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VIII. Todesangst

Wäre Veronika allein gewesen, so hätte sie trotz ihrer kräftigen Natur dem unerbittlichen Schicksal nicht standhalten können. Aber die Gegenwart Stephans, der durch seine Gefangenschaft erschöpft sein mußte, ließ sie ihre ganze Willenskraft aufbieten; daher sagte sie, als sei es etwas ganz Nebensächliches:

»Die Leiter hat sich verschoben ... Wir können sie nicht mehr erreichen.«

Voll Entsetzen sah Stephan sie an.

»Dann, ja dann ... sind Sie verloren.«

»Weshalb sind wir verloren?« fragte sie lächelnd.

»Weil es keine Möglichkeit einer Flucht mehr gibt.«

»Warum nicht? Vergessen Sie Franz?«

»Franz?«

»Ich rechne auf ihn. In höchstens einer Stunde ist es Franz gelungen, sich zu befreien. Wenn er die Leiter sieht und merkt, daß ich hinabgestiegen bin, wird er uns rufen. Wir werden ihn sicher hören. Wir müssen nur Geduld haben.«

»Geduld«, sagte er schaudernd ... » Eine Stunde sollen wir warten! In einer Stunde kommt ganz bestimmt jemand. Ich werde ständig bewacht.«

»Dann verhalten wir uns still.«

Er zeigte auf die Tür, in der ein Schiebefenster angebracht war.

»Jedesmal wird dieses Fenster geöffnet, und durch das Gitter kann man uns sehen.«

»Schließen wir doch den Holzladen.«

»Dann kommen sie zu uns herein.«

»Nun, dann schließen wir ihn nicht und bewahren unsere Ruhe, Stephan.«

»Ich ängstige mich nur für Sie.«

»Ängstigen Sie sich weder um mich noch um sich ... Schlimmstenfalls sind wir imstande, uns zu verteidigen«, fügte sie hinzu und zog einen Revolver, den sie im Zimmer ihres Vaters von der Wand genommen hatte und den sie immer bei sich trug.

»Ach,« sagte er, »was ich fürchte, ist, daß es gar nicht soweit kommt. Wir werden gar nicht vor diese Möglichkeit gestellt werden. Die haben andere Mittel.«

»Welche denn?«

Er antwortete nicht. Auf einen schnellen Blick hin, den er auf den Boden geworfen hatte, prüfte jetzt auch Veronika die eigentümliche Beschaffenheit dieses Bodens.

Rings an der Wand entlang war es der unebene und rauhe Felsboden selbst, aber in der Mitte war ein ungeheures Viereck eingebaut, dessen Umrisse deutlich zu erkennen waren; die Balken, aus denen es bestand, waren abgenützt, zeigten tiefe Rillen und Einschnitte, waren aber doch stark und wuchtig. Die vierte Seite streifte beinahe an den Abgrund, von dem sie höchstens durch einen Zwischenraum von zwanzig Zentimetern getrennt war.

»Es ist eine Falltür«, sagte sie zitternd.

»Nein, dafür ist sie zu schwer«, sagte er.

»Was denn?«

»Ich weiß es nicht, wahrscheinlich ist es nur ein Überbleibsel aus früherer Zeit. Ein Ding, das nicht mehr in Tätigkeit gesetzt werden kann. Dennoch ...«

»Was denn ...«

»... heute nacht hörte ich unter mir ein Krachen ... als ob man Versuche anstellte, die übrigens sofort unterbrochen wurden, denn es ist wohl lange her! ... Nein, das Ding arbeitet nicht mehr, und sie können es nicht in Tätigkeit setzen. Die ...«

»Wen meinen Sie?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, sagte sie:

»Hören Sie, Stephan, es bleiben uns nur wenige Augenblicke. Vielleicht weniger, als wir annehmen. Jeden Moment kann Franz frei sein und uns zu Hilfe kommen. Benutzen wir diese Zeit, um uns das zu sagen, was jeder von uns wissen muß. Sprechen wir uns in Ruhe aus. Augenblicklich droht uns keine Gefahr. Wir verlieren also keine Zeit.«

Veronika täuschte eine Sicherheit vor, die sie selbst nicht besaß. Daran, daß Franz sich befreien würde, konnte sie nicht zweifeln. Aber war es sicher, daß der Knabe sich dem Fenster nähern und den abgerissenen Haken sehen würde? War es nicht wahrscheinlich so, daß er, wenn er seine Mutter nicht erblickte, den Gang entlang bis zur Abtei laufen würde?

