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IV.

Frau Loisy hatte Abel nicht gestattet, den Rest der Nacht bei seinem Vater zu verbringen. Der Kranke schien jetzt zu schlafen; der röchelnde Atem hatte aufgehört, um langen und regelmäßigen, nur etwas starken Seufzern Platz zu machen. Schon einmal, bei seinem ersten Anfall, hatte sie ihn in diesem Zustande gesehen. Er war allerdings geschwächt, doch noch gesund und ziemlich kräftig daraus hervorgegangen. Auch diesmal würde das Resultat wohl dasselbe sein. Eine Gefahr war nicht zu befürchten. Doch man mußte ihm jede heftige Erregung ersparen und sein Leben noch mehr wie bisher in Watte wickeln. Aber wer hätte auch ahnen können, daß ein so fürchterlicher Schlag dieses so ruhige Haus treffen würde!

Eigentümlicherweise war Frau Loisy, selbst nachdem sie Mutter geworden, in erster Reihe Gattin geblieben. Für sie hatte das ganze Leben nur ein Ziel, einen Zweck, das Glück ihres Mannes. Allerdings liebte sie ihre Kinder mit der ganzen Kraft ihres Herzens, doch sie liebte sie hauptsächlich seinetwegen, weil er ihr Vater war.

Dieses rein instinktive Gefühl erklärte den Zusammenstoß der Gefühle, die in ihr zum Ausbruch gelangt waren, als sie sich den beiden Männern gegenüber gesehen, die sie alle beide für tot gehalten hatte. Unter diesen gräßlichen Verhältnissen war die Katastrophe für sie vollständig und unerträglich. Das war der Zusammenbruch ihres ganzen Lebens, das war ihr eigener Tod. Als sie dann bei den ersten Erklärungen erkannt hatte, daß ihr Gatte lebte, war sie gleichsam erwacht, gleichsam wieder auferstanden. Der lebende Gatte verkörpert die Familie, die Häuslichkeit, die Zukunft, und gleichzeitig hatte sie, als ihre Augen auf Abel fielen, für dieses am Leben gebliebene Kind eine tiefe, leidenschaftliche Liebe empfunden. Der Vater konnte noch glücklich werden, es blieb ihm ja noch ein Sohn! …

In dieser gräßlichen Qual war das der Hoffnungsport, der Rettungsanker, und sie hatte Abel mit fast wilder Energie in die Arme gepreßt, als wolle sie ihm danken, daß er noch am Leben war.

Die Frauen besitzen solche tiefe Selbstverleugnung und verstehen es, sich ganz in die Persönlichkeit eines anderen zu versetzen. Das ganze Leben der Frau Loisy ging in ihrem Manne auf; wenn sie selbst auf ihre eigene Gesundheit, auf ihr eigenes Leben Wert legte, so geschah das seinetwegen, weil die Abwesenheit seiner Frau durch Krankheit oder Tod eine zu große Leere um ihn her schaffen würde. So war's auch bei den Kindern; sie ordnete den tiefen Schmerz, den ihr Georges Tod verursachte, der Hoffnung unter, Abel würde ihn bei seinem Vater ersetzen. Sie wollte ihm übrigens mit allen ihren Kräften dabei behilflich sein. In dem kleinen Gedankenkreise, nach welchem alle ihre Fähigkeiten sich entwickelt hatten, eine scharfe Beobachterin, hatte sie mit unsagbarer Freude den Verzweiflungsschrei vernommen, der Abel entschlüpft war, als er an den Tod seines Vaters geglaubt; und als sie ihn dann, über Loisys Bett geneigt, gesehen, wie er auf seinen Atem lauschte und mit seinen zitternden Händen sanft das Kopfkissen zurecht schob, da hatte sie sich gesagt, ihr Mann würde so heiß geliebt, daß er wohl genesen und sich trösten könne.

Doch er war nicht stark, der arme Abel! Seine angespannten Nerven zitterten schmerzhaft. Sie erriet das an seiner heißen Stirn, an den nervösen Zuckungen seines blassen Gesichts. Nein, der durfte nicht krank werden! Armer Loisy! Er durfte nicht ohne Sohn sein!

Geh, geh, sagte sie zu Abel, ich bitte dich darum. Morgen, morgen! Sei unbesorgt, es ist keine Gefahr vorhanden. Ich werde dich frühzeitig wecken, sobald der Arzt da sein wird.

Der Abbe wachte und betete während dieser Zeit bei dem Toten, er wunderte sich nicht einmal darüber, daß man ihn so allein ließ. Mußte man nicht vor allen Dingen den Vater pflegen? Trotzdem hatte er sich verletzt gefühlt, als Abel vor dem Bett, auf dem sein Bruder lag, vorüberging, ohne stehen zu bleiben oder den Kopf zu wenden. Dann aber hatte er sich mit seiner gewöhnlichen Nachtsicht gesagt, der arme Abel wäre von dem schrecklichen Schlage so erschüttert, daß er nicht mehr wußte, was er tat.

