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Es war sieben Uhr morgens, als die Tür des Zimmers, in dem der Abbe Lambquin betend bei Georges Leiche saß, in ihren Angeln sich drehte.
Thomas erschien.
Herr Pfarrer, sagte er mit leiser Stimme, der Doktor Louaset ist da und außerdem der Herr Maire.
Der Abbe hatte nicht geschlafen, er hatte während dieser traurigen Wache über das schmerzlichste Wort des schmerzlichsten aller Bücher, »der Nachfolge Christi« nachgedacht: Herr, nichts geschieht auf Erden, das nicht eine Ursache in dir hätte und nicht nach dem Ratschluß deiner göttlichen Vorsehung geregelt wäre. Dann hatte er sich gefragt, warum diese Vorsehung es gewollt, daß dieser schöne Sohn sterben und diese Mutter weinen sollte.
Einen Augenblick, sagte der Priester, ging zu der Tür, die mit dem Nebenzimmer in Verbindung stand, klopfte an und öffnete sie geräuschlos, da er keine Antwort erhielt.
Die Lampe hatte gequalmt, und warf einen rötlichen Schein auf das Bett; Loisy lag noch immer mit spitzer Nase und gesenkten Lidern ausgestreckt; die arme Frau hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt, war auf den Knieen auf dem Teppich zusammengesunken und in dieser Lage eingeschlafen.
Bei dem leisen Geräusch, das der Priester machte, zuckte sie zusammen, öffnete die Augen, wandte den Kopf und blickte auf; sie sah ihren Mann, erinnerte sich und fing an zu weinen.
Der Arzt ist da, sagte der Abbe.
Schnell, schnell, er soll eintreten, rief sie, sich aufrichtend.
Warten Sie, ich werde die Fensterläden öffnen.
Das fahle Licht eines Wintermorgens huschte in das Zimmer und beleuchtete die traurige Unordnung dieser Schreckensnacht; die Kleider des Kranken lagen wirr durcheinander an der Erde; daneben stand die Waschschüssel, in der man ihm das Gesicht abgewaschen. Frau Loisy verstand, warum der Priester einen kurzen Aufschub verlangt hatte, bevor er den Arzt hereinführte.
Er ging in das andere Zimmer und führte dann den Doktor und den Maire ein.
Aber was ist denn passiert? fragte der Doktor Louaset.
Mit wenigen Worten unterrichtete ihn der Abbe von dem Vorgefallenen, auf der einen Seite ein entsetzlicher Unfall, auf der andern eine Gehirnerschütterung.
Ich habe Herrn Loisy zur Ader lassen müssen, sagte der Abbe ruhig, und als wir hier angekommen waren, hat man ihm Senfpflaster aufgelegt.
Das heißt, Sie haben ihn gerettet, versetzte der Doktor, wenn er überhaupt gerettet werden kann.
Der Doktor Louaset war ein ehrenhafter, braver aufrichtiger Mann mit fröhlichem Gesicht. Er war allerdings kein Gelehrter und erhob auch keinen Anspruch darauf. Man machte ihm sogar den Vorwurf, er verschreibe nicht genug Medikamente. Er gestand ganz aufrichtig, für die Dummköpfe sogar zu aufrichtig, daß in den meisten Fällen nur die Natur allein helfe. Doch er hatte ein vertrauenerweckendes Aeußere, einen ermutigenden Blick und eine leichte Hand. Alles in allem war er sehr beliebt. Er hatte sich der Leiche Georges genähert, sie befühlt und kopfnickend bestätigt, daß hier nichts mehr zu machen war.
Frau Loisy hatte die Tür ihres Zimmers geöffnet; er verneigte sich und trat ein.
Der Abbe blieb mit dem Maire, Herrn Deroche, allein, einem eitlen, aufgeblasenen Großgrundbesitzer, der mehrmals bei den Deputiertenwahlen durchgefallen war, im übrigen aber niemals jemand etwas zu Leide getan hatte, und sogar leicht Gutes tat, wenn man seiner Eitelkeit nur ein bißchen zu schmeicheln wußte.
Alles in allem war er ein gleichgültiger Mensch, ja sogar ein Egoist. Er kannte Loisy nur wenig, denn der Künstler hatte ihm nicht die Hochachtung erwiesen, die er vermöge seiner Würde und seiner Vermögenslage fordern zu müssen glaubte.
Als der Pfarrer ihm die wahrscheinlichen Umstände des Unfalls geschildert, schüttelte Herr Deroche mit ernster Miene den Kopf:
Kommt Ihnen dieser Tod nicht auch sehr seltsam vor, Herr Abbe?
