Fanny Lewald
Diogena
Fanny Lewald

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An Rosalinde hing ich mit tiefster Inklination. Wenn die gute Dornefeld mich mit dem Nähzeug beschäftigen wollte, so scheiterte ihr Bestreben an meinem ganzen Naturell. Nicht als ob ich es nicht hätte lernen können oder wollen; im Gegenteil, ich begriff alles spielend, aber die ganze Leidenschaftlichkeit meiner Natur warf sich bald auf das Stricken, bald auf das Tapisserienähen, und während ich in einem Tage die Arbeit von drei geübten Frauenzimmern verrichtete, rieb ich meine Kräfte auf und versank am Abend in eine Abspannung, die fast an Somnambulismus grenzte. Es ist wahr, die Strümpfe, welche ich damals in der bewußtlosen Geschäftigkeit eines Kindes strickte, hatten einen unwiderstehlichen Charme, eine Weiche, eine Wärme und Leichtigkeit, die nie ein anderer erreichen würde. Die Blumen meiner Tapisserie waren von einem Farbenschmelz, ich möchte sagen, einem Dufte, die für Naturen, welche mir sympathisch verbunden sein mochten, geradezu berauschend waren. Meiner Umgebung blieb diese Erscheinung ein Rätsel! Ich begriff es später nur zu gut. Es ist gleichviel, auf welche Gegenstände sich eine immense Seele, wie wir Frauen unseres Hauses sie besitzen, richtet; das Fluidum, das sie ausströmt, wirkt überall bezaubernd, und dies ist der unglückliche Magnetismus, der uns die Herzen der Männer entgegenführt, der sie uns unterjocht, ohne unser Zutun, zu unserer furchtbaren Pönitenz; wir müssen die fremden Herzen zertrümmern, weil wir selbst keine haben.

Hatte ich meinen Tapisserie-Paroxysmus ausgetobt, so sank ich müde nieder, und trostlos stand die gute Dornefeld an meiner Seite, denn sie wußte in ihrer Engelsmilde mit solcher impetuosen Natur wie die meine nichts zu beginnen. Dann kam Rosalinde wie mein guter Engel herbei. Sie hatte Erzählungen, die mich ganz anders ablenkten von mir selbst als die stillen Vergißmeinichtkränze, welche die gute Dornefeld zu meiner Zerstreuung für mich flocht. Sie erzählte mir von Paris, vom Cirque Olympique, von Franconi. Sie beschrieb mir ihre Kostüme und ihre Triumphe; sie erzählte mir von den Männern, die ihr gehuldigt hatten, von tollkühnen Kunstreitern und sentimentalen Dichtern, von verschwenderisch großmütigen Marquis, von knauserigen Bankiers, zärtlichen Offizieren, galanten Diplomaten und von ganz bezaubernden Grafen. Ach, die Grafen waren von jeher ihre und meine Passion. Ich wurde ebensowenig müde zu hören, als sie zu erzählen. Ihre weichen, parfümierten Locken, ihre feuchtglänzenden Augen, der Schmelz ihrer Zähne und das ganz eigentümliche je ne sais quoi gräflichen Liebreizes schwebte vor meiner Seele und tauchte als festes Bild aus dem Purpurgewölk der untergehenden Sonne für mich hervor, wo andere, unbedeutende Kinder den lieben Gott mit seinen Seraphim und Cherubim erblicken.

Dann schwand die Abspannung, dann fiel ich meiner Rosalinde um den Hals, befahl mein Pferd zu satteln und stürmte, in dem Sattel stehend, an Rosalindes Seite hinaus in das Freie, in die Welt, in die schöne Welt hinein, wo die bezaubernden, brillanten, irresistiblen Grafen waren. Mein Herz schlug dann hörbar, die ganze Glut unseres Familiennaturells klopfte wie Frühlingsahnung in meinen jungen Adern. Mir war, als müsse ich fliegen, weit, weit über die alten Eichen hinweg, hinweg über die Grenzen unseres Gutes, die Grafen zu suchen. So mag einem jungen Wandervogel zumute sein, den man im Frühling mit gestutzten Flügeln zurückhält, in der aboininabeln Enge eines Käfigs. Hinter jedem Busche, hinter jeder Hecke erwartete ich einen jungen Grafen hervortauchen zu sehen, und wenn es dann ein Bauernbursche oder einer unserer Domestiken war, so vermehrte dies Désappointement den instinktiven Degout, den ich gegen diese ganze Kaste schon mit dem Leben von meiner Mutter geerbt hatte.