Da sie die Notwendigkeit einer Aussprache fühlte, beherrschte sie sich jedoch. Sie ließ sich auf einen Felsvorsprung nieder, und nun begann sie, Stephan in die Ereignisse einzuweihen, deren Zeugin sie gewesen war und an denen sie von dem Augenblicke an, wo sie in der verlassenen Hütte Maguennocs Leichnam entdeckt hatte, einen so hervorragenden Anteil gehabt hatte.

Stephan hörte diesen grauenhaften Bericht an, ohne sie zu unterbrechen. Nur seine zornigen Bewegungen und der verzweifelte Ausdruck seines Gesichtes zeigten sein Entsetzen.

Besonders der Tod des Herrn von Hergemont und Honorines schien ihn auf das tiefste zu erschüttern. An beiden hing er von ganzem Herzen.

»Ich bin zu Ende, Stephan«, sagte sie, nachdem sie auch ihre eigenen Ängste beim Martertod der Schwestern Archignat erzählt hatte. »All dies mußten Sie wissen, was ich Franz verheimlicht habe. -- Sie müssen es erfahren, damit wir gegen unsere Feinde etwas unternehmen können.«

»Und wer sind diese Feinde?« sagte er kopfschüttelnd. »Trotz Ihrer Erklärung stelle ich dieselben Fragen wie Sie. Ich habe das Gefühl, wir sind in ein großes Drama verwickelt, das sich seit Jahrhunderten abspielt und worin wir erst jetzt zur Stunde der Katastrophe mitspielen, einer Katastrophe, die seit Generationen vorbereitet ist. Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe zusammenhangloser und unheilvoller Ereignisse, eine Kette von seltsamen Zufälligkeiten, von denen wir hin- und hergeworfen werden, ohne daß wir eine andere Erklärung finden könnten als die Launen des Zufalls. In Wirklichkeit weiß ich nicht mehr als Sie. Auch ich taste im Dunkeln. Derselbe Schmerz, dieselbe Trauer befällt mich, alles scheint mir nur Wahnsinn, krampfartiges, plötzliches Aufzucken unbekannter Kräfte zu sein.«

»Ja, die Zeit der Barbaren scheint wieder gekommen, und das gerade regt mich am meisten auf und bringt mich außer Fassung! Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen unseren jetzigen Verfolgern und jenen Menschen, die früher diese Hölle bewohnten und deren Wirken sich in so unfaßbarer Weise bis zu uns erstreckt? Worauf beziehen sich alle jene Sagen, die ich übrigens nur durch die Fieberreden Honorines und die Andeutungen der Schwestern Archignat kenne?«

Sie sprachen leise und lauschten gespannt. Stephan horchte auf die Geräusche, die vom Gang her kamen. Veronika aber blickte auf das Meer hinaus, in der Hoffnung, ein von Franz gegebenes Zeichen zu hören.

»Es sind verworrene Überlieferungen, in denen man nicht mehr unterscheiden kann, was Aberglaube und was Wahrheit ist. Höchstens ist es möglich, in diesem Wust von wirren Geschichten zwei Richtungen zu erkennen. Die einen beziehen sich auf die Weissagung von den dreißig Särgen, die anderen sprechen von dem Vorhandensein eines Schatzes oder vielmehr eines wundertätigen Steines.«

»So betrachtet man also«, sagte Veronika, »die wenigen Worte, die ich auf Maguennocs Zeichnung und dann später wieder auf dem Feen-Dolmen entdeckte, als eine Prophezeiung?«

