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XVIII. Der Gottesstein

Don Luis' schlankes Boot schwamm dahin. Stephan, Patrice und Allesgut standen im Kreise um Don Luis.

»Was ist doch dieser Vorski für eine Kanaille«, sagte er. »Ich habe doch gewiß so manches Scheusal kennengelernt, aber niemals eines von diesem Kaliber.«

»Ja, aber warum haben Sie dann ...« warf Patrice Belval ein.

»Haben Sie dann ...?« wiederholte Don Luis.

»Ja, wie ich Ihnen bereits sagte, Sie haben das Scheusal in Händen und lassen es frei? Ganz abgesehen davon, daß ich das unmoralisch finde ... bedenken Sie doch, was er jetzt noch alles anstiften kann und notwendigerweise auch anstiften wird. Laden Sie damit nicht eine große Verantwortung auf sich?«

»Ist das auch Ihre Meinung, Stephan?« fragte Don Luis.

»Ich weiß eigentlich nicht, was meine Meinung ist,« erwiderte Stephan, »denn um Franz zu retten, war ich zu allen Zugeständnissen bereit, aber dennoch ...«

»Aber dennoch hätten Sie eine andere Lösung gewünscht?«

»Offen gestanden ja. Solange dieser Mensch lebt und frei ist, werden Frau von Hergemont und ihr Sohn alles von ihm zu befürchten haben.«

»Ja, was war denn für eine andere Lösung möglich? Für die Rettung Franzens habe ich ihm die Freiheit versprochen, hätte ich ihm nur das Leben versprechen und ihn dann der Justiz ausliefern sollen?«

»Vielleicht«, meinte der Kapitän Belval.

»Schön, aber in diesem Falle würde die Justiz eine Untersuchung eingeleitet, die Identität des Individuums festgestellt und den totgesagten Mann der Veronika von Hergemont und den Vater des Franz wieder ins Leben zurückgerufen haben. Wäre das Ihr Wunsch?«

»Nein, nein«, rief lebhaft Stephan.

»Nein, in der Tat nicht«, gestand auch ziemlich verlegen Patrice Belval ein. »Nein, das wäre keine bessere Lösung gewesen, aber was mich wundert, Don Luis, ist, daß Sie nicht die einzige uns befriedigende Lösung gefunden haben.«

»Es gab nur eine«, meinte Don Luis Perenna.

»Nämlich welche?«

»Den Tod.«

Es trat eine Stille ein.

Dann hob Don Luis wieder an. »Liebe Freunde, nicht um zu spielen, habe ich Sie hier zu diesem Gerichtshof versammelt. Ihre wichtige Rolle ist mit Erledigung der Debatte noch nicht zu Ende. Ich frage Sie offen und ehrlich: Sind Sie der Ansicht, daß Vorski den Tod verdient hat?«

»Ja«, sagte Patrice, und Stephan pflichtete bei. »Darüber kann gar kein Zweifel sein.«

»Liebe Freunde«, meinte Don Luis. »Ihre Antwort ist nicht sehr feierlich. Ich bitte Sie, diese Antwort nach bestem Wissen und Gewissen auszusprechen, wie wenn der Schuldige vor Ihnen stände. Ich wiederhole also: Welche Strafe verdiente Vorski?«

Sie hoben nacheinander die Hände und sprachen:

»Den Tod.«

Don Luis pfiff. Einer der Araber kam herbei.

»Zwei Krimstecher, Hadji.«

Als die Instrumente herbeigeschafft waren, gab Don Luis sie Stephan und Patrice:

»Wir sind erst eine Meile von Sarek entfernt. Schauen Sie nach der Spitze der Insel hin. Auch die Barke muß unterwegs sein.«

»Jawohl«, sagte Patrice bald darauf.

»Ja, aber ...«

»Aber ... es ist nur einer darauf.«

»Tatsächlich nur einer«, erklärte Patrice.

Sie legten die Ferngläser weg, und einer von ihnen sagte:

»Einer ist geflohen, Vorski offenbar. Er wird seinen Genossen Otto getötet haben.«

»Falls der Genosse Otto nicht ihn getötet hat«, meinte Don Luis.

