Hermann Löns
Mein grünes Buch
Hermann Löns

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Hinter der Krüppelweide

Wenn das Steinhuder Meer zu ist, dann liegen die Enten auf der Leine. Den ganzen halben Winter warteten wir darauf, daß das Meer überfrieren sollte, aber erstens fror es nicht, sondern regnete, regnete wochenlang, und wenn es einmal fror, dann geschah das bloß, um uns zu zeigen, wie schön es wäre, wenn der Frost und der Schnee bliebe, und am Tage darauf regnete es wieder nach der Schwierigkeit.

Endlich aber kam Schnee und Frost, endlich fror das Meer zu, und endlich kam eine Einladung zur Entenjagd. Mein Herz machte einen Hops wie ein Fohlen auf der Weide, als ich im Kasten die Karte fand, und schleunigst ging ich ans Telephon und sagte zu. Und am anderen Morgen, die Freude, als alles draußen noch hart und fest war, und die Freude erst, als die Sonne hochkam und aus blauem Himmel auf die Stadt schien, als lachte der Mai unter ihr.

Und wir vier im Schlitten, wir lachten auch. Endlich einmal, seit Monaten, wieder hinaus, seit Monaten, verlebt in der dumpfen, muffigen Stadt. Ordentlich eingerostet war ich bei dem ewigen Stubensitzen.

Aber ein solch blanker Tag, der macht alles wieder gut, ein Tag, an dem die Natur in ihrem weißen Kleide aussieht, als wolle sie zum Tanz gehn. Alles ist vergnügt heute; die Ammerflüge zippen lustig, der Finkenhahn, dieser Strohwitwer, lockt fröhlich im Obstgarten, die Krähen stechen sich in der Luft, und die Spatzen spektakeln im Holderbusch vor dem Kruge, als gäbe es überall die fettsten Maikäfer und die leckersten grünen Räupchen.

Im Kruge ein derbes Frühstück, das Mittag und Vesper ersetzen muß, und dann hinaus an das Ufer der Leine, die hinter den hohen Knaapbüschen sich durch die weite weiße Landschaft zieht. Alles glitzert und flimmert vor uns, die Sonne brennt uns heiß in den Nacken, und der harte Schnee knurpst unter den schweren Sohlen. Überall Kaninchenspuren, den Schnee mit einem unregelmäßigen Muster überziehend, ab und zu eines Krummen Spur, und hier die des roten Räubers. Nacht für Nacht macht er hier seinen Pirschgang am Ufer entlang.

Einer unserer kleinen Treiber verläßt uns. Dann biegt ein Schütze nach links ab. Nach zehn Minuten noch einer, nach fünfhundert Schritten wieder einer, und jetzt muß ich zur Leine, dorthin, wo die zehn alten Krüppelweiden stehen. Eine feste Bahn ist dahin getreten, es ist ein guter Stand. Das zeigen die leeren Patronen, die als hellbraune, grüne und rote Flecke auf dem festgetretenen Schnee rund um die dickste Weide liegen.

Ein Hauptstand. Gerade vor mir der Fluß, einen knappen Schrotschuß entfernt, unsichtbar hinter dem Weidengebüsch. Gegenüber am hohen Ufer rotlaubige Jungbuchen, Schwarzdorn und Gestrüpp, dahinter hohe Pappeln. Nach links das Holz, schwarz und schwer, davor ein Graben, eingefaßt mit runden Weidenbüschen. Und überall Vogelleben. Elstern und Krähen in den Pappeln, ein Schacker im Rosenbusch, die Amsel im Gestrüpp, Stieglitze auf den Kletten, Ammern in den Schlehen, und vor mir im Knaap ein ganzer Trupp Schwanzmeisen, trillernd, kullernd, kopfüber, kopfunter an den glitzernden Weidenruten hängend.