»Ja, eine Prophezeiung, die auf ferne Zeiten zurückgeht und die seit Jahrhunderten das ganze Leben in Sarek und die Ereignisse auf Sarek beherrscht. Von jeher hat man geglaubt, daß der Tag kommen würde, wo innerhalb eines Zeitraumes von einem Jahr die dreißig Klippen und die Insel, die man die dreißig Särge nennt, ihre Opfer fordern würden, die eines gewaltsamen Todes sterben müßten, und daß unter diesen dreißig vier gekreuzigte Frauen sein würden. Diese feststehende Überlieferung, die sich vom Vater auf den Sohn vererbt, wird von niemand angezweifelt. Sie wird in folgender Inschrift, die auf dem Feen-Dolmen zu lesen ist, ausgesprochen:

›Für dreißig Särge dreißig Opfer ...‹

und

›Vier Frauen am Kreuz ...‹

Nun ja, aber man hat doch die ganzen Jahre friedlich und in normaler Weise hier gelebt, warum ist denn in diesem Jahr plötzlich die Aufregung so allgemein?«

»Daran hat Maguennoc hauptsächlich schuld. Maguennoc war ein seltsamer Mensch, eine Art geheimnisvoller Zauberer, der Kurpfuscherei trieb und auch wohl Leute heilte. Er kannte den Lauf der Gestirne, die heilsame Wirkung der Kräuter, und man befragte ihn gern über Dinge der fernsten Vergangenheit und der Zukunft. Maguennoc verkündigte seit kurzem, daß das Jahr 1917 das Schicksalsjahr sein würde.«

»Weshalb denn?«

»Es war wohl ein geheimnisvolles Ahnen, eine Art Unterbewußtsein, Vorgefühl oder wie Sie es nennen wollen. Maguennoc selbst, der der Zauberei nicht abhold war, antwortete, wenn er gefragt wurde: ›Ich lese es aus dem Vogelflug und aus den Eingeweiden der Hühner.‹ Immerhin stützte sich seine Voraussage auf etwas Ernsthaftes. Er behauptete, was durch zuverlässige Aussagen von alten Leuten auf Sarek bestätigt wird, daß zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die letzte Zeile der Inschrift auf den Feen-Dolmen noch nicht völlig verwischt war, und daß man noch folgendes entziffern konnte:

›Auf der Insel Sarek im Jahre vierzehn und drei.‹«

»Aber das war ja alles Wahnsinn«, bemerkte Veronika.

»Wahnsinnig allerdings, aber es nahm einen wirklich beunruhigenden Charakter an, als Maguennoc die Reste der auf dem Dolmen eingegrabenen Inschrift mit der vollständigen Inschrift vergleichen konnte.«

»So fand er diese?«

»Ja, unter den Trümmern der Abtei fand er unter einem Steinhaufen, der es wie ein schützender Raum umgeben hatte, ein altes, schon verdorbenes und abgegriffenes Meßbuch, in dem noch einige Seiten lesbar waren. Eine besonders war noch gut erhalten, nämlich die, die Sie gesehen oder vielmehr deren Nachbildung Sie in der verlassenen Hütte gefunden haben.«

»Und hatte mein Vater diese Nachbildung gemacht?'

»Ja, Ihr Vater, ebenso wie er alle Zeichnungen in dem Wandschrank seines Arbeitszimmers gemacht hat. Sie erinnern sich vielleicht, daß Herr von Hergemont gern zeichnete und Aquarelle malte. Er zeichnete die ganze Buchseite ab, gab jedoch von der in Versen geschriebenen Weissagung nur die auf den Feen-Dolmen stehenden Worte wieder.«

»Und wie erklären Sie sich die Ähnlichkeit zwischen der gekreuzigten Frau und mir?«

»Das Original selbst, das Maguennoc an Ihren Vater weitergegeben hatte und das er eifersüchtig in seinem Zimmer aufbewahrte, habe ich nie in der Hand gehabt. Herr von Hergemont behauptete jedoch, diese Ähnlichkeit sei da. In jedem Fall hat er unbewußt auf seiner Zeichnung diese Ähnlichkeit verstärkt, erinnerte sich an all das, was Sie gelitten haben, und zwar durch seine Schuld, wie er sagte.«

