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Es war Tauwetter eingetreten, die Luft war ruhig und milde.
Die vier Männer gingen an den Ufern der Oise entlang, um das Dorf herum und lenkten ihre Schritte nach dem Gehölz von Champselles, dessen Lichtung kaum hundert Meter hinter der Kirche lag.
Als sie aus den Platz traten, rief Loisy mit voller Stimme:
Georges, Georges!
Er hoffte, der junge Mann wäre schon in die Nähe des Dorfes gekommen. Nichts antwortete ihm. Dieser Ruf, dem ein tiefes Schweigen folgte, klang düster, und allen schnürten sich die Herzen in der Brust zusammen.
Nach welcher Seite gehen wir? fragte der Abbe Lambquin.
Ueber die Stoppelwiese, sagte Thomas, der voran ging.
Nein, nein, rief Loisy. Es ist nicht anzunehmen, daß er von dort zurückkommt.
Thomas trat näher. Warum nicht, Herr?
Weil er auf diesem Wege heute morgen fortgegangen ist. Er muß notwendigerweise durch Ville-Girard und wird das Dorf durch die Arvette-Brücke erreichen.
Thomas nahm seinen Stock unter den Arm, kratzte sich das Ohr, blieb stehen und antwortete nicht.
Sprechen Sie doch, Thomas.
Was der Herr da eben sagt, bringt mich in Verlegenheit.
Wieso? Erklären Sie sich!
Der Herr sagt, Herr Georges wäre über die Stoppelwiese gegangen …
Nun und – – –
Ich glaube im Gegenteil, er ist durch das kleine Gehölz gegangen und hat von der Arvette-Brücke den Fußpfad benutzt.
Das ist unmöglich, unterbrach Loisy. Abel hat mir selbst gesagt, er habe seinen Bruder bis zur Stoppelwiese begleitet.
O, in diesem Falle täusche ich mich, sagte Thomas mit entschlossener Bewegung. Aber sehen Sie, ich bin den beiden jungen Herren heute morgen begegnet, als sie zusammen fortgingen und ich hätte schwören mögen, sie wanderten nach der Arvette. Nun, vielleicht haben sie den Hohlweg benutzt …
Das ist ganz sicher, fuhr Loisy fort. Ich kehre also zu meiner Behauptung zurück. Georges ist von der Stoppelwiese ausgegangen, wird, wie immer, einen Bogen gemacht haben, und am andern Ende, das heißt im Gehölz der Arvette, werden wir ihm begegnen.
Für Leute, die die Gegend kannten, war die Behauptung unangreifbar. Man machte sich also auf den Weg und ging an dem Waschhause und den letzten Häusern des Dorfes vorüber. Der Regen ließ nach; jetzt sprühte es nur noch ein wenig, doch das Wasser, das eine halbe Stunde herabgefallen war, hatte den Schnee in Schmutz verwandelt; die Füße stolperten, strauchelten, das Schuhzeug klebte in den Lachen fest; man glitt aus und kam nur langsam vorwärts. Loisy, den ein heftiges Fieber ergriffen hatte, zitterte vor Ungeduld. Die Männer wechselten kein einziges Wort mehr, sie erkannten die Nutzlosigkeit dieser alltäglichen Phrasen, die die Unruhe nicht einmal zu mildern vermögen.
Thomas, der einige Meter voranging, brummte vor sich hin. Er war überzeugt, daß man sich auf falschem Wege befand. Er hatte an diesem Morgen ganz richtig gesehen. Die beiden Brüder waren den Weg gewandert, den sie jetzt verfolgten, und nie, nie kehrte ein Jäger auf demselben Wege zurück, den er am Morgen eingeschlagen. Doch man bestand darauf, und er mußte sich fügen.
Die Augen, die sich bereits an die Nacht gewöhnten, unterschieden schon am Horizont den langen und niedrigen Schatten des Gehölzes von Champselles. Der durch schlammige Erde dorthin führende Fußpfad war auf beiden Seiten mit verkrüppelten Weiden bewachsen, die seltsamen, phantastischen Tieren mit verunstalteten Körpern und formlosen Köpfen ähnlich sahen.