Abel ging im Dunkeln die Treppe hinauf. Er war so verwirrt, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, ein Licht mitzunehmen. Die Stufen knarrten. Er schauderte, bekam Angst und streckte, um sein Gleichgewicht zu wahren, die Hand aus und faßte nach dem Geländer. Doch das kalte, glatte Holz ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Er schauderte zusammen und blieb unbeweglich in der finsteren Nacht auf der Treppe stehen, mit weit aufgerissenen Augen und trockenem Munde, klapperte er vor Kälte mit den Zähnen und wagte, von der Furcht wie angenagelt, weder hinaufzugehen, noch hinabzusteigen.

Es war ihm, als ginge jemand unten. Vielleicht hatte sich die Tür wieder geöffnet. Wenn jetzt ein Licht auftauchte, mußte man ihn sehen, wie er versteinert und betäubt hier stand. Was sollte er dann zu seiner Erklärung sagen? Mit heftiger Willensanstrengung erhob er die Füße, die so schwer wie Blei waren, er stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, den Rest der Treppe, den er noch zurückzulegen hatte, fand seine Tür, die erste links auf dem Gange, öffnete sie, drehte sich beim Eintritt um, schloß die Tür, auf die er mit voller Kraft drückte, und blieb lauschend stehen, wie es verfolgte Verbrecher tun.

Tiefes Schweigen. Der Schmerz gab sich unten nicht in lautem Wehklagen kund. Abel blieb so mehrere Minuten unbeweglich und drückte mit seinen Fingern, ohne zu merken, den Schlüssel, der ihm in die Handfläche drang. Endlich richtete er sich langsam, ganz langsam wieder auf und versuchte sich zu erinnern, wo die Streichhölzer standen. Ach ja, gerade der Tür gegenüber, auf dem Kamin. Er brauchte nur drei Schritte zu gehen und konnte sich doch nicht dazu entschließen. Er hatte das Gefühl der Kranken, die im Dunkeln nicht geradeaus gehen können. Er wußte, daß er schwankte, und hatte Furcht, seine schweren Beine würden ihm den Dienst versagen. Dann fürchtete er, bis auf dem Weg nach diesem Kamin auf ein Hindernis zu stoßen. Allerdings wußte er, daß es nur ein Sessel oder ein Stuhl, kurz irgend ein Möbel sein konnte, und doch hatte er vor diesem Zusammenstoß in der Dunkelheit furchtbare Angst, genau wie er eben auf der Treppe geschaudert hatte, als er mit seinen Fingern die Rampe berührte.

Mit kleinen Tritten, mit ausgestreckten Armen vorwärtsgleitend, als wolle er die Nacht vor sich herjagen und das Unsichtbare verscheuchen, gelangte er endlich ans Ziel. Um die Streichhölzer zu ergreifen, mußte er wieder etwas, nämlich die kalte Marmorplatte, anfassen. Auch das brachte ihn wieder in Verwirrung, und er senkte die Finger ganz leise, um möglicherweise nur die Schachtel zu ergreifen, in der die Zündhölzer lagen. Es gelang ihm, er ergriff das kleine Hölzchen und rieb es an seiner Hose. Das Feuer sprühte auf; eine Kerze stand ganz in der Nähe. Das Licht verjagte den Schatten, und Abel, der mit den Augen der Flamme folgte, die sich langsam aus dem dünnen Docht erhob, erblickte im Spiegel sein leichenblasses Gesicht, seinen verzerrten Mund, die eingefallenen Schultern, die schmale Brust, und wieder schüttelte ein unerträglicher Schauder seinen Körper. Doch das Licht macht mutig. Er sah sich um. Er war ganz allein. Die Vorhänge mit den schweren, sich bauschenden Falten waren geschlossen; ruhig ging er auf sie zu, ergriff sie und öffnete sie mit schnellem Ruck. Hier aber sah er sich wieder der nächtlichen Finsternis gegenüber, und dieser Anblick war ihm peinlich.