Der Pfarrer sah ihn überrascht an. Ich verstehe Sie nicht!
Ein so kräftiger, junger Mann sollte in der Arvette ertrinken, einem Bach!
Der von dem Winterregen angeschwollen und außerdem mit Eis bedeckt war, die Arvette war vielleicht zu schwach, um einen Menschen zu tragen, aber doch stark genug, um ihn nicht mehr an die Oberfläche kommen zu lassen …
Ja, ja, mag sein … Indessen habe ich immerhin den Herrn Friedensrichter holen lassen.
Tatsächlich fand er gar nichts Seltsames dabei und wäre in große Verlegenheit geraten, hätte er sein geheimnisvolles »Indessen« aufklären müssen. Doch dieses Verhalten schien seiner Würde zu entsprechen, und das genügte ihm.
Weiß man, um wieviel Uhr der Unfall stattgefunden hat? fragte er.
Sie vergessen, Herr Maire, daß wir die Leiche mitten in der Nacht gefunden haben, und daß es uns aus vielen Gründen unmöglich war, eine Untersuchung vorzunehmen.
Das gebe ich zu.
Indessen ist der arme Herr Georges allem Anschein nach ertrunken, als er von Ville-Girard zurückkehrte, wohin er auf die Jagd gegangen war …
Bei Schneewetter jagen … das ist verboten.
Der Unglückliche hat diese Uebertretung nur zu sehr büßen müssen. Sie fragen mich nach der wahrscheinlichen Stunde, ich glaube, sie zwischen sieben und neun Uhr abends festsetzen zu können. Später ist er nie nach Hause gekommen.
Plötzlich schlug sich der Abbe vor die Stirn.
Doch da fällt mir ein, sagte er, wir haben ja ein sicheres Mittel, das zu erfahren.
Der Leichnam war schnell entkleidet worden, und Thomas hatte den feuchten Anzug fortgebracht. Der Abbe ging zur Tür und rief ihn:
Steckt Herrn Georges Uhr in seiner Weste?
Ja, Herr Pfarrer.
Wollen Sie sie mir bringen!
Thomas gehorchte. Es war eine große Repetieruhr, die Georges von einem Bauern gekauft und die ein Pariser Uhrmacher repariert hatte. Einer seiner Lieblingsscherze war, ganz leise an den Whisttisch zu treten, sich über den Abbe zu neigen, der sich in die tiefsinnigsten Berechnungen vertiefte, sie ihm plötzlich dicht ans Ohr zu halten und schlagen zu lassen! Georges zog dann mit ernster Miene die große Feder auf, die wie eine Kinderklapper klang, und zählte die Schläge, ein, zwei bis elf, wo das gezähnte Rad schnappte.
Sehen Sie, sagte der Abbe zu Herrn Deroche, die Uhr ist um 8 Uhr 45 Minuten stehen geblieben. So hatte ich es auch vermutet.
Herr Deroche nickte zustimmend mit dem Kopfe, während der Abbe die Uhr auf den Kamin legte.
Wo hat er gefrühstückt oder zu Mittag gegessen? fragte der Maire.
Das werden wir heute erfahren. Aber jedenfalls hat er nur wie gewöhnlich eine einzige Mahlzeit bei Loriot in Ville-Girard gehalten.
Der Doktor verließ das Zimmer der Frau Loisy, während die arme Frau unter heißen Tränen ihm folgte.
Regen Sie sich doch nicht so auf, sagte er zu ihr, in acht bis zehn Tagen wird Ihr Mann wieder auf den Beinen sein … Ich sage nicht, daß er gleich so kräftig sein wird wie früher. Doch Sie werden ihn in Watte wickeln, und er wird uns alle begraben … Dem Herrn Pfarrer sind Sie übrigens großen Dank schuldig, sein Aderlaß ist ein Meisterwerk.
Der Herr Maire stand vor dem Kamin; er fühlte sich etwas verletzt, daß ihn Frau Loisy nicht zuerst begrüßte, dann entschloß er sich zu der Bemerkung:
Seien Sie überzeugt, Madame, ich nehme den größten Anteil an dem Unglück, das Sie betroffen.
Sie weinte noch immer und antwortete in abgehackten Worten.
Sie sind zu gütig, Herr Maire, … ich danke Ihnen … es ist furchtbar … und mein armer Georges …
Gehen Sie wieder zu Herrn Loisy, sagte der Doktor, inzwischen werde ich den armen Jungen untersuchen …
Aber darf ich nicht bleiben?
