ist fast verschwunden. Das verschneite Risch begräbt sie und der Schneebehang der Dornbüsche. Warnend stiebt der Markwart ab, lärmend fliegt ein Flug Schacker dem Holze zu, die dort Schnecken suchten. Schwarz funkeln im Schnee die Schlehen, feuerrot leuchten die Hagebutten, dunkler die Mehlfäßchen, und der Waldrebe Seidenbüsche schimmern grau aus dem Schnee.

Ein scharfer Schrei kommt von dem Felde her. Ein blitzendes, funkelndes, schimmerndes Ding kommt über den Schnee und bleibt an der dicken blauroten Brommelbeerranke hängen, die in schönem Bogen das Bächlein überbrückt. Der Eisvogel ist es. Wie ein Edelstein, in allen Farben leuchtend, sieht er aus, der kleine, ernste Fischer. Regungslos starrt er in das glucksende, kluckernde, klingende Wasser, lange, lange. Dann blitzt das Gefieder wieder auf, ein scharfer Schrei, und schimmernd und leuchtend streicht er nach dem Unterlauf des Baches.

Ein lustiger Laut, ein vergnügter, klingt dicht bei mir. Auf dem silberwolligen Kopf der mannshohen schlanken Distel sitzt der Distelfink, der Stieglitz, lustig seinen Namen rufend, das Köpfchen kokett drehend, und sich eitel hin und her wendend, daß der scharfe helle Schnabel blitzt, daß das Goldrot dahinter leuchtet, daß die gelben Flügelbinden nur so strahlen. Stieglitt, Stieglitt, bin ich nicht hübsch! so dreht und wendet er sich hin und her.

Den Bach entlang steige ich bergan in den Wald, die Augen im Schnee. Rehfährten, die Spuren von Has und Fuchs, Mausespuren überall. Aber keine Marderspur, den ganzen Bach entlang. Und auch hier, an der Quelle, zwischen den weißbemützten, moospolstrigen Steinen und den vergilbten Farnen, nichts. Ärgerlich könnte ich sein, aber der Tag ist so blank und der Himmel so blau und die Sonne so hell, und alles blitzt und glitzt und schimmert im Walde. Und es ist so ruhig dabei und so feierlich, als wäre jeder Tag so blank und das Leben immer festlich und friedlich und als gäbe es niemals Hunger und Sorge und Not und Tod und Mord.

Ein leiser Lockton flötet aus dem Stangenholze. Auf die Schlehenbüsche der Blöße fällt ein roter Fleck, rot mit blaugrau und blauschwarz. Und noch einer, aber dem fehlt das leuchtende Rot. Ein Goldfinkenpaar. Unaufhörlich klingt der leise, runde, weiche Lockton, die Schwänzchen schnellen auf und ab, die weißen Bürzel schimmern, die rote Brust leuchtet. Und dann fällt ein blauer Schatten auf den Schnee, und ein brauner Klumpen saust heran, und ehe ich weiß, was geschehen ist, fliegt ängstlich lockend das Männchen über mich fort, und der braune Klumpen ist fort und das Goldfinkweibchen. Und oben am Hause, auf der verwetterten Buche hakt der Wanderfalke auf und kröpft seine Beute. Unter dem Hange gehe ich hin. Die Schneereifen geben mir Halt auf dem zwei Fuß hohen Schnee. Der Buchenjugenden Behang pudert mich weiß ein. Ein Locken, ein leises, ängstliches Locken kommt näher. Ein roter Fleck leuchtet heran. Der Goldfinkhahn sucht sein Weibchen. Hin und her, auf und ab streicht er zwischen Busch und Holz und lockt und lockt und ruft und ruft, und lockt und ruft vergebens.

Es schneidet mir ins Herz, das ängstliche, verzweifelte, leise Rufen. Am besten wär's, ich schösse ihn tot. Aber wenn der Schnee weggeht und der Frühling kommt, dann findet er wohl ein Holdchen wieder und denkt nicht mehr an die, die ihm im Winter der Falke fortnahm.