»Vielleicht auch«, unterbrach ihn Veronika, »erinnerte er sich jener anderen Voraussage, die seinerzeit Vorski gemacht wurde. Und alles hat sich nach den Worten der Inschrift zugetragen.« Beide schwiegen. Wenn das Schicksal bis jetzt für die Särge nur siebenundzwanzig Opfer dargebracht hatte, waren die letzten drei Opfer nicht auch da, um das große Menschenopfer vollzählig zu machen? Waren sie nicht alle drei gefangen und in der Hand derer, die dieses Opfer brachten? Und wenn bis jetzt auf dem Hügel in der Nähe der großen Eiche nur drei Kreuze standen, würde nicht für ein viertes Opfer ein viertes Kreuz errichtet werden?

»Wie lange es dauert, bis Franz kommt«, sagte Veronika nach kurzem Schweigen.

Sie beugte sich über den Abgrund. Die Leiter war noch unerreichbar und in derselben Stellung.

»Jetzt werden sie bald kommen«, sagte Stephan. »Ich wundere mich sogar, daß sie nicht schon hier sind.«

Keiner von beiden wollte seine Angst merken lassen. Mit ruhiger Stimme fuhr Veronika fort:

»Und was wissen Sie von dem Schatz? Von dem Gottesstein?«

»Dies Rätsel ist nicht weniger unerklärlich,« sagte Stephan, »es ist auch in einer Zeile der Inschrift enthalten, der letzten nämlich: ›Der Gottesstein, der Tod oder Leben gibt.‹«

»Was ist denn das mit diesem Gottesstein?«

»Der Überlieferung nach ist es ein wundertätiger Stein, und dies war nach Herrn von Hergemonts Ansicht ein Glaube, der bis auf die frühesten Zeiten zurückgeht. Von jeher hat man an einen Stein geglaubt, der Wunder wirkt. Im Mittelalter legte man gebrechliche und verkrüppelte Kinder nächtelang auf diesem Stein nieder, die dann geheilt aufstanden. Unfruchtbare Frauen nahmen mit Erfolg zu demselben Mittel ihre Zuflucht. Ebenso machten es Greise, Verkrüppelte und Verwundete. Der Ort der Wallfahrt wurde jedoch verlegt, und so geschah es, daß der Stein an eine andere Stelle kam und nach Aussage einiger sogar verschwand. Im achtzehnten Jahrhundert wurde der Feen-Dolmen zum Wunderstein gemacht, und man legte dort manchmal noch schwächliche Kinder nieder.«

»Der Stein hatte doch aber auch eine verhängnisvolle Wirkung, da er den Tod sowohl wie das Lehen gab?«

»Ja, wenn man ihn ohne die Erlaubnis derer berührte, die beauftragt waren, ihn zu hüten.«

»Nach dem, was Honorine erzählte, ist das Maguennoc passiert«, bemerkte Veronika.

»Ja,« sagte Stephan, »und damit kommen wir zur Gegenwart. Bis jetzt habe ich Ihnen von der sagenhaften Vergangenheit, von den zwei Überlieferungen, von der Prophezeiung und dem Gottesstein erzählt. Maguennocs Erlebnis eröffnet die Reihe der jetzigen Ereignisse, die mir kaum weniger dunkel erscheinen als die früheren.«

»Was ist denn Maguennoc passiert?«

»Wir werden es wahrscheinlich niemals erfahren. Schon seit acht Tagen hatte er sich mit finsterer Miene zurückgezogen, arbeitete nicht; eines Morgens stürzte er in Herrn von Hergemonts Arbeitszimmer und schrie:

›Ich habe ihn angefaßt! ... Ich bin verloren ... Ich habe ihn angefaßt ... Ich habe ihn in die Hand genommen ... Er brannte wie Feuer, aber ich wollte ihn behalten ... Ach, schon seit Tagen brennt mich das Feuer bis auf die Knochen. Es ist die Hölle! Es ist die Hölle!‹