Ich stehe still unter der alten, geborstenen, verstümmelten Weide und drehe den Kopf nach rechts und links. Dort, vor dem Dorf, ist ein schwarzes Wölkchen, das hin- und herschwebt. Es sind Enten. Das Wölkchen teilt sich, die Teile steigen und fallen, teilen sich wieder, kreisen und drehen sich, ein Teil verschwindet, ein anderer hebt sich und kommt näher, immer näher. Aber viel zu hoch sind sie. Jetzt klingeln sie über mich weg, wohl über sechzig, in der Sonne glänzen sie wie Gold. Turmhoch kreisen sie, streichen weiter, kreisen wieder und senken sich dort ganz unten. Und kaum sind sie verschwunden, da knallt es, einmal, zweimal, dreimal, viermal, und lauter schwarze Punkte steigen hinter den Ellern auf und verschwinden.

Rechts von mir, wo die beiden letzten Schützen stehen, da knallt es wieder. Und auch dort steigen schwarze Flecke auf, hastig fortrudernd. Es klingelt in einem fort über mich hin, ein Paar, dann sieben, zehn, eine einzelne, an zwanzig, wieder ein Paar, aber alle viel zu hoch. Sie haben in den letzten Tagen zu oft Feuer gekriegt. Aber jetzt klingelt es dicht über mir. Aber wo? Hier versperren die Kronen der Weiden das Schußfeld, da der Stamm einer anderen, also schnell herum, den Erpel gefaßt, mit und, ja, das war doch noch zu hoch, die Schrote schlugen nicht mehr durch.

In den Uferweiden zetert die Amsel, im Rosendorn warnt die Wacholderdrossel, ein Krummer fährt aus dem Schwarzdorn und sucht das Feld, mit Geplärr stiebt die Elster ab, dann höre ich es brechen, ich sehe den Treiber durch die Büsche gehen. Und gerade jetzt, wo über mir ein Dutzend Enten kreist, um vor mir einzufallen! Nun haben sie den Jungen eräugt und streichen nach links mit klingelndem Flug, kreisen nochmal eine Zeit und senken sich wieder bei den Ellern. Und wieder knallt es da, zweimal und noch einmal.

Wohin ich sehe, Enten. Hier hoch in der Luft, kreisend und kreisend, dort eilig streichend, da einfallend. Aber eine Stunde vergeht, und kein Schuß fällt. Ich stehe und warte und sehe den Schwanzmeisen zu, die vor mir im Schwarzdorn hängen, und der Elster, die auf dem Sommerdeich herumstolziert, und dem Krammetsvogel, der wieder unter einem Rosenbusch im Schnee herumstöbert, und den Saatkrähen, die drüben mit den Dohlen in den Pappeln ein Monstrekonzert geben, und dem Bussard, der das Ufer abreviert. Da kommt es plötzlich von irgendwoher angeklingelt, klingelt hier, klingelt da, die Weiden versperren mir die Aussicht, aber jetzt ist es ganz tief, das heisere Brätbrät ertönt, die erste fällt ein, vier andere kreisen vor mir, und eine davon fasse ich, und wie es knallt, schlägt sie in einer Federwolke in die Dornen, und die anderen streichen mit Angstlaut ab. Ich faßte wohl noch eine, aber sie fiele in das Wasser.

Vom anderen Ufer nähert sich ein schwarzes Ding, langsam heranschwebend. Das ist der Bussard. Enten mag er gern. Bis auf zehn Schritt schwebt er auf mich zu und biegt dicht an mir vorbei. Aber sowie ich den Kopf wende, rudert er hastig und steigt um dreißig Fuß. Ich hätte ihm nicht nachsehen sollen, denn da klingelt es hinter mir. Ich backe an, aber sie sind schon zu weit, und zu hoch war es auch. Aber jetzt, bumms, sind sie fort hinter den Uferbüschen. Ich höre es platschen, wie sie einfallen.