Nein, nein, bereiten Sie das Senfpflaster, wie ich Ihnen gesagt habe. Denken Sie zuerst an den Lebenden, das ist meine ausdrückliche Vorschrift!
Sie gehorchte und die drei Männer blieben allein.
Der Doktor warf das Tuch zurück, das die Leiche bedeckte.
Georges erschien in der Fülle der Kraft, mit seinen breiten Schultern. Der Arzt betastete die Glieder, in denen die Starre schon vollständig eingetreten war.
Der Tod ist sehr schnell eingetreten, sagte er.
Indessen muß er zu kämpfen versucht haben, versetzte der Abbe, sehen Sie nur!
Dabei zeigte er auf die Abschürfungen des Schädels.
Herr Louaset schien überrascht. Er ging ans Fenster, schob die Vorhänge beiseite, damit das Licht besser auf die Haare fiel, und sagte:
Ganz offenbar die Spuren eines heftigen Schlages. Merkwürdig!
Herr Deroche war neugierig näher getreten.
Wir dachten, der Unglückliche hätte versucht, mit seinem Kopfe das Eis zu durchbrechen, sagte der Abbe. Sie wissen, er war kräftig und ein guter Schwimmer … er wird sich von unten nach oben geschoben haben und ist vielleicht heftig gegen die Eisdecke angerannt.
Ja, ja, so muß es sein, sagte der Doktor und schob die Haare sorgfältig beiseite. Das Gegenteil wird durch nichts bewiesen. Das Eis war wohl sehr stark?
An gewissen Stellen hatte es fünf bis sechs Zentimeter Dicke.
Ah, Herr Bertemont, rief der Pfarrer, als er den alten Notar erblickte, der geräuschlos eintrat.
Nun, wie geht's Loisy?
Er ist gerettet, sagte der Doktor und trat von dem Leichnam zurück, um Herrn Bertemont die Hand zu schütteln, doch die Folgen werden recht lange dauern, recht lange sogar, ich fürchte eine Lähmung.
Herr Bertemont und Herr Deroche hatten einen sehr kühlen Gruß gewechselt. Die Anwesenheit des Notars schien dem Maire sogar unangenehm zu sein, denn er wandte sich zu dem Doktor und sagte zu ihm:
Sie werden die Freundlichkeit haben, mir einen Bericht zu erstatten, nicht wahr, Herr Doktor? Der Herr Friedensrichter wird vermutlich gegen 12 Uhr mittags hier sein. Sobald er die Leiche besichtigt, werden wir den Zeitpunkt des Begräbnisses festsetzen können.
Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Maire.
Herr Deroche verneigte sich und ging.
Um wieviel Uhr, glauben Sie, hat der Unfall stattgefunden? fragte jetzt auch der Notar.
Die Uhr ist um 8 Uhr 45 Minuten stehen geblieben.
Morgens oder abends?
Nun, sicherlich abends.
Dann wiederholte er die Erklärungen, die er vorhin Herrn Deroche gegeben.
Dieser Punkt ist sehr wichtig, sagte der Doktor, weil die Leiche auf den ersten Blick längere Zeit im Wasser gelegen zu haben scheint, als diese Hypothese vermuten läßt.
Wirklich?
Allerdings sind die Symptome nicht positiv, doch fest gilt es als absolute Regel, daß die Entfärbung der Hand- und Fußhaut erst nach ziemlich langer Zeit erfolgt, namentlich im Winter. Nun, sehen Sie nur …
Tatsächlich zeigte der obere Teil von Georges Händen eine matte, anormale Blässe, die sich von der übrigen Haut scharf abhob. Dasselbe galt von der Fußsohle.
Im Sommer, fuhr der Doktor fort, tritt dieses Charakteristikum manchmal nach fünf bis sechs Stunden ein, doch im Winter, davon bin ich überzeugt, braucht es wenigstens zwölf bis fünfzehn Stunden.
Fassen wir alles zusammen! sagte Herr Bertemont, wir haben in dieser Beziehung nur ein einziges Beweismittel. Sein Bruder hat ihn morgens zwischen acht und neun Uhr nach der Stoppelwiese begleitet. Von dort ist Georges durch den Wald bis Ville-Girard gewandert, wo er jedenfalls gefrühstückt hat, dann ist er bei seiner Rückkehr, bei Einbruch der Nacht an die Arvette gekommen. Als er hier die Brücke zerstört fand, hat er versucht, über das Eis zu gehen und dies ist unter seinen Füßen zusammengebrochen … Nehmen wir indessen an, daß er früher zurückgekommen ist, so kann das doch jedenfalls nicht vor vier bis fünf gewesen sein.