Thomas Laterne beleuchtete die Wasserlachen und warf glänzende Punkte auf den Erdboden. Zuweilen war man genötigt, stehen zu bleiben, so sehr hinderte der festklebende Schmutz am Weiterschreiten. Loisy hinkte stärker als gewöhnlich. Der scharfe, durchdringende Regen peinigte ihn gleichsam wie mit Nadeln, und seine Aufregung und Angst wurde immer heftiger. Der Pfarrer war ihm vorangegangen und schritt neben Thomas dahin, der noch immer vor sich hinbrummte. Der alte Diener wußte, daß er gegen seinen Herrn recht hatte, wagte das aber nicht, laut auszusprechen.
Man erreichte das Gehölz.
So merkwürdig die Sache erscheinen mag, sagte Herr Bertemont, ich glaube wahrhaftig, Georges hat Furcht vor dem Regen bekommen und sich in Ville-Girard aufgehalten.
Nun gut, versetzte Loisy, gehen wir bis dorthin. Er sprach diese Worte gewissermaßen zornig, als hätte er seinen Begleiter im Verdacht, er wolle umkehren.
Unter der Wölbung der kahlen Zweige, wo die Dunkelheit noch stärker wurde, war der Schnee noch nicht geschmolzen. Er knisterte sogar unter den Füßen. Das war gleichsam eine Erleichterung für die Wanderer, die mit größerer Sicherheit ausschreiten konnten.
Das ist seltsam, sagte der Abbe Lambquin zu Thomas, wir müssen doch eigentlich schon den »Kleinen Sprung« hören.
So nannte man einen Fall der Arvette, von dem das Wasser in ungefähr einem Meter Tiefe mit ziemlich starkem Rauschen herniederfällt.
Nicht zu verwundern, versetzte Thomas, er wird eingefroren sein.
Hat es denn so stark gefroren?
O, wir haben Nächte bis zu zehn Grad gehabt … Außerdem ist die Arvette nicht breit.
Ich bin vor drei Tagen an ihr vorbeigekommen, sie stand sehr hoch, und ihre Wellen gingen äußerst stark.
Möglich, versetzte Thomas, der wohl fand, man widerspreche ihm zu viel. Aber sehen Sie nur …
Sie waren am Rande des kleinen Flusses angelangt, der sich um das Dorf herumzog und sich unterhalb Longpre in die Oise stürzte.
Hier machte die Landstraße eine Biegung und folgte den Ufern der Arvette, die man etwa hundert Schritt weit vermittels einer ländlichen Brücke passierte. Die Arvette war zugefroren. Ein Schneebett bedeckte ihre Oberflächen, unter der man nicht einmal mehr das Zittern des fließenden Wassers bemerkte. Diese weiße Decke schimmerte, und man sah die geringsten Kleinigkeiten der Oberfläche wie am hellen Tage.
Sie steht sehr hoch, bemerkte der Abbe.
Drei Tage Regen, und sie wird übertreten, erklärte Thomas.
Als sie die Biegung der Landstraße erreicht, bemerkten sie, daß Loisy und der frühere Notar sie nicht mehr sehen konnten. Sie warteten deshalb einige Minuten. Gerade in diesem Augenblick rief Herr Bertemont den Pfarrer.
Ich bitte Sie, Herr Abbe, helfen Sie mir, Herrn Loisy zu beruhigen. Er bildet sich allerlei ein, gibt sich düsteren Gedanken hin … Ich bin überzeugt, Georges hat in Ville-Girard übernachtet … Sie werden davon ebenso überzeugt sein, wie ich.
Gewiß, gewiß, versetzte der Abbe in bestimmtem Tone, als sei ihm die Sache absolut nicht mehr zweifelhaft.
Herr Bertemont hatte sich dem Abbe genähert und ihm in eigentümlicher Weise den Arm gedrückt. Er war ängstlich geworden, und nicht ohne Grund. Seit einiger Zeit hatte Herr Loisy, der bis dahin geschwiegen hatte, schnell zu sprechen angefangen. Die Worte waren zuerst fast zusammenhanglos gewesen, die Silben kamen nur ruckweise aus dem Munde, dann aber sprach er unter heftiger Willensanstrengung klarer und deutlicher.
Was wollen Sie, rief er mit einer Stimme, in der schlecht verhaltene Tränen zitterten, es geht eben über meine Kräfte. Ich weiß nicht, ist es diese finstere Nacht, dieser düstere Wald, aber ich habe Furcht … Ja, ich gestehe es, ich habe Furcht …
Dabei schlotterte er, doch nicht vor Kälte. Seine Zähne klapperten laut.