»Dabei zeigte er uns seine Handfläche, die wie von einem Krebsschaden völlig zerfressen war. Man wollte ihn verbinden, er schien aber vollkommen wahnsinnig geworden und stammelte immer nur: ›Ich bin das erste Opfer ... Das Feuer wird mir bis ans Herz dringen ... Und nach mir kommen die anderen an die Reihe!‹ An demselben Abend schlug er sich mit der Axt die Hand ab, und eine Woche später verließ er die Insel, nachdem er die ganze Bevölkerung in Aufruhr gebracht hatte.«

»Wohin ging er denn?«

»Er machte eine Wallfahrt nach der Kapelle von La Faouët, in deren Nähe Sie ihn gefunden haben.«

»Und wer, glauben Sie, hat ihn getötet?«

»Sicher war es eines jener Wesen, die miteinander durch Zeichen in Verbindung standen, die Sie auf Ihrem Wege gesehen haben. Eines jener Wesen, die in den Höhlen wohnen, und die einen Zweck verfolgen, den ich nicht kenne.«

»Dieselben also, die Sie und Franz überfallen haben?«

»Ja, und die dann mit Hilfe unserer geraubten Kleider sich für Franz und mich ausgegeben haben.«

»Und zu welchem Zwecke?«

»Um leichter in die Abtei hineinzukommen und um im Falle eines Mißerfolges die Nachforschungen auf eine falsche Spur zu leiten.«

»Haben Sie sie denn, seitdem Sie hier eingesperrt sind, noch nicht gesehen?«

»Ich habe nur undeutlich eine Frau gesehen. Sie kommt in der Nacht, bringt mir zu essen und zu trinken, lockert die Stricke um meine Hände und Füße und kommt nach zwei Stunden wieder.«

»Hat sie mit Ihnen gesprochen?«

»Ein einzigesmal, in der ersten Nacht flüsterte sie mir zu, daß, wenn ich um Hilfe riefe, wenn ich schrie oder wenn ich versuchte zu entkommen, Franz für mich büßen müßte.«

»Und haben Sie sie in dem Augenblick des Überfalls nicht erkennen können?« ...

»Ich weiß darüber nicht mehr als Franz.«

»Und nichts ließ diesen Überfall vermuten?«

»Nichts. Am Morgen jenes Tages hatte Herr von Hergemont für die Untersuchung, die er über alle diese Tatsachen anstellte, zwei wichtige Schreiben erhalten. Einer der Briefe, der von einem alten Schloßbesitzer der Bretagne stammte, enthielt ein seltsames Dokument, das er in den Papieren seines Urgroßvaters gefunden hatte, nämlich den Plan der unterirdischen Gänge, in denen früher die royalistischen Banden in Sarek gehaust hatten. Dies waren augenscheinlich dieselben Druidenbehausungen, von denen die Legenden erzählen. Auf dem Plan war der in der schwarzen Heide befindliche Eingang verzeichnet. Außerdem enthielt er Angaben über zwei übereinanderliegende Gänge, an deren Ende je eine Folterkammer lag. Daraufhin machten Franz und ich uns auf, um den Gang zu erforschen; bei unserer Rückkehr wurden wir überfallen.«

»Und seitdem haben Sie nichts entdeckt?«

»Nichts.«

»Franz sprach allerdings von einer Hilfe, die er erwartete ... Von jemandem, der ihm seinen Beistand zugesichert hatte.«

»Ach, das ist eine Kinderei, eine Idee von Franz, die durch den zweiten Brief, den Herr von Hergemont erhalten hat, entstanden ist.«

»Und wovon handelte der?«

Stephan antwortete nicht sogleich. Etwas schien darauf hinzudeuten, daß man sie durch die Türöffnung beobachtete. Als er sich aber dem Verbindungsfenster näherte, sah er niemand.