Dort auf dem Schnee ist ein Fleck, der nicht dahin gehört. Ich biege auf ihn zu. Da kreuze ich die Spur des Marders. Und der Fleck, das sind Häherfedern, schwarze, rötlichbraune, lasurblaue mit schwarzen Querstreifen und rote Tropfen im weißen Schnee. Hier hat der Leisetreter den lauten Prahlhans gerissen. Und auf der Spur des Mörders gehe ich weiter.

Erst durch das hohe Holz, dann zum gehauenen Buschholz. Hier sind wieder rote Tröpfchen im Schnee; eine Maus fiel dem Marder zum Opfer. Und dann zum Bach hinunter. Hier, am Schlehenbusch, ist die Fährte verwischt, und ein Loch ist im Schnee, und der Behang des Busches ist zerrissen. Hier hat der Schleicher einen schlafenden Vogel im Sprung zu reißen versucht, aber die Dornwehr des Busches schützte den Schläfer. Ein Fehlsprung wurde es.

Hier unten hätte ich beginnen sollen. Hier auf dem Stamm, der über den Bachpump führt, liegt die Losung des Nachtwandlers. Und von da geht es ins Feld an die Dieme und dann an die Rübenmieten und dann an den Feldbusch, und da ist die Spur zu Ende.

Ich umschlage den Busch. Da ist sie wieder. Der Marder ist weitergeholzt. Immer in der aus je vier breiten Tupfen gebildeten Linie geht es weiter, an den Teich, in dessen gelbem Rohr die Ammern zippen, nach der Buchengruppe, aus der der Bussard abstreicht, wieder zurück in das Holz. Da ist sie fort. Der Marder ist wieder weitergebolzt. Einen Bogen schlage ich um das Ende der Spur, einen kleinen, dann einen größeren, erweitere jeden neuen Kreis, den ich gehe. Und alle Kronen durchspähe ich nach Krähenhorsten und Eichkatzenkobeln. Ab und zu auf dem Schnee ein Flöckchen graue Flechte, ein dürres Ästchen, die hat der Marder beim Fortholzen abgetreten.

Am Fahrwege, der als weißes, breites Band den weißbehangenen Fichtenmantel durchschneidet, komme ich wieder auf die Spur. Sie steht wieder nach dem Feld, dahin, wo die Ebereschenbäume stehen. Dürre Blätter am Boden, einzelne rote Beeren und Doldenstiele zeigen an, daß der Marder sich hier die letzten Vogelbeeren als Zukost pflückte. Weiter will ich, brenne erst mir die Pfeife an, da höre ich es zirpen und sehe in den Baum. Da sitzen sie, eins, zwei, drei, zehn Gäste aus dem Norden, rötlichbraun, schwarzkehlig, Häubchen auf den Köpfen, rote Siegellacktröpfchen auf den gelben Binden an Flügel und Schwanz, Seidenschwänze, so friedlich, so vertraut, als gäbe es weder Kraut noch Lot.

Ein Weilchen sehe ich ihnen zu, wie sie, dick aufgeplustert, dasitzen, sich putzen, ab und zu zirpen oder die schwarzgelben Flügel spreizen, dann trete ich weiter in die Spur. Quarrend stieben die Krähen von dem Luderplatz. Die Spur führt über das Luder und führt zum Dorf. Aber hart vor der Mühle biegt sie ab zum Holz. Und da ist sie fort, verschwunden.

Zweimal durchschneide ich das Holz und umschlage es. Nichts findet sich. Ein Eichkatznest steht hoch in der Fichte. Aber kein gelber Tropfen im Schnee zeigt den Schläfer an. Ich scharre mit dem Schneereifen an dem Stamm; es rührt sich nichts, es zeigt sich nichts. Aber das ist noch kein Beweis, daß das Haus leer ist. Ich schicke eine Kugel hinein. Scharf klingt der Knall in die Wintertagsstille. Aber nur dürres Geäst und Moos krümelt herab.