Langte ich dann enttäuscht und fatiguiert auf unserem Hofe wieder an, so mußte die gute Margarethe kommen, um mit mir zu schwimmen und durch das frische, kühle Element meine erschöpften Kräfte zu restaurieren. Stundenlang hatte ich mich gewöhnt, im Wasser zu leben. Es war mir homogen geworden und ich bewegte mich darin ganz mit demselben Behagen, mit welchem andere Kinder sich auf der Erde ergötzen. Oft kehrte ich erst spät nach Mitternacht zu der geängstigten Dornefeld zurück, die bleich, mit gefalteten Händen dasaß vor den Folianten, welche über die Erziehung des weiblichen Geschlechtes geschrieben worden sind, und Gott um die Weisheit bat, das rechte Buch zu finden, die Zauberformel, einen Charakter wie den meinen zu domptieren.

Wenn ich sie dann so vor mir erblickte, mit den Spuren von Tränen und liebevoller Sorge um mich in ihren guten, tristen Augen, dann schwand das wilde Elemene in mir dahin. Aufgelöst in Tränen, voll von den besten Resolutionen, kniete ich vor ihr nieder. Ich gelobte, sie nie wieder durch mein Ausbleiben zu ängstigen, ich schwor, mich nie wieder dem Tapisserie-Paroxysmus zu überlassen, ich wollte das wilde Reiten, das vehemente Schwimmen und all meine heftigen Allüren abandonnieren. Ich bat sie, mit mir zu beten, damit ich von Gott die Kraft erhalten möchte, meine Vorsätze zu erfüllen, und schlief zuletzt in ihren Armen ein, um von den jungen Grafen zu träumen, die mir von den höchsten Zweigen unserer uralten Eichen und aus dem Wellengrün unserer stillen Seen mit feinen aristokratischen Händchen ihre Liebesgrüße zuwinkten.

So schwanden in unserer ländlichen Einsamkeit Tage, Monate und Jahre dahin. Ein ganzes Corps weiblicher Lehrerinnen war allmählich auf unserem Gute installiert worden, und die Vorträge in den Wissenschaften hatten ihren Anfang, meine Kenntnisse die rapidesten Fortschritte gemacht. Ich sprach alle lebenden und toten Sprachen, ich kannte die Geschichte und Geographie wie ein Professor, machte entzückende Verse und sang, zeichnete und tanzte wie ein Engel. Aber dies alles reichte nicht hin, mich auszufüllen; in früher Jugend war ich geistig blasiert, ich verlangte, weil mir das Lernen keine Mühe, sondern nur ein Zeitvertreib, ein Lückenbüßer war, immer nach mehr und immer nach neuem. Endlich fiel ich, als ich eben eingesegnet war und mein fünfzehntes Jahr vollendet hatte, darauf, Heraldik zu studieren. Die gute Dornefeld übernahm es, selbst sehr bewandert in dieser Branche der Geschichtskunde, mich darin zu unterrichten. Bald kannte ich alle Wappen aller adeligen Geschlechter der Welt, bis hin zu den Brahminen und Mandarinen Asiens. Überall wußte meine Lehrerin mir freundlich Aufschluß und sinnige Deutung zu geben; nur wenn ich sie fragte, was die frappierende Laterne und die mysteriöse Devise meines Wappens bedeuteten, so schloß sie mich mit schwermütigem Air an ihr Herz und sagte: »Oh, meine Diogena, forsche nicht! Es gibt Geheimnisse, welche Gott mit hoher Clemenz' dem Auge des Menschen kaschieren will. Denke, dies sei ein solches, und Gott wird dich davor bewahren, meine Diogena, daß es sich dir nicht zu deinem Schaden von selbst enthülle.«

Dies Mysterium aber ward mir zu einer wahren Tortur. Meine Seele fand keine Ruhe mehr. Es war mein sechzehnter Geburtstag, als ich aufs neue in die Dornefeld drang, mir das Geheimnis unseres Wappens mitzuteilen. Sei es, daß ich es mit zu vehementer Art gefordert hatte, oder auch, daß sie durch eine Entschiedenheit, die außerhalb ihres Naturells lag, mir ein für allemal imponieren wollte, sie refusierte es mir mit einer Härte, die mich tödlich reizte. Ich stürmte hin, aus, warf mich aufs Pferd und jagte, als gälte es ein Fox-hunting, hinaus durch Feld und Wald. Ich hatte der Margarethe Feller, die in meinem Dienste das Reiten gelernt hatte, befohlen, mich zu begleiten und meinen Schwimmanzug mit sich zu nehmen.