»Ach,« seufzte er, »wenn man uns zu Hilfe kommen will, muß man sich beeilen! Sie können jeden Augenblick kommen.«

»Besteht denn wirklich Hoffnung auf Hilfe?«

»Ach,« sagte er, »wir dürfen dem nicht allzuviel Wichtigkeit beimessen, aber seltsam ist es schon. Sie wissen, daß mehrmals schon einige Offiziere und Beamte nach Sarek gekommen sind, um das Meer rings um die Insel nach Unterseebootsstationen abzusuchen. Der zu diesem Zweck aus Paris hergesandte Kapitän Patrice Belval setzte sich mit Herrn von Hergemont in Verbindung, der ihm von den hier verbreiteten Überlieferungen erzählte. Es war an den Tagen, nachdem Maguennoc die Insel verlassen hatte. Der Kapitän schien sich so lebhaft für alles zu interessieren, daß er davon sprach, es einem seiner Freunde in Paris zu erzählen; dieser, ein spanischer oder portugiesischer Edelmann, Don Luis Perenna mit Namen, war, wie er sagte, ein ungewöhnlicher Mensch, der auch die rätselhaftesten Dinge aufzuklären und die kühnsten Unternehmungen erfolgreich durchzuführen fähig war. Einige Tage nach der Abreise des Kapitäns Belval bekam Herr von Hergemont von dem genannten Don Luis Perenna den Brief, von dem ich Ihnen sprach, und von dem er uns leider nur den Anfang vorlas:

›Sehr geehrter Herr!

Der Fall Maguennoc scheint mir ziemlich ernst. Ich bitte Sie, bei der nächsten beunruhigenden Nachricht an Patrice Belval zu telegraphieren. Nach einigen Anzeichen zu urteilen, stehen Sie am Rande eines Abgrundes. Aber sollten Sie selbst schon in diesen Abgrund hineingezogen sein, so würden Sie doch nichts zu fürchten haben, wenn ich nur rechtzeitig benachrichtigt werde. Von dem Augenblick an bürge ich für Ihre Sicherheit, was auch eintreten mag, selbst dann noch, wenn Ihnen schon alles verloren scheint und wenn selbst alles verloren wäre. Was nun die rätselhafte Angelegenheit des Gottessteines betrifft, so erscheint sie mir kindisch, und ich wundere mich wirklich, daß sie nach den Erklärungen, die Sie Patrice Belval gegeben haben, einen Augenblick für unerklärlich angesehen werden kann. Hier haben Sie in wenigen Worten, was so viele Generationen beschäftigt hat.‹«

»Nun?« fragte Veronika, begierig, Näheres zu erfahren.

»Den Schluß des Briefes hat, wie ich Ihnen schon sagte, Herr von Hergemont uns nicht vorgelesen. Als wir ihn befragten, antwortete er nur: ›Heute abend werde ich euch alles sagen, Kinder, wenn ihr von der schwarzen Heide zurückkommt. Vorläufig sage ich euch nur, daß auf die einfachste und natürlichste Weise Don Luis Perenna, dieser wirklich außergewöhnliche Mann, mir das Geheimnis des Gottessteines erklärt und mir Angaben gemacht hat über den Ort, wo er liegt.‹«

»Und am Abend?«

»Abends wurden Franz und ich überfallen und gefangen gesetzt und Herr von Hergemont ermordet.«

Veronika dachte nach. »Wer weiß,« sagte sie, »ob man ihm nicht diesen wichtigen Brief entreißen wollte? Denn es scheint mir, als ob nur die Absicht, den Stein zu stehlen, alle Intrigen erklären kann, deren Opfer wir sind.«

»Das glaube ich auch, aber auf Anraten des Don Luis Perenna hat Herr von Hergemont in unserer Gegenwart den Brief zerrissen.«

»Und Franz?«

»Franz weiß nichts von dem Tod seines Großvaters und glaubt folglich, daß Herr von Hergemont, nachdem er seine und meine Gefangennahme erfahren hat, Perenna davon benachrichtigt hat, der in diesem Falle baldigst hier eintreffen muß. Außerdem hat Franz einen anderen Grund, auf ihn zu hoffen ...«