Nun kommt böse Suche. Es geht von Stamm zu Stamm, von Baum zu Baum. Nirgends ein heller Tropfen, ein Flechtenflöckchen, ein Dürrästchen, eine Spur im Schnee, alles glatt und blank und eben und schier. Und er steckt doch im Holz, der Heimtücker, und kriegen tu ich ihn doch, oder ich will die Kunst nicht verstehen.

Eine Viertelstunde geht hin und noch eine. Das macht müde, das Auf und Ab mit den Augen, vom weißen Schnee zu den schwarzen Kronen, vom Himmel zur Erde. Noch ein alter Krähenhorst kriegt die Kugel, noch ein Eichkatzennest, aber immer noch will sich nichts finden. Das ist ja dumm.

Und die Sonne meint es gut. Sie läßt den Schnee flimmern, daß die Augen müde werden, und preßt unter der leichten Wollmütze den Schweiß auf der Stirn hervor. Joppe und Rucksack habe ich längst fortgehängt und habe nur die leichte, nahtlose, gestrickte Ärmelweste um die Brust. Und die ist mir noch zu warm.

Aber weiter, das hilft nichts. Immer wieder für die Augen weißer Schnee, blaue lange Schatten darauf, rote Stämme, dunkelgrüne Kronen und blauer Himmel. Und umgekehrt: blau, grün, rot, blau und weiß. Ab und zu ein silbergrauer Buchenstamm, ein schwarzweißroter Specht, ein rötlichgrauer Markwart, eine blaugraue Taube, polternd abstiebend, bunte Meisen, an grünen Zweigspitzen hängend.

Mechanisch wandern die Augen auf und ab. Nichts, nichts, immer nichts und wieder nichts als Hasenspuren, Mausespuren, das Geläufe von Krähen. Man wird unachtsam, ich muß den Geist ab und zu anrucken, sonst schläft er ein.

Aber auf einmal wird er munter. Hier, unter der dunkelköpfigen Fichte, ist ein Dreieck, ein gelbes, hineingetropftes, im Schnee. Wie da der ganze Mensch frisch wird, wie er sich reckt, wie Leben in die Beine kommt und in die Augen. Dreimal, viermal, fünfmal umkreise ich den Stamm, bohre die Augen in die Krone, aber sie finden nichts. Da wird zurückgestapft zum Rucksack und das Glas geholt, Ast für Ast wird abgesucht. Und jetzt habe ich ihn. Dicht an den Ersatzmitteltrieb gedrückt, eingeklemmt zwischen zwei andere hochragende Äste, in dem verwitterten, kaum erkennbaren Eichkatzennest, da liegt er. Von ihm selbst sehe ich nichts, aber die buschige Rute hängt herab.

Ich klopfe an den Stamm, er rührt sich nicht. Ich scharre daran, er rührt sich nicht. Ich lehne den Drilling an den Stamm, hole die Gummischleuder heraus und pfeffere einen Schrothagel in das Versteck. Nichts rührt sich. Aber die Rute, wo ist die, die eben noch herabhing. Fühlt sich der Bursche aber sicher.

Dann knallt der Schrotschuß in das Astgewirr. Laub, Gras, Moos, Zweige fliegen, und ein schwarzes Ding fällt, fällt drei Fuß, und jetzt, Deubel, ist es auf der Nachbarfichte, und in rasender Eile baumt der Marder fort. Ich mit, so schnell die Schneereifen es erlauben, immer den Lauf dahin, wo Äste schwanken und Schnee rieselt. Und jetzt, wo es den geraden, langen Ast im Sprung faßt, das lange schwarze Ding, da fahre ich mit, und im Knall kommt er in einem Regen von Schnee und grünen Brüchen herab.

Zuckend liegt er im Schnee. Die weißen Fänge blinken, die dottergelbe Kehle leuchtet, die seidenhaarige Rute windet sich. Noch zuckt eine Pranke, ein Zittern geht durch die Rute, ein Ruck durch das ganze Tier, dann fällt es schlaff in sich zusammen.

