Hermann Löns
Mein grünes Buch
Hermann Löns

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Im Fuhrenstangenort

Etwas Langweiligeres als einen Fuhrenstangenort gibt es wohl kaum. Lauter Fuhren von zwanzig bis vierzig Jahren, aber alle aus demselben Jahre zusammen, nie durcheinander, und dann noch in Reihen gepflanzt. Und doch pirsche ich sie jeden Morgen ab.

Und jeden Morgen, wenn ich denselben Weg mache, je nach dem Winde von der Nachbarsgrenze anfangend oder vom Königlichen, dann fällt mir der lange Herr Oberlehrer ein, der uns Hebräisch gab. Das ging Tag für Tag: Katal, Katela, Katalta, Katalti, Tag für Tag, wochenlang, immer dasselbe, wie die Fuhrenstangen.

Aber ein Pirschgang und eine hebräische Stunde hat doch große Verschiedenheiten. Es sind immer dieselben Fuhrenstangen, aber es ist doch immer etwas anderes. Einmal regnet's, einmal nicht. Einmal ist es kalt, einmal ist es warm. Einmal ist nichts zu spüren, ein anderes Mal wieder nichts, das dritte Mal erst recht nichts. Und überschlägt man dann einen Morgen und läßt die Knochen im Bett, dann haben die Sauen da gebrochen, und außer Wild spürt sich der brave Zehnender mit seinem Beihirsch.

Und darum nahm ich mich beim Nackenfell, als die Weckuhr um zweie losramenterte, fuhr in das grüne Zeug und die gummisohligen Schuhe, hing Büchse, Rucksack und Glas um, kluckte den Topf Milch hinunter und ging, ein Stück Trockenbrot kauend, durch den Hausbusch des Hofes, in dem die Hauseule erbärmlich rief, durch die Kartoffeln, in denen die Spitzmäuse schrillten, durch den hohen Fuhrenort, in dem die Waldohreule jämmerlich seufzte, bis ich an die Landstraße kam. Da steckte ich mir ein Zwischenaktszigarrchen in die edlen Züge, tat sechs Züge, um zu sehen, wie der Wind sei, und nochmals sechs, da ich ihn schlecht fand und hoffte, daß er sich besinnen würde, warf die Zigarre in den nebelnassen Graben, und nun stehe ich hier und weiß nicht, soll ich wieder in die Klappe oder soll ich nicht.

Wenn ich das mit dem Winde gewußt hätte, dann hätte ich mich zweimal umgedreht und weitergeschlafen. Aber jetzt umkehren und mich wieder umhosen, dazu bin ich doch zu faul. So geht es denn durch die klatschnasse Fuhrenbesamung, den Pirschweg an der Grenze entlang, und wo die Spürbahn beginnt, da setze ich mich in das viereckige Loch, in dem ich schon so oft saß, und dösend höre ich zu, wie der Nebel von den Zweigen schlägt, tock, tock, tock.

Dann fährt der Frühwind durch die Zweige und läßt den Nebel schneller schlagen, und aus dem grauen Nichts vor mir heben sich lange, rosig schimmernde Heidbüschel und silberne Birkenstämme ab, und dann sitzt da ein Bär, der nach mir schlagen will mit den Pranken, und ein Wilddieb steht da, der auf mich anschlägt, und ein Hirsch tritt aus dem Nebel, und ich sitze krumm und klein in meinem Loche und warte, bis es noch heller wird und der Bär und der Wilddieb und der starke Hirsch das geworden sind, was sie sind, Machangelbüsche. Und dann esse ich ein Stück Speck und ein Stück Brot, trinke einen kleinen Bittern, stecke mir die lange Holländer hinter dem vorgehaltenen Hute an, knöpfe den Windgurt fester und mache mich hoch.

Ich sehe nach rechts die breite, tief aufgepflügte Spürbahn hinunter, und dann nach links und sehe rechts gerade soviel wie links. Es ist noch sehr dämmerig, so bleibe ich noch etwas stehen. Ein Vogel zipt über mich fort, die Morgenbrise ruschelt in den Telgen, der Tropfenfall klingt um mich herum, das gelbe Pfeifengras flüstert zu meinen Füßen.

Zur Linken höre ich einen kurzen, leisen Laut: Knick. Kein Stadtmensch würde ihn beachten. Mir aber macht er das Herz lebendig und das Blut schnell. Da zieht Wild. Noch einmal: Knick, und noch einmal. Ich weiß Bescheid. Von der Spürbahn trete ich durch die Bucht auf den Pirschsteig und gehe schnell, aber leise, o so leise, nordwärts, so leise, daß kein Fallbraken knickt und kein Fuhrenbock knistert. Bis an die Schneise, die heidwüchsige, von gelben Schnielen berahmte. Dort mache ich mich ganz klein in dem Loche, lege die gespannte Büchse auf die Knie und nehme das Glas in die Hand. Und dann warte ich.