Die Gruppe ging schneller. Die drei in schwere Mäntel gehüllten Gestalten, bildeten einen düsteren Fleck auf dem weißlichen Hintergrunde der Arvette. Vielleicht war Loisys Erregung nur eine Ueberreizung des künstlerischen Sinnes, angesichts der düsteren Seltsamkeit dieses Bildes, in welchem auch er eine Rolle spielte.
Was sollte man ihm antworten? Auch seine Freunde empfanden dasselbe unklare Gefühl, das zwischen Furcht und Abspannung die Mitte hält. Bis Ville-Girard gehen! Fast zwei Meilen! Das war ja Wahnsinn! Und doch, wie sollte man diesen Vater zur Umkehr veranlassen? Ihn allein zu lassen, daran dachten sie nicht einmal.
Plötzlich ließ sich in der tiefen Stille der Nacht ein heftiger, grober, wütender Fluch vernehmen.
Thomas, der etwa zwanzig Meter voranging, hatte ihn ausgestoßen.
Was gibt's? rief Herr Bertemont.
Die Brücke, die Brücke, die verdammte Brücke ist gesprengt!
Man ging schnell näher. Thomas hatte die Wahrheit gesprochen. Bei den starken Regengüssen war der kleine Fluß vor dem strengen Frost angeschwollen und hatte bei seinem Laufe einen der starken Eichenpfähle ausgerissen, auf welchen die kleine, wurmstichige Brücke sich stützte, so daß diese in das Wasser gestürzt war. Der abgebrochene Boden glich den Rippen eines Skeletts, welches sich in dem Eis festgeklammert hatte, das sich hier staute.
Hier ist Herr Georges sicher nicht vorbeigekommen, sagte Thomas, dem man einen gewissen Triumph anmerkte.
Wenn die Brücke nicht unter seinen Füßen zusammengebrochen ist, versetzte Loisy lebhaft.
O nein, entgegnete Thomas, wenn der Fluß so kürzlich übergetreten wäre, hätte das Eis keine Zeit gehabt, sich so an den Pfählen zu sammeln.
Er stocherte mit seinem Stab in den Schneekrystallen herum, die zwischen den Trümmern hingen. Sie blieben fest, was die Richtigkeit seiner Behauptung bewies, da der Tau erst vor wenigen Stunden eingetreten war.
Wir brauchen uns nicht weiter zu beunruhigen, bemerkte Herr Bertemont mit ungeheuchelter Offenheit, denn dieser Vorfall erklärt uns in der einfachsten, deutlichsten Weise das Ausbleiben Georges. Da Georges über Ville-Girard zurückkehrte und nicht wußte, daß der Regen die Brücke fortgerissen hatte, so ist er gerade in dem Augenblick aufgehalten worden, als er hier anlangte.
Wenn er nicht, unterbrach ihn Thomas, der an seiner Idee festhielt, wenn er nicht über die Wiese zurückgekehrt ist und uns zu Hause erwartet …
Loisy zuckte die Achseln; gewiß, alle diese Behauptungen klangen richtig, und er hätte sich eigentlich als überzeugt erklären müssen. Trotzdem hielt es ihn mit unbewußter Macht hier zurück.
Aber, mein Freund, sagte der Pfarrer, sich ihm nähernd, ich erkenne Sie ja gar nicht wieder. Sie, der Sie gewöhnlich so entschlossen sind, scheinen nicht zu wissen, was Sie tun sollen. Es ist für uns unmöglich, weiter zu gehen und über die Arvette zu kommen. Die nächste Brücke ist über zwei Meilen von hier entfernt. Herr Bertemont hat recht, Georges muß längst …
Er wurde plötzlich unterbrochen.
Schon seit einer Stunde hatte es aufgehört, zu regnen, die Wolken liefen schneller am Himmel, und von Zeit zu Zeit brachen die Strahlen des Mondes hell und klar durch den Nebel.
In diesem Augenblick warf das bleiche Licht seinen scharfen, klaren Schimmer auf die Arvette. Loisy hatte seinen Arm aus dem Bertemonts gezogen und lief voran; einige Meter weiter hatte er den Arm nach der Mitte des Stromes ausgestreckt und rief:
Da, da sehen Sie nur!