Ich überlege. Ja, da kann ich sie angehen. Der Wind steht vom Fluß, und Deckung ist da. Einen Bogen über die Wiese gemacht, und dann hinter den Weiden an das Ufer. Ja, an das Ufer! Als wenn das so leicht wäre. Das ist ja ein wahrer Weidendschungel, hohl ist das Ufer auch, und unser Jagdgeber wäre hier beinahe verkluckt, als er da durchbrach. Aber da kommt ja der Treiber. Ich winke, und er kommt. Ein richtiger Niedersachse, dieser Bengel. Unter der Deistermütze roggenblondes Haar, das Gesicht wie Milch und Blut und die Augen wie Vergißmeinnicht. Er begreift schnell. Ich drücke mich vor eine Weide, und er geht die Enten an. Nach fünf Minuten höre ich das Rauschen des Wassers, den Angstruf, das Klappern der Flügel, aber keine Ente kommt mir. Sie strichen links ab. Gemein! Aber jetzt ruft die helle Stimme: »Wahr too, wahr too!« Über die Weide kommt ein langer Hals, eine braune Brust, silbern glänzende Flügel, und ohne Besinnen fahre ich mit, reiße vor und drücke. Ein bunter Klumpen zappelt im Schnee. Schnell hin, das kann ich nicht sehen, schnell den geflügelten Erpel, der mit Entsetzensruf nach dem Ufer strebt, an die Weide geschlagen mit dem tief goldgrünen Kopf, und als Lohn für diese Mildherzigkeit stehe ich da und muß vier Enten, die jetzt erst aufstanden, unbeschossen abstreichen lassen.

Wieder stehe ich unter meiner alten Kopfweide. Sie wirft schon einen langen, gespenstigen Schatten in den Schnee, denn der Tag rückt vor, und die Sonne steht schon tief. Der schwarze Wald vor mir ist tiefviolett geworden, die Weidenbüsche vor ihm sehen aus wie lauter goldrote Flammen. Von drüben rudern Krähenflüge nach fernen Wäldern, es wird Abend. Schnell sinkt die Sonne, immer tiefer wird das Violett des Waldes, immer roter werden die fernen Büsche, immer dunkler die Schatten der Weiden. Und jetzt geht die Sonne in dem kleinen Dorf zu Bett. Ein lodernder Brand rötet den Himmel, lange Rosenstreifen ziehen neben hellgrünen Wischen von der Erde zur Höhe, die Weidenbüsche sind braun geworden, der Wald ist eine schwarze Mauer, rundherum fällt Dämmerung auf die Landschaft.

Und jetzt geht es wieder los, das Geklingel in der Luft, überall zu gleicher Zeit, über mir, bald turmhoch, bald tiefer, vor mir, hinter mir, und das Schnattern und Plumpsen nimmt kein Ende. Hier ein Schuß, da ein Schuß, ein Doppelschuß, dort ein langer, roter Strahl, ein weißes Wölkchen vor schwarzen Weiden, dann der Knall, dort ein Entenpaar, außer Schußweite, hier eins, auch zu weit, dann der Kauz, lautlos an mir vorbeischwebend, und endlich wieder eine Ente in Schußnähe. Dem Schluß folgt ein Klatschen. Ich habe mich getäuscht, sie war schon hinter dem Uferbord. Schade, die treibt bei dem Müller im Dorfe an.

Nun ist es ganz Abend. Alles ist schwarz und grau. Ich stapfe dem Sommerdeich zu, nach den beiden Weiden hin. Aber das sind keine Weiden, das sind die beiden Schützen. Sie lachen. Vier der eine, sechs der andere. Was wollen da meine beiden sagen! Und die anderen haben auch alle zwei, nur einer keine. Er hat Pech gehabt. Alle drei, die er schoß, klatschten ins Wasser. Da wird sich der Müller freuen oder der Fuchs, wenn er eine angetriebene findet.

Aber selbst dieser eine sagt, daß es ein herrlicher Tag war. Und trinkt im Krug ein Glas Glühwein und noch eins. Und ich auch. Der Glühwein und dann die heiße Luft in der engen Stube und der Zigarrenqualm, das macht müde. Ich glaube, ich verschlief dreiviertel der Fahrt. Ich stand unter der Krüppelweide und hörte die Enten klingelnd vorbeistreichen, alle die vielen hundert Enten, die vom Steinhuder Meer gekommen waren. Aber keine konnte ich sehen. Erst dicht vor der Stadt erwachte ich. Da wußte ich, daß das Geklingel von den Schlittenschellen gekommen war. Aber im Bett noch, beim Einschlafen, hörte ich es in einem fort, das ewige Wittwittwitt klinglingling.


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