Und wann ist die Leiche herausgezogen worden?
Ungefähr um halb zwei Uhr nachts.
Danach würde die Leiche im höchsten Falle neun Stunden im Wasser gelegen haben … Nein, ich glaube nicht, daß die Entfärbung so schnell vor sich gegangen ist, namentlich in Eiswasser … doch schließlich bin ich nicht unfehlbar, im Gegenteil, … leider ist die Tatsache auch von geringer Bedeutung.
Uebrigens kann Ihnen sein Bruder Abel selbst erklären …
Da bin ich, sagte eine Stimme.
Die Männer drehten sich lebhaft um. Abel war eingetreten, ohne daß sie ihn gehört hatten.
Der junge Mann, der sehr blaß aussah und gerötete Lider hatte, erschien noch schwächer und gebrechlicher als gewöhnlich. Indessen hielt er sich gerade und steif, und sein ganzes Wesen schien zum Widerstande entschlossen.
Sein Erscheinen hatte einen eigentümlichen Eindruck auf die drei Männer hervorgebracht. Von allen dreien hatte auch nicht einer eine wahre, aufrichtige Sympathie für ihn. Der Arzt hatte Mitleid mit ihm, denn er verstand die Gebrechlichkeit dieser ungleichmäßigen Natur besser als die anderen. Der Abbe, der ein seelenguter Mensch war, mußte sich selbst Gewalt antun, um dieser Demut, die so starke Aehnlichkeit mit der Heuchelei hatte, nicht allzu scharf auf den Grund zu gehen. Was Herrn Bertemont betraf, so konnte er eigentlich nichts Bestimmtes gegen ihn vorbringen, er mißtraute ihm instinktiv. Wohl verstanden schlummerten diese Gefühle bei allen drei Männern, und keiner war sich darüber so recht klar. In Wirklichkeit bezeugten sie auch ihm ganz aufrichtig die Zuneigung, die die ruhige Güte seines Vaters und die allgemeine Sympathie, deren sein Bruder sich zu erfreuen gehabt, in hohem Maße verdiente. Dennoch hatte sich ihrer eine gewisse Ueberraschung bemächtigt, und ein kalter Hauch schien plötzlich durch das Zimmer zu gehen.
Mein armer Abel, sagte der Pfarrer; wir suchen uns über die schrecklichen Umstände, durch die dein Bruder uns geraubt wurde, klar zu werden.
Er duzte ihn von Kindheit an, denn er hatte ihn über die Taufe gehalten.
Ach, versetzte Abel, wer wird das je erfahren, es ist schrecklich!
Dabei stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Diese – übrigens aufrichtigen Tränen, denn sie waren das Resultat seiner Nervenerschütterung, rührten den Doktor und er rief:
Regen wir den armen Jungen nicht auf, er hat so genug zu leiden, ohne daß wir mit dem Eisen in der Wunde wühlen.
Wollen Sie etwas wissen, fragte Abel, der jetzt wie im Krampf am ganzen Körper zitterte, o, so fragen Sie mich nur alles, das Sprechen wird mir im Gegenteil eine Erleichterung sein.
Du hast uns gesagt, fuhr der Abbe fort, du hättest deinen Bruder heute morgen bis zur Stoppelwiese begleitet.
Ja, das ist wahr, versetzte Abel ruhig.
Du glaubst also nicht, daß er den Weg an der Arvette entlang eingeschlagen hat?
Nein, gewiß nicht, auf dem Wege mußte er ja zurückkommen.
Sehen Sie wohl, fuhr der Abbe fort, Herr Doktor, Sie müssen sich also schon in Ihren Beobachtungen getäuscht haben.
Was für Beobachtungen, fragte Abel heftig und seine Stimme nahm die ihr eigene Rauheit wieder an.
Ich glaubte, der Tod müsse schon gestern vormittag eingetreten sein, erklärte ihm der Arzt.
Das ist unmöglich, ganz unmöglich, Georges hat sicher den ganzen Tag gejagt.
Das mag immerhin sein! Uebrigens, wie kommt es denn, daß er seine Jagdtasche nicht bei sich hatte? Georges war zu gewandt, um nichts erlegt zu haben. Es wäre wohl das erstemal!
Abel antwortete nicht. Er war an das improvisierte Bett getreten und betrachtete den Toten. Seine Augen waren starr, die Lippen zusammengepreßt.