Es war bereits Abend, als ich, glühend von der gehabten Szene und dem starken Ritt, an dem See anlangte. Ich warf mein Reitkleid ab, ließ mir den Schwimmanzug anlegen und stürzte mich in die limpide Flut, die mich liebend umschloß, wie eine Mutter ihr Kind an sich drückt, weich und doch fest und verhüllend. Ein zauberisches Abendrot war über die frühlingsgrüne Erde ausgebreitet. Wohin man blickte, fielen rosige Streiflichter durch das Eichengrün und glitzerten goldene Sonnenfunken durch die Luft. Ich schwelgte in idealischem Naturgenusse, meine Seele hatte ein wunderbares Epanchement gegen den Schöpfer, wahre Jubelhymnen lebenskräftigen Vollgefühls stiegen aus meiner Brust empor, die bereit war, sich neuen, längst geahnten ekstatischen Entzückungen zu eröffnen.

Da plötzlich drang ein unbekannter Ton an mein Ohr. Ich horchte auf! »Ein Posthorn!« rief die Feller, welche von Halle her diesen Ton nur zu gut kannte. Ich hatte in unserem von der Landstraße entfernten Schlosse nie ein Posthorn erklingen hören. Noch einmal erschallte der Ton, und ehe ich es erwartet hatte, hielt ein eleganter Reisewagen an dem Ufer des Sees.

Zwei Männer saßen darin. Der eine, schon über die Lebenshöhe hinaus, trug den Adel jener indestruktiblen Schönheit, welcher der Vorzug aristokratischer Geschlechter ist. Der jüngere – ach! Noch jetzt schlägt mein Herz in schneller Vibration, wenn ich mir die selige Emotion jenes Momentes vergegenwärtige.

Beide Kavaliere, denn dies waren sie unwiderleglich, bogen sich weit zum Wagen hinaus, als sie mich erblickten, und der jüngere besonders schien ganz bewildert durch meinen Anblick zu sein. Auch mochte er etwas sehr Ungewöhnliches bieten. Ich war damals in jener reizenden Periode des weiblichen Daseins, in dem das Kind urplötzlich zum Weibe geworden, alle Grazie der Kindheit und allen Zauber des Weibes in sich vereinigt. Der rosa Trikot, der mich umhüllte, verriet, soweit das Wasser mich preisgab, die makellose Schönheit meiner adeligen Gestalt. Meine goldblonden Locken hingen, wie mit brillantenen Reflexen übersät, auf meine Schultern herab. Die feinen schwarzen Fransen meiner breiten, mächtigen Augenlider verschleierten die schwarze Iris meines Auges, die, weich wie Sammet, doch so brennende Glut in sich verbarg. Mädchenhafte Scham trieb mich, mich vom Ufer zu entfernen, und doch hielt der flammende Blick aus dem Auge des Jünglings mich magisch gebannt in seinem Zauberkreise. Nur mit langsamen Stößen schwamm ich der Mitte des Sees zu, und den Kopf zurückwendend, sah ich, wie das Auge des jungen Mannes mir folgte, und hörte die Frage des Älteren, ob dies der Weg nach dem Schlosse sei?

Kaum war der Wagen an uns vorüber, als ich aus dem Wasser sprang, in fiebernder Hast mich in die Kleider warf, das Pferd bestieg und in gestrecktem Galopp dem Schlosse zueilte. Als ich dort anlangte, saßen die Fremden auf der Terrasse vor dem Gartensaale. Ich wollte zu ihnen gehen, sie in meinem Hause willkommen zu heißen, als die Dornefeld mir entgegen kam.