Aber jetzt der Hunger, der Hunger. Um zehn ging ich weg, und jetzt ist's drei. Marsch marsch zur Wirtschaft, den Marder in der Hand. Am Herde steht Lieschen. Hu, schreit sie, als ich ihr die Marderrute um den Hals fahren lasse. Und quiekend flüchtet sie aus einer Ecke in die andere, wenn ich ihr mit dem Kopfe des Räubers in der Faust zu nahe komme. Großmutter lacht und schüttelt den Kopf: junge Lüe, junge Lüe, leeg' Volk. Und dann denkt sie an einen jungen Jäger aus der Stadt, der auch oft hierher kam und immer zu Unsinn aufgelegt war. Und immer wieder kam, bis sein Bart weiß und sein Haar silbern war. Und jetzt ist er tot. Jee ja.

Der Nachmittag wird verschlafen, der Abend verklönt beim Glase Bier. Und als die hellen Fenster im Dorfe verschwinden, da ziehe ich den dicken Mantel an und gehe zur Mühle. Schneehell ist der Himmel, alle Sterne blinken. im Holz ruft die Eule, Schneegänse ziehn, ein Hund heult.

Ich stelle mich an die Eiche, scharre den Schnee fort und rauche. Die Nacht ist mild, ein ganz kleines Lüftchen ruschelt im Röhricht. Im Dorf da unten löscht ein Licht aus nach dem andern. Einmal klappt noch eine Tür, ein Lachen ertönt, ein Aufkreischen aus Mädchenmund, dann wird es da stille.

Ich stehe und rauche und sehe nach dem weißen Mühlendach. Der Mühlbach rauscht immer dasselbe Lied und klimpert mit Eisschollen. Ein Mäusepfiff, ein Eulenruf, dann wieder leere Stille. Ein Hase rückt an, langsam, bedächtig, und verschwindet in der Zaunlücke.

Gedanken umflattern mich, Gedanken, schwarz wie Fledermäuse, und lichte, bunte, wie schöne Falter. Das Rätsel von Leben und Tod, von Werden und Vergehen taucht vor mir auf, schöne Stunden und trübe Tage, Menschen, die ich liebe, und Leute, die ich hasse, und dann ein lichter, rosenroter Zukunftsbaum. Und den jagt ein grauer Einfall wieder fort.

Die Zeit vergeht. Die Uhr schlägt zehn. Das Horn des Nachtwächters klingt dumpf und hohl. Die Füße werden langsam kalt, der Kopf wird müde, er will auf die Brust fallen.

Da fährt er hoch. Oben am Dachfirst, auf der Stelle, wo die schwarzen Tupfen sind, da war doch ein Schatten? Oder irrte ich mich! War es der Schatten, den der graue Gedanke in mir warf? Es war wohl nichts. Aber ich bin wieder wach. Und die Augen wandern dachauf, dachab.

Halt, da, eben, ich habe mich doch nicht geirrt. Ein schwarzer Streifen hier mitten im Dach, bei der Luke. Fort ist er wieder. Mensch, paß auf!

Und ich starre jetzt, den Drilling schußbereit, auf die Luke. Aber das Weiß und Schwarz macht die Augen so müde, ab und zu müssen sie in den Sternhimmel sehen, auf die Milchstraße mit ihrem Gewirr von Welten.

Und dann gehen sie wieder auf das Dach zurück. Und fassen einen schwarzen Klumpen, der neben der Luke ist. Und sich jetzt aufrollt, und ruckweise weitergeht. Und da geht der Gewehrlauf langsam hoch, und wie das schwarze Ding fast an der Dachkante ist, da sprüht es und knallt es, und um mich herum ist dicker, weißer stinkender Dampf. Aber im Feuer sah ich das schwarze Ding herabkollern.

Durch die schneehelle Nacht geh ich dem Kruge zu, den toten Hausmarder in der Hand. Es ist Sonnabend, und hinter hellen Fenstern ist noch lautes Leben. Heute paßt mir das. Mit blanken Gläsern soll er enden, der blanke Tag.


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