Er drehte dem Fenster den Rücken und wanderte jetzt auf sein Bett zu. Er zündete eine zweite Kerze an und sagte sich dann, eine Lampe würde doch besser leuchten, besonders wenn er den Schirm abnahm. Diesmal war das Licht voll und weiß und drang in alle Winkel des Zimmers. Das Zimmer war klein, doch es herrschte eine peinliche Sauberkeit, eine sorgsame Ordnung. Das mit vier Matratzen ausgestattete Bett war behaglich und bequem. Daneben stand ein kleiner Tisch aus gebohntem Nußbaumholz; zwischen der Tür und dem Fenster ein sorgsam abgestaubter Schreibtisch, auf dem man weder Papiere, noch Bücher, noch Schreibzeug erblickte. An den Wänden einige gute Kupferstiche nach den Gemälden Loisys, Genrebilder, in erster Reihe »Die Spinnstube auf dem Lande«, die ihm das Kreuz der Ehrenlegion eingebracht hatte. Die Sessel waren mit Kattunüberzügen, mit grauem Grunde und verblichenen Blumen bedeckt. Die ganze Ausstattung war behaglich.

Abel hatte sich auf sein Bett gesetzt und ließ die Beine hängen.

In dem scharfen Licht erschien sein von Hause aus farbloser Teint noch blasser und weißer. Die ziemlich dichten, blonden Haare bildeten einen Büschel über der zu stark gewölbten Stirn, unter der die großen, tiefeingesunkenen Augen mit den kaum sichtbaren Wimpern in hellstem Blau schimmerten. Das Gesicht verschmälerte sich bis zu dem zurücktretenden Kinn. Die Gesamterscheinung war nicht häßlich. Er war in erster Reihe leidend, machte aber auch außerdem einen etwas unheimlichen Eindruck. In seiner Jugendzeit hatte Loisy auf seinen phantastischen Bildern Gestalten dargestellt, die an seinen Sohn erinnerten.

Die Hände, die er jetzt auf den Beinen ausgestreckt hielt, waren lang, mit Knoten zwischen den Gelenken, und dünnen, schmalen Fingern. Der Nagel war platt und gestreift; das äußere Ende schien sich umbiegen zu wollen.

Er war mager und die Kleider saßen ihm schlecht. Abel besaß nicht die geringste Eleganz, obwohl seine Mutter während seiner Kindheit seinen Kopf wunderbar hübsch gefunden hatte. Die Handgelenke mit den knochigen Ansätzen steckten in stets zerknitterten Manschetten, und an seinen Knöcheln schien der schlecht sitzende Strumpf stets herabfallen zu wollen.

Obwohl es ihm an nichts fehlte, sah er doch stets ärmlich aus.

Im Hause herrschte eine Totenstille. Es war die Stunde, wo die Natur vor ihrem Erwachen noch tiefer zu schlafen scheint, die Stunde des Unbehagens und der Müdigkeit, wo eine unfaßbare Kälte auf die Schultern sich herabsenkt und den Körper bis ins innerste Mark erschaudern läßt.

Abel schlief nicht; er dachte auch nicht ans Schlafen. Mit verzerrten Zügen und stieren Augen saß er da. Wie sein Körper, waren auch seine Gedanken starr. Er hing irgend einer Idee nach, die ihn quälte, ihm das Hirn einpreßte und das Herz einschnürte. Der alle seine Fähigkeiten in Bande schlagende Gedanke hatte sich seiner dermaßen bemächtigt, daß seine Lippen sich unbewußt bewegten, und er, wie in einem Hauche, die Worte aussprach:

Ich bin's, ja, ich bin's!

Er sprach den Satz nicht aus. Diese dünne Stimme, die seinem Munde wider Willen entschlüpft war, erfüllte ihn mit Grauen und Entsetzen.

Er ließ sich auf das Kopfkissen sinken, weinte nicht sondern stopfte die Federn an seine Ohren und Wangen, um sich in dieser schlaffen, erstickenden Wärme zu vergraben.

Da aber bemächtigte sich der Gedanke, gegen den er nicht anzukämpfen vermochte, mit unwiderstehlicher Kraft seines Hirnes, er sah den Mord vor Augen.

Es war ein Mord, – darüber war er sich jetzt klar.

Georges! Sein Bruder – ja, er hatte ihn getötet! Warum? Das wußte er selbst nicht. Der Haß, den er gegen ihn hegte, war aus unendlich kleinen Stückchen zusammengewachsen, wie jene Korallenriffe, von denen Darwin erzählt, die sich aus ganz kleinen Atomen jahrhundertelang entwickelt haben.

Er haßte ihn, weil er wußte und fühlte, daß er ihm überlegen war, weil diese hohe Gestalt seinen kleinen Körper beleidigte, weil dieses offene und ehrliche Lachen sein gezwungenes Lächeln beschämte, weil seine starke Stimme seine eigene heisere rauhe Stimme zu verspotten schien, weil diese gesunde und geräuschvolle Tätigkeit seine stumme Langsamkeit reizte, weil der Vater ihn bewunderte, weil die Mutter ihn vergötterte, weil jedermann bis auf den letzten Diener anbetend vor Herrn Georges kniete, weil man ihn ihm fortwährend als Beispiel anführte, weil man ihn mit diesen beständigen Lobeserhebungen demütigte, weil …

Er haßte ihn mit dem schlimmsten, gemeinsten, niedrigsten Haß, dem Hasse des Feiglings!