Ein schwarzer Fleck, dessen Form man nicht unterscheiden konnte, hob sich von der blendenden Weiße des gefrorenen Schnees ab.
Die Arvette ist an dieser Stelle nur drei Meter breit.
Thomas war zu seinem Herrn gestürzt, hatte sich auf den Boden geworfen und sondierte mit seinem Stock jenes unbekannte Etwas, das die Unruhe des unglücklichen Vaters erregt hatte. Loisy hatte die Hand auf den Boden gestützt und verfolgte mit vorgestrecktem Hals erregt die Untersuchungen Thomas.
Der Mond trat hinter die Wolken, der Strahl erlosch. Thomas versuchte von neuem; der Gegenstand, den er mit seinem Stock berührte, widerstand ihm nicht; es war etwas Weiches, das sich unter der Holzspitze hin und her bewegte.
Ich müßte einen Haken haben, sagte er.
In jedem Falle ist die Sache nicht ernst, fügte er, sich selbst beschwichtigend, hinzu, ein Leichnam ist es nicht! Ach was! Ich versuche es, das Eis wird mich schon tragen.
Er warf seinen Stock neben sich und streckte sich, bevor man noch daran dachte, ihn aufzuhalten, auf der Erde aus, während er auf den geheimnisvollen Gegenstand zukroch.
Hm, das bricht wohl, murmelte er. Na, versuchen wir's immerhin!
Er kroch trotzdem weiter und rief nach einer Weile:
Ich habe ihn!
Was ist's denn?
Er antwortete nicht, sondern blieb unbeweglich, als wenn er etwas aufmerksam betrachtete.
Nun! rief Loisy.
Ich komme schon, versetzte der Diener mit ganz veränderter Stimme.
Bertemont und der Abbe hatten sich unbewußt bei der Hand ergriffen. Der seltsame Ton, in dem Thomas gesprochen, war ihnen aufgefallen. Auch sie ahnten jetzt ein Unglück.
Thomas erreichte das Ufer, warf sich auf die Knie, richtete sich dann auf und stieg über die Böschung. Er hielt etwas Schwarzes in der Hand.
Ohne abzuwarten, war Loisy auf ihn zugestürzt, hatte den Gegenstand ergriffen und rief dann mit einem entsetzlichen Schrei, der die Kehle förmlich zerriß:
Sein Hut, sage ich euch, schluchzte er …
Damit sank er zerschlagen, aber nicht ohnmächtig auf den Erdboden.
Sein Hut, sage ich euch, schluchzte er. O, ich erkenne ihn ganz genau … Mein Sohn, mein Georges, da unten liegt er … ertrunken, ertrunken …
Seine Worte klangen entsetzlich, er weinte wie ein Kind, das man bestraft, und konnte nicht mehr zu Atem kommen.
Thomas sagte zu Herrn Bertemont leise und schnell:
Es ist in der Mitte ein Loch. Das Eis ist geborsten. Er wollte hinüber und ist hineingefallen. Er muß irgendwo dort unten stecken.
Loisy hatte sich aufgerichtet und war wie in einem Wahnsinnsanfall auf das Eis gesprungen. Doch Thomas kräftige Hände packten ihn bei seinen Kleidern, bevor er noch einen zweiten Schritt machen konnte, und zogen ihn zurück.
Durch die Erschütterung stolperte Loisy und fiel, wie vom Blitz getroffen, auf die Böschung nieder.
Hören Sie, Thomas, sagte Herr Bertemont, wir müssen einen Entschluß fassen. Laufen Sie nach Longpre, der Feldhüter wohnt ganz in der Nähe der Kirche. Wecken Sie ihn, und kommen Sie mit Leuten, Fackeln, Hacken zurück.
Jawohl.
Thomas nahm die Beine in die Hand und begann zu laufen. Das Geräusch seiner Schritte verlor sich im Walde.
Loisy war wie tot niedergesunken und man hätte ihn für eine Leiche halten können, hätte nicht der starke, fast röchelnde Atem bewiesen, daß seine Leiden noch nicht zu Ende waren.
