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Der Abbe war vorausgeeilt, um die unglückliche Frau Loisy auf das entsetzliche Ereignis vorzubereiten und den furchtbaren Schlag nach Möglichkeit zu mildern.
Der brave Mann hatte schon oft ähnlichen Trost spenden müssen, schon oft war er genötigt gewesen, im Getriebe des Alltagslebens nach trostreichen Worten zu suchen. Doch jetzt suchte er, während er schnell einen Seitenweg einschlug, um das Haus der Loisys früher zu erreichen, vergeblich nach mildernden Phrasen, die geeignet wären, das Fürchterliche des ersten Eindrucks abzuschwächen.
Der Abbe Lambquin gehörte zu jenen entsagungsfreudigen Gemütern, die ihrem Leben an einem Tage des Mißerfolges Stillstand geboten haben, wie manche Kinder im Aerger die Feder einer Uhr zerbrechen. Auch er hatte seinen Ehrgeiz besessen, auch er hatte gestrebt. Unterrichtet und begabt, hatte er von den hohen Würden der Kirche geträumt, und war überzeugt, allein durch sein Können, seine Bildung und seine Rechtschaffenheit das Ziel zu erreichen. Bis zum Alter von 40 Jahren hatte er sich seine Illusionen erhalten, und da er im höchsten Grade Optimist war, so hatte er bei seinen Kollegen wie bei seinen Vorgesetzten dieselbe Güte und Gewissenhaftigkeit vorausgesetzt, die er selber besaß. Da er ein tadelloses Leben führte, so glaubte er das Ziel, nach dem er strebte, ungestraft gestehen zu können.
Von diesem Tage an war er der Feind und wurde von allen verpönt und verfolgt. Erst nach langer Zeit begriff er und bemühte sich, zu beweisen, daß er die von ihm erstrebte Stellung auch ausfüllen und sich ihrer durch treffliche Dienste als würdig erweisen würde. Ein Tag, eine Minute genügten, um seine Luftschlösser umzustürzen. Das Wort Intrigant wurde beim Erzbischof gesprochen, und ein mehr als strenger Verweis ermahnte ihn zur Bescheidenheit. Der arme Mann, dessen Aufrichtigkeit selbst unter diesen traurigen Verhältnissen nicht wankte, wunderte sich über diese Verwarnung und machte den Versuch, sich zu verteidigen. Daraufhin zog er sich eine Ungnade zu. In seiner Angst hielt er sich für verloren und glaubte sich merkwürdigerweise schuldig, demütigte sich, schlug sich die Brust und bat um Verzeihung. Man bewilligte sie ihm und begrub ihn aus Gnade und Barmherzigkeit in Longpre-sur-Oise.
Hier lebte er seit zwanzig Jahren; er hatte seine Träume vergessen und verwarf jede Erinnerung an den früheren Ehrgeiz als eine Versuchung des Bösen; dann hatte er sich vom Schlendrian des alltäglichen Lebens einlullen lassen und war der Abbe Lambquin geworden; ein unbedeutender, guter und aufopferungsfähiger Landpfarrer, der eben nichts weiter tat als seine Pflicht. Er hatte sich in seine Mittelmäßigkeit wie in ein feuchtes Grab eingescharrt, in welchem seine Fähigkeiten nach und nach einrosteten. So fühlte er sich in dieser Nacht fast außer stande, die Worte zu finden, die den Schmerz mildern und die Verzweiflung betäuben.
Während er so mit gesenktem Kopfe in seiner Soutane fröstelnd dahinschritt, hörte er, bevor er das Haus Loisy noch erreicht hatte, in einiger Entfernung mehrere Stimmen, die ihn bei seinem Namen riefen. Gleichzeitig liefen Frau Loisy und Gabriele Bertemont auf ihn zu und fragten:
Ah, da sind Sie ja! Was ist geschehen, sprechen Sie, sprechen Sie schnell!
Er war von dieser unerwarteten und vorzeitigen Erscheinung wie betäubt.
Nach einer Pause nahm er die Hände der Frau Loisy in die seinen und schüttelte sie, während ein heftiges Zittern seinen Körper bewegte.