»Oh, meine Diogena!« sagte sie, »wie glüht dein liebes Antlitz, wie funkelt dein Auge! In dir bebt noch die ganze Erregung unseres heutigen Streites fort, und doch wollte ich, du wärest jetzt ruhig und mild, denn ein werter, unerwarteter Besuch ist uns geworden. Graf Mario und sein Sohn Bonaventura sind angelangt und begierig, dich zu sehen, mein Engel!«

»So laß uns zu ihnen gehen«, rief ich und flog mit der Leichtigkeit eines Vogels die Treppe zur Terrasse empor. Vergebens erinnerte mich die Dornefeld an die Unordnung meiner Toilette, ich beachtete es nicht. Ich hatte gehört, daß Graf Mario sich, müde des Reiselebens, in unserer Gegend eingekauft hatte, nachdem seine Gemahlin, die geniale Gräfin Faustine, in das Kloster der vive sepolte eingetreten war, »um anzubeten, immerfort anzubeten« und so dem Drange ihrer inneren Sehnsucht zu genügen. Sie war eine ältere Cousine meiner Mutter gewesen und der junge Graf Bonaventura also mein Cousin à la mode de Bretagne.

Ich hatte nie jemanden von meinen Verwandten gesehen, ich war ohne jugendliche Gespielen aufgewachsen, welch ein Wunder also, daß es mich mit warmer Sehnsucht den ersten Blutsfreunden entgegenzog, die ich erblickte. Mit allem graziösen Elan meines Wesens trat ich ihnen entgegen und bot erst Mario, dann Bonaventura die Hand.

Graf Mario schien bewegt von meinem Anblick. Er fuhr mit der Hand über Stirn und Augen und schloß mich dann, wie von unwiderstehlichem Impulse dazu getrieben, an seine Brust.

»Verzeihen Sie einem Freunde Ihrer Mutter, teure Gräfin!« sagte er, »wenn die Ähnlichkeit mit dieser und die Ähnlichkeit mit meiner unvergeßlichen Faustine mich übermannten. Oh! Sie haben die magischen Augen dieser Frauen, Sie haben das unnachahmliche faszinierende je ne sais quoi, das jenen eine so zauberische Macht verlieh.«

»So lieben Sie mich, Graf Mario!« entgegnete ich, »wie Sie jene Frauen liebten. Denken Sie, ich wäre Ihre Tochter! Ich habe meine Eltern nicht gekannt, ich habe einsam gelebt und ohne Liebe bis auf diesen Tag, und ich sehne mich sehr nach Liebe.«

Ein tiefer Seufzer der armen Dornefeld unterbrach mich und erinnerte mich daran, daß diese Worte ihr wehe getan haben konnten. Zerknirscht von Reue warf ich mich an ihr Herz. »Meine Dornefeld«, rief ich aus, »oh, du hast mich geliebt; du hast mich geliebt mit jener reinen, unirdischen Engelsliebe, wie die Seraphim sie für die Kinder haben, die ihrem Schutze anvertraut sind! Du hast meiner nie bedurft und mir doch alles gewährt, dich verehre ich, dich bete ich an, du bist zu hoch für meine Liebe.«

»Wunderbares Kind!« sagte Graf Mario, indem er mich befremdet betrachtete. »Und was denken Sie sich unter der Liebe, die Sie bis jetzt vermißt und ersehnt haben? Was verlangen Sie von ihr?«

»Was ich verlange?« wiederholte ich träumerisch und versank in ein momentanes Nachdenken. Das hatte ich mir selbst niemals klar gemacht, mich niemals gefragt. Mein ganzes Herz hatte das Wort »Liebe« wie ein Zauber erfüllt; wie die Gottheit dem Pantheisten das All ist, so war es mir die Liebe gewesen. Jetzt, da die positive Frage an mich gerichtet wurde, da Bonaventuras Augen mit sehnsüchtigem Ausdruck auf mir ruhten, da war es mir plötzlich, als erschlössen sich die verborgenen Tiefen meiner Seele, als sähe ich in den aufgetanen Schachten meines Herzens das funkelnde flammende Gold, die strahlenden Brillanten und die blutroten Rubine der Liebespoesie mir entgegenstrahlen, und das ganze profunde Mysterium der Liebe enthüllte sich mir wie durch eine instantane Revolution.