»Warum glauben Sie das?«

»Erinnern Sie sich doch an die Prophezeiung, die Vorski gegeben wurde, als er noch jung war: Deine Frau wird am Kreuze sterben und du wirst von einem Freunde getötet werden ...«

»Ja aber, man sollte meinen, eine solche Weissagung genügte doch nicht, um ...«

»Ich habe noch andere Beweise.«

»Welche?«

»Liebe Freunde, das gehört mit zu den Rätseln, die wir gemeinschaftlich zu lösen haben werden. Wie glauben Sie zum Beispiel, habe ich Elfriede Vorski mit Frau von Hergemont vertauscht?«

Stephan schüttelte den Kopf:

»Ich gestehe, daß ich das noch nicht begriffen habe.«

»Und dennoch ist es so einfach! Wenn in einem Salon ein beliebiger Herr Kunststücke macht oder Ihre Gedanken errät, sagen Sie dann nicht, daß irgendein Trick dahinter stecken muß? Die Mithilfe eines Genossen?«

»Wie, Sie hatten einen Gehilfen?«

»Ja freilich!«

»Wen denn?«

»Otto.«

»Otto!? Aber Sie sind ja nicht einen Augenblick von unserer Seite gewichen, Sie haben ja kaum mit ihm gesprochen.«

»Wie hätte ich es ohne seine Mitwirkung machen sollen? In Wirklichkeit habe ich bei der Sache zwei Gehilfen gehabt, Elfriede und Otto, die beide, sei es aus Rache, sei es aus Furcht oder aus Habsucht, Vorski verraten haben. Während Sie, lieber Stephan, Vorski vom Feendolmen fortlockten, machte ich mich an Otto. Wir wurden bald handelseinig, indem ich ihm einige Banknoten und das Versprechen gab, daß er mit heiler Haut davonkommen würde. Außerdem teilte ich ihm noch mit, daß Vorski die fünfzig Tausendfranknoten der Schwestern Archignat gestohlen hatte.«

»Woher wußten Sie das?« fragte Stephan.

»Von meinem Helfershelfer Numero eins, von Elfriede, die ich leise ausgefragt hatte, während Sie auf Vorski lauerten. Sie teilte mir mit hastigen Worten mit, was sie von der Vergangenheit Vorskis wußte.«

»Sie haben doch aber Otto nur ein einziges Mal gesehen.«

»Zwei Stunden nach Elfriedes Tode und nach dem Feuerwerk an der hohlen Eiche fand eine zweite Zusammenkunft unter dem Feendolmen statt. Vorski, vom Alkohol berauscht, schläft, und Otto hält Wache. Sie können sich denken, daß ich die Gelegenheit benutzt habe, um meine Erkundungen über Vorski zu vervollständigen. Also Otto entladet Vorskis und Konrads Revolver, oder vielmehr er nimmt die Kugeln aus den Patronen. Darauf übergab er mir die Uhr und das Notizbuch Vorskis, sowie ein leeres Medaillon und eine Photographie von Vorskis Mutter, die Otto ihm einige Monate vorher entwendet hatte. Das alles kam mir am folgenden Tage sehr zustatten, wo ich vor besagtem Vorski in der Gruft den Hexenmeister spielte. So haben Otto und ich zusammen gearbeitet.«

»Aber Sie haben trotzdem nicht von ihm verlangt, daß er Vorski töten sollte.«

»Ganz gewiß nicht. Glauben Sie denn, daß Vorski schließlich nichts von dieser Zusammenarbeit gemerkt hat, die ja zu seiner Niederlage führen mußte? Und sind Sie nicht auch der Meinung, daß der gute Otto diese Eventualität vorausgesehen hat? Darüber können Sie ganz beruhigt sein. Wenn Vorski einmal vom Baume losgemacht wurde, hätte er seinen Komplizen beseitigt, erstens um sich an ihm zu rächen, und sodann auch, um die fünfzig Tausender der Schwestern Archignat wieder zu bekommen. Otto ist ihm eben zuvorgekommen. Er wird Vorski vielleicht jetzt nicht getötet, aber einfach am Baume hängengelassen haben, damit er seine Strafe erhalte. Sind Sie jetzt zufrieden, meine Freunde? Und ist Ihrem Bedürfnis nach Gerechtigkeit endlich Genüge geschehen?«

Die Küste von Sarek verschwand immer mehr am Horizont. Die drei Männer verharrten in Stillschweigen. Sie dachten wohl an die tote, von der Raserei eines Mannes verwüstete Insel, wo bald irgendein Besucher die unerklärlichen Spuren des Dramas, die unterirdischen Gänge, die Zellen mit den Totenkammern, den Saal mit dem Gottesstein, die Totengrüfte, den Leichnam Konrads, den Leichnam Elfriedens, die Skelette der Schwestern Archignat und schließlich nahe dem Feendolmen, wo die Prophezeiung bezüglich der dreißig Särge und der vier Kreuze eingeschrieben war, auch den von Raben und Nachtvögeln zerfleischten Körper Vorskis vorfinden würden.


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