Mein Sohn … Georges! Wo ist er? Aber so sagen Sie es mir doch … sagen Sie es mir!
Der arme Mann, der so lange nach einleitenden Worten gesucht, begann zu weinen und sagte: Frau Loisy, es bleibt Ihnen noch ein Sohn!
Ein herzzerreißender Schrei antwortete ihm. In demselben Augenblick hatte Frau Loisy am Ende der langen Allee die Fackeln und die schwarze Gruppe bemerkt, die schon aus der Ferne einem Leichenzuge glich.
Entsetzt, mit den Armen in der Luft herumschlagend, begann sie zu laufen und war in einer Sekunde bei den Trägern angelangt. Sie ließ sie nicht weitergehen, warf sich auf die Bahre, riß das Laken, mit dem man die beiden Gesichter bedeckt hatte, fort, und sah im Grauen einer Sinnestäuschung diese beiden totenblassen Gesichter, diese beiden fahlen, leidenden Masken, ihren Sohn und ihren Mann. Sie stieß einen furchtbaren Angstschrei aus und fiel Herrn Bertemont in die Arme.
Auch Gabriele kam herbeigelaufen; ihr folgte der Abbe, der heftig schluchzte und sich anklagte, wie stets ungeschickt und töricht gehandelt zu haben.
Schnell, schnell ins Haus, sagte Herr Bertemont, indem er die unglückliche Frau mit sich fortzog und die Träger zur Eile antrieb. Frau Loisy wollte sprechen und fragen, doch die Worte rollten unverständlich über ihre von Angst klappernden Kinnbacken. Sie hatte, – das war der einzig mögliche Vergleich, – einen Hammerschlag mitten auf den Schädel bekommen. Diese schreckliche, betäubende Katastrophe, die auf ihre bis dahin unerschütterliche Ruhe hereinbrach, wirkte auf sie wie eine Explosion. Sie taumelte, ohne weinen zu können, sie wußte nicht mehr, wo sie war, wohin sie ging, ob sie überhaupt lebte. Sie war wie ein Kind, das in einem von Frühlingsluft und Sonnenschein durchfluteten Park sich plötzlich von häßlichen Tieren umgeben sieht. Der alte Notar ließ sie so schnell wie möglich gehen, ja fast sogar laufen; er wußte, daß bei moralischen Erschütterungen körperliche Erschöpfung wohltuend wirkt.
Am Hause angelangt, blieb sie an der Tür stehen und wollte nicht hinein; sie klammerte sich an die Tür und widerstrebte, ohne zu wissen, warum. Man mußte sie mit Gewalt fortziehen, um die Bahre durchzulassen.
In dem eben noch so ruhigen Eßzimmer, wo nur die alte Uhr an das gleichmäßige Ticktack des alltäglichen Lebens erinnerte, war Abel, der nichts wußte, auf seinem Stuhle eingeschlafen. In demselben Augenblicke, da Gabriele und Frau Loisy hinausgestürzt waren, war er erschrocken aufgefahren und rief, während die beiden Leichen im Lampenlicht auftauchten:
Vater! Vater ist tot!
Dann stürzte er mit einem Satz auf ihn zu und umschlang ihn, wahnsinnig vor Ueberraschung und Schmerz, mit seinen beiden Armen.
Herr Bertemont erteilte einige schnelle Befehle.
Herr Loisy wurde auf eine Matratze gelegt. Der Abbe schob Abel beiseite, kniete neben dem Maler nieder und hielt sein Ohr an sein Herz.
Ich habe gute Hoffnung, sagte er, seine kräftige Konstitution wird ihn retten.
Frau Loisy, die in der heftigsten Aufregung an der Tür stehen geblieben war, hörte diese Worte und rief:
Er lebt! Einer lebt!
Herr Loisy ist gerettet, sagte Herr Bertemont.
Sie sah ihn bestürzt an, als verstände sie zuerst gar nicht. Sie hatte zwei Tote gesehen, dessen war sie ganz sicher.