Herr Bertemont nahm ihn, von dem Abbe unterstützt, in die Arme, und beide richteten ihn auf, führten ihn oder trugen ihn richtiger gesagt, bis zur andern Seite der Böschung. Der Abbe nahm seinen Mantel ab, legte ihn wie eine Art Sitz zusammen, man setzte Loisy darauf nieder und lehnte ihn an einen Baum. Er hatte die Augen halb geschlossen, der Mund war verzerrt und seiner Kehle entrangen sich röchelnde Töne.
Der Unglückliche ist von einem neuen Anfall getroffen worden, sagte Herr Bertemont ganz leise zu dem Priester.
Sie glauben? Dann müßte man ihm zur Ader lassen.
Ja, auf diese Weise könnte man ihn retten, aber wer? Der Arzt wohnt in Ville-Girard.
Wir Landpfarrer müssen so ziemlich alles verstehen, sagte der Abbe in sanftem Tone. Ich habe immer ein Besteck bei mir.
Nun, versuchen Sie es, obwohl seine Leiden nur noch furchtbarer werden, wenn wir ihn retten.
Das Leben ist etwas Heiliges, versetzte der Abbe ruhig und einfach.
Der Mond trat von neuem aus den Wolken, das Licht genügte zu der Operation.
Es war keine Kleinigkeit, diesen schwerfälligen Körper, in welchem jede Lebenskraft erstorben zu sein schien, von der Stelle zu bewegen.
Doch die beiden Männer waren kräftig, und hatten außerdem den festen Willen, ihre Absicht auszuführen. Der Pelzmantel fiel leicht herunter, dann wurde der Aermel des Paletots und das Hemd mit einem Messer aufgeschlitzt. Der Arm lag bloß, die weiße Haut wurde sichtbar, der Abbe war sehr blaß geworden; er fühlte die ganze Verantwortlichkeit seines Handelns. Nicht, daß er zögerte, doch sein Mut war der größte Beweis seiner Hingebung und seiner Selbstverleugnung. Er hatte den Aermel hochgekrempt, um die Hand freier bewegen zu können. Unter die Soutane fassend, hatte er aus seiner inneren Tasche ein kleines Lederetui hervorgezogen, in welchem zwischen elastischen Schnüren eine Lanzette, eine Zange, dünne Flaschen mit Salzen und Salmiak, eine ganze Taschenapotheke, sowie dicht zusammengerollte Bandagen sich befanden.
Herr Bertemont war ein wertvoller Helfer. Sehr kaltblütig und ruhig, gehorchte er mit mathematischer Genauigkeit den Befehlen, die der erregtere Pfarrer ihm mit atemloser Stimme erteilte. Der Arm wurde nach allen Regeln der Kunst zusammengedrückt, so daß die Adern des Vorderarms hervortraten. Der Abbe murmelte einige Worte, die wohl ein Gebet bedeuten konnten. Dann verrichtete die Lanzette ihr Werk. Ein dicker, brauner Blutstropfen erschien an der Oberfläche der Wunde. Die beiden Männer wechselten einen traurigen, fast ängstlichen Blick. Doch eine Minute später floß ein Strahl von schwärzlichem Rot heraus, der sich nach und nach zum hellsten Rot abklärte. Der aufmerksame Abbe berechnete die herausfließende Quantität und sagte: »Genug!« Dann hob er den Arm gewandt in die Höhe; jetzt war er – für den Augenblick wenigstens – beruhigt. Ein Wattepfropfen stillte die Blutung der kleinen Wunde, die unter einem Verbande verschwand. Es verflossen einige angstvolle Minuten, dann hob ein langer Seufzer die Brust des Kranken, und er atmete langsam aus.
Er ist gerettet, sagte Herr Bertemont, wenigstens für den Augenblick. Sie sind geschickt, Herr Pfarrer!
Gott, was habe ich für Furcht ausgestanden! versetzte naiv der brave Abbe, der jetzt einer Ohnmacht nahe schien, und blasser aussah, als sein Patient.
Doch wieder kämpfte der Gedanke der Pflicht siegreich gegen die körperliche Schwäche. Loisys Arm wurde unter den Mantel gesteckt und Herr Bertemont murmelte:
Arme Frau Loisy!
Der Maler selbst hatte keine Bewegung gemacht.
Es war eine geraume Zeit verflossen. Die beiden Männer standen dicht nebeneinander und betrachteten das glitzernde Eis, das ein so schmerzliches Geheimnis barg; sie wagten nicht mehr, miteinander zu sprechen. So vergingen dreiviertel Stunden. Es war fast 1 Uhr morgens.