Hätte er je daran denken können, ihm zu widerstehen, mit ihm zu kämpfen oder gar sich zu rächen? Unmöglich! Er war zu schwach und sich seiner körperlichen und moralischen Schwäche allzu sehr bewußt; er wußte nur zu genau, daß er ein langsames Verständnis und einen schwachen Arm hatte. Nie, selbst nicht, wenn er mit sich allein war, hatte er gewagt, sich diesen Haß zu gestehen.

Dadurch, daß er sein Gesicht zur brüderlichen Sympathie zwang, daß seine Lippen das schüchterne Lächeln der freundschaftlichen Huldigung bildeten, daß er im Grunde seines Herzens die Leiden verbarg, hatte er sich einen Zustand des Automatismus angeeignet, der die Heuchelei erleichterte, und alle über seinen wahren Seelenzustand täuschte: Er brauchte sich nicht anzustrengen, um bei Georges' Erscheinen fröhlich, bei seiner Abreise etwas betrübt auszusehen. Bis auf die schmollende Miene, mit der er die allzu heftigen Ausfälle seines Bruders entgegennahm, bis auf das offenkundige Bedauern, wenn er ihn nach einem kurzen Spaziergange aus Müdigkeit verlassen mußte, war alles berechnet und vorherbestimmt wie im Räderwerk einer Maschine. Sich rächen! Es wäre Wahnsinn gewesen, einen solchen Plan zu fassen, der von vornherein undurchführbar sein mußte.

Manchmal hatte Abel in der Nacht sich mit weit aufgerissenen Augen einen Unfall vorgestellt, etwa eine plötzliche Sintflut, die dem Hause seine beständige Ruhe wiedergeben sollte.

Ach, wenn Georges nicht mehr da wäre? Abel war so glücklich wie jene Fische, die man in der Nähe des Ufers umherschwimmen sieht, die aber wie unter einem elektrischen Schlage schleunigst entfliehen, wenn der Schatten eines Kindes sich im Wasser zeigt. War's denn seine Schuld, wenn sein Organismus mehr als jeder andere unter der geringsten Erschütterung litt? Das tat ihm weh, tatsächlich weh. Er brauchte die langsamen Tage des Landlebens, ohne Zwischenfall, ohne Ueberraschung, die schwerfällige Heiterkeit der Whistabende oder die tiefe Ruhe der schönen Sommernächte, während Loisy im Garten in seinem amerikanischen Sessel sich behaglich hin und her wiegte und seine Zigarre rauchte, die einzige Zigarre, die ihm tagsüber erlaubt war, während Frau Loisy, die auf diese schläfrige Ruhe ihren Einfluß übte, ihre Arbeit auf den Schoß sinken ließ und ein wenig einnickte. An die verschiedenartigen Töne im Hause, an das Stampfen der dicken Stiefel des Dieners Thomas, an das Scharren der alten Köchin, an das leise Lachen seines Vaters, selbst an die – übrigens sehr ruhigen – Rüffel seiner Mutter der Dienerschaft gegenüber, hatten seine Organe sich gewöhnt. Auch die Hähne haßte er nicht, die den Morgen verkündeten. Das war ein Geräusch, das er erwartete und das ihn nicht mehr überraschte.

Doch plötzlich erschien Georges, und nun schien das ganze Haus in beständigem Veitstanz zu zittern. Die Türen wurden geworfen, die Dielen dröhnten unter den Schritten, der Hund bellte stärker, der Hahn schrie schriller, der Vater ging und sprach mehr als sonst, Frau Loisy ging eifrig umher, die Räder der geängstigten Maschine knirschten und knarrten und zerquetschten die Nerven, die Muskeln, die Knochen und das Hirn Abels, dessen geschwächter Organismus Höllenqualen erduldete.

Selbst in diesem Augenblick, wo die Flut eifersüchtiger Bitterkeit ihm heftig zu Kopfe stieg, wünschte er in eigentümlicher Sinnestäuschung den Tod seines Bruders. Er vergaß, daß Georges tot war. Dann plötzlich erinnerte er sich. Mit Blitzesschnelle zeichnete sich vor seinem geistigen Auge eine Szene des Entsetzens, der Feigheit, ab, und mit geschlossenen Lidern, mit zusammengepreßtem Munde sank Abel nach hinten über, indem er murmelte: Niemand darf etwas erfahren … nie, nie!


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