Der Notar erklärte ihr die Katastrophe ganz leise mit gleichmäßiger, einlullender Stimme. Sie nickte mit dem Kopf und bemühte sich, den Sinn der Worte zu fassen.
Plötzlich kamen ihr die Worte des Abbe wieder in den Sinn:
Es bleibt Ihnen noch ein Sohn!
In einer Aufwallung wilder Mutterliebe warf sie sich auf Abel, umschlang ihn, drückte ihn an sich, küßte ihn auf die Lippen und rief:
Dann fügte sie das in seiner Naivität so schreckliche Wort hinzu:
Wie ich dich liebe!
Indessen bemühte man sich um Loisy. Man hatte ihn ausgekleidet und in sein Zimmer gebracht. Jetzt hieß es, sich mit dem armen Georges beschäftigen. Gabriele, die leichenblaß war, half ihrem Vater. Frau Loisy, die wieder zu sich gekommen war, weinte jetzt, tat aber ihre Pflicht als Mutter.
Sie fragte, wie der Unfall sich zugetragen, neigte sich über ihren Sohn, küßte ihm die Augenlider und sprach mit ihm in jenen zärtlichen Worten, die die toten Kinder erwecken würden, wenn der Tote je wieder erwachen könnte.
Im Hause gab sich eine geräuschvolle Bewegung kund. Als die erste Bestürzung vorüber war, sprachen alle diese Männer mit lauter Stimme.
Die Schuld traf niemand, selbst der arme Herr Georges war nicht zu tadeln. Man hatte das Eis am Morgen gesehen, es war sogar jemand an der Mühle des Müllers Bernhard hinübergegangen. Wie konnte man vermuten, daß es bei der Brücke so schwach war? Nur merkwürdig, daß er das Ufer nicht mehr hatte erreichen können. Alles in allem war die Entfernung von der Stelle, wo der Eisbruch stattgefunden, doch nur ein Meter, Er brauchte nur den Arm auszustrecken, um die Böschung zu berühren. Doch die Kälte hatte ihn jedenfalls gepackt … und …
Sehen Sie doch, flüsterte Herr Bertemont dem Pfarrer ins Ohr, er hat Blut in den Haaren!
Der Abbe neigte sich über die Leiche; er war genötigt, die Hände der Mutter beiseite zu schieben, um den Schädel zu betasten. Ja, es war dort Blut. Nur einige Tropfen. Die Kopfhaut war leicht geritzt, gerade oben am Schädel.
Gabriele war näher getreten.
Vielleicht ein Schlag! sagte sie ganz leise.
Ich weiß nicht, versetzte der Abbe in demselben Tone. Abel, sieh doch einmal!
Der junge Mann trat in demselben Augenblick ein, er hatte seinen Vater in sein Zimmer begleitet und dort geholfen, alles in Ordnung zu bringen. Mama, sagte er zu Frau Loisy, Papa kommt wieder zu sich!
Ah, ich komme! sagte die unglückliche Frau. Er lebt, er lebt! Ich hatte solche Angst, mein Georges …
Sie umarmte ihren Sohn noch einmal und lief aus dem Zimmer. Der Abbe rief den jungen Mann zum zweitenmal.
Gabriele hatte sich hinter den Toten gestellt, dessen Kopf sie mit beiden Händen hielt. Herr Bertemont hatte eine Kerze ergriffen und beleuchtete das Haar.
Sieh einmal, sagte der Pfarrer zu Abel, sieht das nicht wie ein Stockschlag aus?
Abel neigte sich über die Leiche und betrachtete sie aufmerksam.
Mein armer Bruder ist unterm Eis ertrunken, wie sie mir gesagt haben!
Ja!
Nun, ich glaube, Georges, der ein sehr guter Schwimmer war, muß wohl mehrmals versucht haben, wieder an die Oberfläche zu kommen; da er dabei auf das Eis stieß, so hat er es wohl mit dem Kopf zerschlagen wollen.
Er hatte das in einem Zuge gesagt, wie eine einfache, sinnreiche Erklärung, die ihm ganz natürlich in den Sinn gekommen war.