»Einen ernsthaften Grund?«

»Nein, Franz ist noch sehr kindlich, er hat viele Abenteuerromane gelesen, und seine Phantasie arbeitet heftig. Nun hat der Kapitän Belval ihm von seinem Freund Perenna soviel phantastische Geschichten erzählt und hat ihm diesen Mann in einem so wunderbaren Lichte gezeigt, daß Franz davon überzeugt ist, daß Don Luis Perenna kein anderer als Arsène Lupin ist. Daraus schöpft er dieses unbedingte Vertrauen und die Gewißheit, daß im Falle einer Gefahr die wunderbare Rettung pünktlich auf die Minute eintreten wird.«

Veronika sagte lächelnd:

»Er ist wirklich noch ein Kind, aber Kinder haben unbewußte Ahnungen, die man doch ernst nehmen muß ... Es macht ihm auch Mut und hält ihn bei guter Laune. Wie hätte er in seinem Alter die Erlebnisse durchmachen können, wenn er diese Hoffnung nicht gehabt hätte!«

Ihre Angst wurde stärker, und leise sagte sie:

»Es soll uns gleich sein, woher die Rettung kommt, wenn sie nur rechtzeitig kommt und mein Sohn nicht diesen entsetzlichen Wesen zum Opfer fällt.«

Beide schwiegen lange Zeit. Der Gedanke an den unsichtbaren und doch gegenwärtigen Feind legte sich mit seiner ganzen Schwere auf ihre Seelen. Er war überall, er war Herr der Insel, Herr der unterirdischen Wohnungen, Herr in Heide und Wald, Herr des Meeres.

»Ich höre ein Geräusch«, sagte sie plötzlich.

Nun lauschte auch er.

»Ja wirklich ...«

»Vielleicht ist es Franz, vielleicht kommt das Geräusch von oben?«

Sie wollte sich erheben, aber er hielt sie zurück.

»Nein, es sind Schritte im Gang.«

»Mein Gott, was wird geschehen«, sagte Veronika.

Wie von Sinnen sahen sie einander angstvoll an, ohne zu wissen, was sie tun sollten.

Das Geräusch kam näher. Der Feind schien nichts zu ahnen, denn er kam offenbar arglos näher.

»Man darf nicht sehen, daß ich aufgestanden bin«, sagte Stephan. »Ich will mich wieder hinlegen ... binden Sie mir wieder Hände und Füße ...«

Noch zögerte sie in der törichten Hoffnung, die Gefahr ginge von selbst wieder vorüber. Plötzlich aber erwachte Veronika aus ihrer Erstarrung und rief:

»Schnell, da kommen sie ... legen Sie sich nieder.«

Er gehorchte. In wenigen Augenblicken hatte sie die Stricke wieder um seine Hände und seine Füße gelegt, ohne sich jedoch die Zeit zu nehmen, sie zu verknoten.

»Drehen Sie sich dem Felsen zu«, sagte sie, »und verbergen Sie Ihre Hände ... sie würden Sie verraten.«

»Und Sie?«

»Fürchten Sie nichts.«

Sie bückte sich und legte sich quer vor die Tür, deren durch Eisenstangen vergitterte Fenster nach innen einen Vorsprung bildeten, so daß man sie nicht sehen konnte.

In demselben Augenblick hielten die Schritte draußen an. Trotz der Schwere der Tür konnte Veronika das Rascheln eines Frauenkleides hören.

Über ihr sah jemand durch das Gitter.

Beim geringsten Verdacht waren sie verloren.

Warum bleibt sie nur stehen, dachte Veronika. Merkt sie, daß ich hier bin? ... Sieht sie vielleicht meine Kleider? ...

Plötzlich bewegte sich draußen etwas, und jemand pfiff zweimal hintereinander.

Dann hörte man andere Schritte den Gang entlangkommen. Sie hallten in der großen Stille wider und machten wie die anderen vor der Tür halt. Man sprach miteinander und schien zu beraten.

Veronika war es gelungen, die Hand in die Tasche zu stecken. Sie zog ihren Revolver heraus und legte den Finger auf den Hahn. Sobald man eintritt, dachte sie, gebe ich hintereinander zwei Schüsse ab. Das geringste Zögern konnte ja Franz das Leben kosten.


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