Ich schlug die mächtigen Augenlider empor und sagte, indem ich mit prächtigem Stolze die Grafen abwechselnd anblickte: »Was die Liebe sei, das weiß ich durch den Glauben meines Herzens so sicher, wie der Christ vermöge des Glaubens weiß, daß und was die ewige Seligkeit ist. Die Liebe ist das Einssein von zweien; ich höre auf zu sein, um in einem anderen erst wieder zu werden. Es ist eine Regeneration, es ist ein Aufgehen in dem Geliebten, dessen ganzes Wesen dafür mein eigen wird, mein eigen ganz und gar. Ein Mensch allein durchdringt das Geheimnis des Daseins nicht; aber zwei vereint zu einer Liebe, die durchdringen es. Die wirbeln sich empor mit der Lerche, im Frühlicht der Sonne entgegen, die lauschen dem schweigenden Pulsschlag der Erde in träumerischer Nacht, die beherrschen mit mächtigem Zauberstab die ganze Skala der Gefühle, daß alle Akkorde des menschlichen Daseins sich vor ihrem Willen zusammenfügen zu der wahren Sphärenharmonie, deren ewiger Text das eine Wort ist, ›Liebe!‹ –

Oh, die Liebe!« rief ich aus und sank totenbleich auf den Fauteuil, der mir zunächst stand.

Der Graf, die Dornefeld eilten, mir beizustehen, aber schneller als sie beide war Bonaventura zu meinen Füßen niedergesunken, und meine Hände in die seinen pressend, rief er ekstatisch: »O Diogena! Stirb nicht! Stirb nicht! Mein Ideal! Ehe du mich mit dir emporziehst in deinen Himmel der Liebesseligkeit, wo ich fortan wohnen muß mit dir, wenn ich nicht versinken soll in den Tartarus der Verzweiflung!«

Ich sprang empor, ich warf meine Arme mit Enthusiasmus zum Himmel empor und sagte: »Oh! Das ist der Klang der Stimme, auf den mein Ohr gelauscht, seit Töne ihm vernehmlich wurden! Das ist sie, das ist seine Stimme, die Stimme par excellence!« –

Wir lagen uns in den Armen, wir mischten unsere Tränen miteinander, wir erbebten unter den süßen Schauern des ersten flammenden Kusses. Ein Augenblick hatte zwei Existenzen indissoluble verbunden.

Graf Mario, die Dornefeld standen wie sprachlos dabei. Eine solche Précipitation überstieg alles, was sie je erlebt hatten, was man voraussehen konnte. Wir knieten vor dem Grafen nieder, wir baten um seinen Segen, er schloß uns gerührt an sein Herz. »Das ist Naturgewalt!« sagte er, »möge die Stunde eine gesegnete sein, die euch zusammenführte.«

Er sprach mit der Dornefeld von bienséances, von meinem Vormunde, von der Notwendigkeit, ihn zu Rate zu ziehen, wir hörten es kaum oder hörten es doch nur so, wie die seligen Bewohner des jenseits das unheilige Geräusch des Erdentreibens vernehmen mögen.

Bonaventura hatte mich hinabgeführt in den Garten zu einer Bank unter dem Schutze einer mächtigen Linde. Hier warf er sich abermals stumm vor mir nieder. Hier betrachtete ich zuerst die ganze magnifique Schönheit seiner Erscheinung. Er zählte damals etwa zweiundzwanzig Jahre. Hoch und schlank aufgeschossen, hatte er die ganze Flexibilität und die wundervolle Eleganz der Jünglinge aus altadeligen Geschlechtern. Dunkle Locken, schwarz wie die Flügel der Rauchschwalbe, legten sich weich um seine geniale Stirn, und wie Sonnenstrahlen aus dem spiegelhellen Blau eines Schweizersees, mit so limpidem Lustre tauchten seine goldbraunen Augen aus dem verschwimmenden Weißblau der Netzhaut hervor. Ich legte meine Händchen auf sein Haupt und wollte den Mund öffnen, um in Worten die ganze heiße Fülle meiner Seele auszuhauchen, da preßte Bonaventura meine Hände urplötzlich und fast gewaltsam an sich und sagte leise und mit vor innerer Emotion vibrierender Stimme:

»O schweig, schweig, meine Diogena! Fühlst du denn nicht, daß die Seele des Erdgeborenen nur gradatim die Wonne des Himmels erträgt? Fühlst du denn nicht, Diogena, daß mich heute dein bloßes Anschauen außer mir wirft? Und willst du mich vernichten durch Ekstase, indem du noch den Zauber deiner Rede gegen mich benutzest? Sei barmherzig, Himmlische, und schweige!«


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