Du mußt wohl recht haben, sagte der Abbe. Der Arzt wird ihn übrigens morgen früh untersuchen. Ein Verbrechen ist ja außerdem ausgeschlossen. Georges war so gut, jeder liebte ihn …
Betrachten Sie auch seine Kleidung, fuhr Herr Bertemont fort.
Georges war viel zu kräftig und zu mutig, um nicht gegen einen Angreifer zu kämpfen, wer er auch sein mochte, und seine Toilette hätte sicherlich eine gewisse Unordnung aufzuweisen.
Wenn er nicht verräterischerweise überfallen ist, setzte Gabriele hinzu.
Die Tochter des Herrn Bertemont war etwas über Mittelgröße, schlank, aber wohlgebaut. Ihre sehr dunklen Haare waren nach alter Mode frisiert, in etwas bauschigen Flechten, was dem Blicke eine gewisse Sanftmut verleiht. Die Nase war fein und gerade. Der Mund mit den ziemlich dicken Lippen verriet warmes Blut und kräftige Gesundheit. Die Gesamterscheinung war, nach dem Ausdruck der Augen zu schließen, gleichzeitig anmutig und sanft, nach dem runden und festen Kinn mutvoll und energisch. Das letztere hatte sie von ihrem Vater.
Auf ihre Bemerkung hatte niemand geantwortet. Ein verräterischer Ueberfall, das war offenbar eine ganz unbegründete Vermutung.
Es schlug vier Uhr.
Mein Freund, sagte der Abbe zu Herrn Bertemont, wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so ziehen Sie sich mit ihrer lieben Tochter zurück. Ich werde hier bis zum Morgen wachen.
Sie bleiben?
Ja! Thomas, der unermüdlich ist, ist den Arzt holen gegangen, und dieser wird um acht Uhr eintreffen. Ich werde Sie sofort benachrichtigen lassen. Du, mein armer Abel, fügte er, sich zu dem jungen Manne wendend, hinzu, dessen magere Gestalt in dem blassen Lampenlicht noch dünner erschien, du mußt dich ausruhen. Deine Mutter ist bei deinem Vater, du mußt morgen stark sein, denn es gilt noch viel Kummer und Anstrengungen zu erdulden …
Ich werde Mama fragen, versetzte Abel. Ich möchte sie nicht allein lassen.
Aber wenn ich dableibe!
Wer wird denn bei Georges wachen? rief Gabriele.
Ich, ich, versetzte der Abbe sanft. Beunruhigen Sie sich nicht, mein Kind.
Sie schien zu zögern. Doch Herr Bertemont fügte sich den Gründen des Abbe und zog von neuem seinen Mantel an.
Komm, Gabriele, sagte er.
Sie gab ihm ein Zeichen, als bitte sie noch um eine Minute Aufschub, neigte sich dann über Georges Leichnam, ergriff seine Hand und streifte sie mit ihren Lippen.
Abel hatte sich nach dem Zimmer seines Vaters gewendet, wobei er ganz vergaß, so groß war seine Aufregung, Herrn Bertemont und seiner Tochter Adieu zu sagen. Diese verließen das Haus, und versprachen, frühzeitig zurückzukommen.
Armer Junge! Arme Leute! sagte Herr Bertemont, indem er den Arm seiner Tochter unter den seinen schob.
Gabriele antwortete nicht; durch die Maschen des Schleiers, in den sie ihr Haupt gehüllt, blickten ihre Augen starr in die schwarze Nacht hinaus.
Uebrigens, fuhr Herr Bertemont fort, wie kamst du denn zu Frau Loisy?
Sie hatten mir nichts sagen lassen, lieber Vater. Da ich Sie nicht nach Hause kommen sah, so wurde ich unruhig und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Da erfuhr ich denn, wohin Sie gegangen waren, und habe auf Sie gewartet.
Sie hatten ihr Haus erreicht, das etwa zwanzig Meter entfernt war.
Herr Bertemont trat, nachdem er seine Tochter umarmt, in sein Zimmer und warf sich, von Anstrengung und Aufregung erschöpft, vollständig angekleidet auf sein Bett.
Gabriele, die an ihrem Fenster saß, blickte wieder in die Nacht hinaus und weinte.