Meine Augen streifen rechts und links die Fuhrenwände, die blühende Heide, die gelben Halme, bis sie da hinten im Nebel haltmachen und umkehren, bis sie wieder an die Nebelwand kommen und wieder umkehren. Zippen streichen über die Bahn, Schacker lärmen über mich hinweg, die ulkigen kleinen Haubenmeisen kullern in den Zweigen, Goldhähnchen lassen ihre unreifen, dünnen Stimmchen hören, ein Fink lockt. Dann, in Pausen, bricht es zu meiner Linken, ich lasse das Glas an die Brust fallen und fasse die Büchse. Das Brechen wiederholt sich, ich drehe das linke Auge, daß ich es mir halb verrenke, und renke es schleunigst wieder ein, denn wegen der alten Ricke will ich mir doch kein Leid antun. Sie äugt mich groß an, macht mir einige altmodische Verbeugungen, zieht dann eilig in das Holz zur Rechten. Und ich stehe auf und pirsche weiter an der Kante des Stangenorts.

Der Pirschsteig schneidet die Pflanzfuhren in rechtem Winkel. Man kann von ihm immer zwischen den Reihen durchsehen. Ich mache meinen Weg wie ein Automat. Ein Schritt, ein Blick nach links. Nichts, nichts, nichts, nichts. Aber da! Ach, das ist ja die Stelle, wo gestern die alte Bache mit ihren vier Frischlingen gebrochen hat, das sieht so rot aus, als säße da ein Reh im Bett. Und zehn Reihen weiter, das Schwarze da, das ist kein hauendes Schwein, spitz von hinten, das ist ein oller Heidbusch. Und hier kommt der Bärlappteppich, und da steht die verlorene blaue Glockenblume, die da so steht, als wollte sie fragen: »Wissen Sie nicht, wie man hier rauskommt aus dieser Biesternis?« Und hier ist es heller, da reifen die Kronsbeeren. Hurr burr, da poltert Birkwild ab. Und das da, da haben wieder Sauen gebrochen.

Halt, nicht weiter! Das sieht doch roter aus wie der gebrochene Boden. Das Glas vor die Augen: Reh! Bock oder Ricke? Ja, das kann ich nicht sehen, es hängen da gerade so viele graue Braken drüber. Mal fragen! Ich nehme die Büchse von der Schulter und schnalze, leise den Warnruf des Rotkehlchens nachahmend, dreimal tk, tk, tk. Aus dem roten Fleck kommt ein roter Hals hoch und ein schwarzes Geäse und zwei weißliche Lauscher. Aber zwischen ihnen ist nichts. Ricke. Ich warte, bis Kopf und Hals wieder weg sind, und pirsche weiter.

Rätsch, ätsch. Schwein! Du wirst mir noch den ganzen Pirschgang verderben. Ich muß warten, bis er sich beruhigt hat, der Markwart, sonst macht er die ganze Gegend rebellisch. Na endlich! Also weiter auf dem Bleisand des Pirschweges, immer wieder einen Blick auf hellgelbgrünes Moos, kupferrote Stangen und silbergraue Telgen. Hier und da ein gelblicher Grasbusch, ein Fleck dunkler, weißblütiger, rotfrüchtiger Kronsbeeren, ein roter Fleck, wo die Sauen brachen oder der Bock plätzte, gelbe, rote, braune, hellviolette Schwämme, die rote Brust des Dompfaffen, eine bunte Meise, eine schwarze Amsel, eine graue Drossel, ein olivenbraunes Rotkehlchen als Abwechslung in dem Goldgrünsilbergraukupferrot.

Tauben donnern ab, und ein roter Fleck in der Reihe vor mir wird anders. Ein Schmalreh, das Pfifferlinge äst. Es äugt, sieht ein, daß ich nur ein Machangelbusch sein kann und zieht äsend weiter. Ich auch. Aber da hemmt plötzlich etwas meinen Schritt. Im Bleisand eine starke Fährte. Der Starke. Ach, dummes Zeug, war ja gestern schon da, vergaß bloß, sie auszutreten. Stimmt ja, da liegt ja die Kuhtaubenstoßfeder dabei, die mir auffiel. Ich trete die Fährte aus und schiebe lautlos einen grauflechtigen Braken vom Steig, den der Wind hierhin warf.

Heute nacht haben aber die Sauen hier mächtig gewirtschaftet. Die haben ja alles um und um gebrochen. Und hier ist die ganze Rotte über den Strich. Zwei grobe Sauen, nein drei, und ein halbes Dutzend Überläufer. Ja, es ist toll. So meint auch das Altreh, das da mit dem Kitz steht. Und hier, etwas weiter, spürt sich Rotwild. Aber nur Kahlwild. Das kann mir wenig helfen, freut mich aber doch. Wo Mutterwild ist, ist auch nächstens der Hirsch. In diesen Tagen tritt er zum Wilde.