Küsse ihn noch ein letztes Mal, sagte der Abbe zu ihm.
Abel schauderte vom Kopf bis zu den Füßen, dann aber zwang er seine Muskeln, seinem Willen zu gehorchen. Er bückte sich langsam, als ob seine steifen Glieder sich nicht beugen wollten, und seine Lippen berührten die Stirn des Toten.
Gleichzeitig aber entrang sich ein gräßliches Schlucken seiner Kehle, er schwankte und wäre auf den toten Bruder gefallen, hätte ihn nicht Bertemont in seinen Armen aufgefangen. Mit geschlossenen Augen, zusammengepreßten Fäusten blieb er auf den Knieen vor dem Bett liegen.
Frau Loisy trat ein. Sie war von Gabriele begleitet, die in Trauerkleidung mit ihrem Vater gekommen war.
Der Arzt nötigte Abel, sich zu erheben, denn er wollte der unglücklichen Mutter nicht das Schauspiel der doppelten Verzweiflung geben.
Herr Doktor, sagte Frau Loisy, wollen Sie nicht nach meinem Mann sehen? Ich glaube, die Besserung macht sich schon bemerkbar. Seine Lippen haben sich eben bewegt, als wenn er sprechen wollte.
Ich gehe zu ihm und bitte dann um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen. Ich habe meinen Bericht zu machen und noch einige Kranke in Longpre zu besuchen.
Ich gehe mit Ihnen, sagte der Abbe, ich muß ins Pfarrhaus.
Frau Loisy sprach allen ihren herzlichsten Dank aus.
Ich werde Abel mitnehmen, sagte der Abbe zu ihr mit leiser Stimme, ich fürchte, seine Verzweiflung könne seine Gesundheit beeinflussen. Einen Vorwand werde ich schon finden.
Doch Abel weigerte sich, ihm zu folgen, man solle übrigens nichts fürchten, er würde stark sein und seinen Schmerz zu beherrschen wissen.
Seine Mutter rief ihn zu sich und zwang ihn sanft und milde, zu ihren Füßen niederzuknieen, indem sie seinen Kopf auf ihren Schoß legte.
Dann fuhr sie ihm mit den Fingern durch die Haare.
Armer Kleiner, dein Vater hat nur noch dich … Du wirst ihn recht lieb haben, nicht wahr? Denke daran, daß du jetzt sein ganzes Glück bist!
Abel richtete seine blauen Augen, in denen eine Flamme aufschoß, auf sie und sagte:
Ach ja, ich werde Sie lieben … und Sie werden mich auch lieben!
Wie zwei Kinder in einem einzigen, fügte Frau Loisy hinzu, indem sie ihn leidenschaftlich umarmte.
Der Doktor rief Frau Loisy aus dem anderen Zimmer, sie erhob sich schnell, während Abel ihr folgte.
Gabriele ging zu Herrn Bertemont, der stillschweigend am Kamin stehen geblieben war.
Vater, sprach sie schnell zu ihm, ich will dir nichts verhehlen. Ich liebte Georges und werde an seinem Tode zu Grunde gehen …
Du, mein Kind?
Eine fürchterliche Angst schnürte dem Vater das Herz zusammen. Welch neues Unglück sollte ihn treffen?
Und er liebte dich?
Ach ja!
Er hat es dir gesagt?
Nein, nein, niemals, versetzte Gabriele errötend. Doch ich wußte es, ich hatte es erraten. Auch ich hatte ihm die tiefe Zuneigung, die ich für ihn hegte, nie gestanden, denn wozu? Wir verstanden uns nur zu gut, ich hatte ihm mein ganzes Herz geschenkt. Er war so aufrichtig, so gütig …
Herr Bertemont stieß einen tiefen Seufzer aus und drückte seine Lippen auf die Stirn seiner Tochter.
Armes Kind! Beweine ihn, beweine ihn recht innig: er verdient es … Warum hast du nicht früher zu mir gesprochen? Wer weiß? Dieses schreckliche Unglück wäre vielleicht nicht passiert …
Gabriele zitterte.
Eine seltsame Blässe verbreitete sich auf ihrem Gesicht. Sie umschlang den Hals ihres Vaters mit den Armen, drückte ihre Lippen an sein Ohr und sagte zu ihm ganz leise, so leise, daß ihre Stimme fast wie ein Hauch klang:
Und wenn ich dir nun sagte, daß ich nicht an einen Unfall glaube!
Gabriele!
Still, da ist Frau Loisy!