Obwohl beide genau die Entfernung kannten, die sie von Longpre trennte, so kam ihnen die Zeit doch endlos vor, die Thomas bis zu seiner Rückkehr brauchte. Und doch brauchte man, und wenn man noch so schnell ging, wenigstens eine halbe Stunde hin und ebenso viel zurück. Und wie lange dauerte es, bis man die Leute weckte, ihnen die nötigen Erklärungen gab und sie zum Mitgehen veranlaßte.
Wie der Abbe hatte auch Herr Bertemont seinen Paletot ausgezogen, um Loisy zuzudecken. Allen beiden war die feuchte Kälte der Taunacht bis auf die Knochen gedrungen. Sie schlotterten vor Kälte, beklagten sich aber nicht.
Da sind sie endlich! rief der ehemalige Notar.
Tatsächlich bemerkte man durch die Bäume die Flammen der Pechfackeln, die sich hin und her bewegten und wie glänzende Haarbüschel aussahen.
Da schlug die Stimme des Dieners Thomas an ihr Ohr. Die Gruppe, die im Laufschritt näher kam, bog um die Ecke.
Es waren zahlreiche Personen, fast ein Dutzend. Außer Gaspard, dem Feldhüter, hatte Thomas den Fährmann Blaisot mitgebracht, der sich mit seinem Bootshaken versehen hatte. Andere trugen Hacken, um das Eis zu zerbrechen.
Die Bahre folgt uns, sagte Thomas, atemlos die Worte herausstoßend. Und Herr Loisy? fuhr er fort.
Er sah an der Erde den Blutfleck und bekam Angst.
Er war dem Tode nahe, sagte der Pfarrer, ich mußte ihm zur Ader lassen.
Thomas ließ sich nicht vom Mitleid niederdrücken, es war ein Verhängnis; damit mußte man sich abfinden. Jetzt hieß es arbeiten. Er zeigte den Leuten die Stelle, wo er den Hut aufgefischt, und man untersuchte das Eis mit Rudern und Stöcken.
Es ist fast am Ufer geborsten, sagte Blaisot. Sicherlich hatte der arme Herr fast schon die Böschung erreicht, als er hineinstürzte.
Er konnte wohl nicht schwimmen, fragte eine Stimme.
Schwimmen! Wenn die Strömung einen unter das Eis treibt … da möchte ich dich einmal sehen, du Schlaukopf!
Sie gingen weiter und entfernten sich von der Brücke. Sie hatten die Absicht, das Eis so weit entfernt wie möglich zu zerschlagen, um die Bootshaken hineinlassen zu können. Die Arvette hatte infolge der Regengüsse ihre zwei Meter, wohl auch ihre zwei und einhalb Meter Tiefe. Solche kleinen Flüsse sind manchmal tückisch und verräterisch.
Die Hacken und Aexte wurden in Bewegung gesetzt, an gewissen Stellen widerstand das dicke Eis, an anderen gab es nach wie eine Eierschale. Die Werkzeuge arbeiteten tüchtig und man kam schnell mit der Arbeit zustande.
Plötzlich ertönte ein schnell unterdrückter Schrei, dann trat eine tiefe Stille ein.
Blaisot hatte seinen Haken ausgeworfen, hatte den Grund des Flusses sondiert, und war plötzlich auf Widerstand gestoßen. Er hatte den anderen ein Zeichen gegeben, und man zog sacht und langsam, mit dem naiven Respekt vor dem Toten, den man am Haken vermutete.
Eine schwarze Masse tauchte auf, zehn Arme klammerten sich daran an.
Die beiden Freunde des Malers waren niedergekniet und betrachteten das blasse Gesicht des Ertrunkenen, der jetzt in dem fahlen Mondschein auftauchte.
Einige Augenblicke später lagen zwei Körper nebeneinander auf der Bahre, der eine lebend, der andere tot, alle beide fühllos und unbeweglich.
Der Zug schlug den Weg nach Longpre ein, während Thomas dem Notar Bertemont zuflüsterte:
Die Sache ist aber doch merkwürdig … ich hätte darauf schwören mögen, daß er heute morgen von hier aus aufgebrochen ist.