Nun werde ich aber aufmerksamer. Jetzt wird nicht bloß die Reihen langgeguckt, jetzt gehen die Augen erst immer zur Erde und dann nach links in die Stangen. Sieh da, sieh da! Das ist ja der Beihirsch. Und ohne den Zehnender. Die Freundschaft ist also aus. Natürlich, da ist eine Schürze dazwischengekommen.

Jetzt bin ich an der Ecke. Da blüht noch ein gelbes Habichtskraut, und zwei gelbe Heideckerblütchen leuchten da. Hier stand ich heute vor acht Tagen abends blank und bloß, und zweihundertfünfzig Gänge unter mir stand der Zehnender auf der Bahn und äste sich an den Stachelpilzen. Und dann äugte er mich groß an, äste weiter und zog in die Stangen. Und als ich ihm den Wechsel verlegen wollte, verschwand im Holz das Büchsenlicht, und ich zog ab, ohne den langersehnten, schweißbedeckten Bruch am Hut.

Die ganze Grenzbahn ist voll von Wildfährten, alle stehen herein, keine heraus, die ganze Bahn entlang. Also steckt das Wild noch drin. Ich trete wieder von der Bahn in den Quersteig und pirsche zurück, immer bei jedem Tritt die Augen zur Erde und dann nach rechts. Aber nichts, gar nichts ist zu sehen. Und dann geht es in den Querweg, und dann zur Landstraße, und da gehen mir die Augen auf. Das ganze Wild ist in das Königliche gewechselt.

Ich setze mich an den alten Immenzaun in der Heide in die Sonne und frühstücke. Schacker lärmen in den Ebereschen an der Straße, Häher warnen, der Schwarzspecht lacht an der Wetterfichte, Hornissen brummsen um die blutende Birke, und aus der kahlen Heide kommt das Geläute der Schnuckenherde. Das Immenschauer da unten in der Sinke leuchtet in der Sonne wie Gold, da hinten die Fuhrenbesamung ist hellgrün wie junge Saat, die Bienen summen in der Heide, blaue Falter tanzen über den Sand. Ein schöner Morgen, aber er könnte noch schöner sein.

So, jetzt bin ich satt und kann noch eine Nachpirsch machen. Es ist sechs Uhr. Man kann nicht wissen, manchmal bleibt das Wild lange in der Dickung. So bummele ich denn, etwas unaufmerksamer, zurück, freue mich an den hellen Sonnenkringeln auf dem grünen Moos, an den feuerroten Pilzen, die überall Sandschollen hochheben, an der Nachtschwalbe, die vor mir forthuscht, an den taubeperlten Spinnennetzen zwischen den Fuhrenzweigen, pflücke mir eine Handvoll halbreifer Kronsbeeren und pirsche weiter, die erste Zigarre mit Genuß rauchend.

Es gibt allerlei zu sehen. Kuhtauben hier, Grünspecht da, dort die Fuchsspur, hier Birkwild, das sich an Kronsbeeren äst, Hirschlosung, dann auf einmal in der Sonne ein wahrer Regen von Hirschläusen, daß ich fortwährend nach Backe und Nacken fassen muß, um die widerlichen Krabbeltiere zu entfernen, goldnes Moos, silberne Kronsbeerenblätter, ein Silbergeblitze von Schwebfliegen, ein Surren und Summen, überall das Geläute und Gezirpe von Meisen und Goldhähnchen, Taubenruf und Häherschrei, und da, wo die Reihe eng wird, ein großer feuerroter Fleck.

Ich trete nach rechts, ich trete nach links. Aber ich sehe immer nur den großen viereckigen roten Fleck zwischen den graugrünen Fuhren. Kein Hals, kein Kopf, kein Lauf, kein Schild ist zu sehen. Endlich, nach zwanzig Minuten, mir beberten schon die Knie vor Warten, schiebt es sich vorwärts. Ein altes Tier. Langsam tritt es vor, sichert, die langen Lauscher spielen um das hellgraue Gesicht, dann zieht es nach links.

Jetzt will ich aber nach Hause, der Sandmann kommt. Ich nehme den kürzesten Steig. Gewohnheitsmäßig geht bei jedem Schritt der Kopf von rechts nach links. Eine Ricke sitzt im Bett und hat kein Arg von mir. Gleich habe ich die Stangen hinter mir. Ich sehe schon den hohen Ort licht durchschimmern. In der vorvorletzten Reihe sehe ich noch einmal nach rechts. Da ist nichts. Und nach links. Auch nichts. Doch. Ein Reh. Holla, der Bock. Gestochen, Rot gefaßt, Finger krumm, Kugelschlag, Hinterläufe in der Luft, dann ein wildes Brechen, dann ein Schlagen, dann Stille.

Ich gehe sechs Reihen zurück. Da liegt er und rührt keinen Lauf mehr. Der Schuß könnte mich freuen, Mitte Blatt. Aber ein Bock im Herbst in einem Rotwildrevier, das ist kein Lohn für einen Pirschgang.


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