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IX. Die Todeskammer

Diese Absicht Veronikas wäre ausführbar gewesen, wenn die Tür sich nach außen geöffnet hätte und die Feinde dadurch sofort sichtbar geworden wären. Veronika prüfte die Tür und stellte fest, daß erstaunlicherweise unten ein schwerer Riegel angebracht war. Sollte sie ihn schließen?

Es blieb ihr keine Zeit, über Vorteile oder Nachteile dieses Planes nachzudenken. Sie hörte etwas klirren, und fast gleichzeitig wurde ein Schlüssel in das Schloß gesteckt. Sie sah bereits im Geiste voraus, was geschehen würde. Der Anblick der plötzlich eintretenden Feinde würde ihr die Geistesgegenwart rauben, in ihren Bewegungen gehemmt, würde sie schlecht zielen und daneben schießen, man würde die Tür wieder schließen und unverzüglich in Franz' Zelle eilen.

Dieser Gedanke raubte ihr jede Fassung, und so handelte sie mechanisch und wie unter einem Zwang. Mit rascher Bewegung schob sie den Riegel vor, dann richtete sie sich auf und schob den eisernen Laden vor das Gitter. Ein Schloß schnappte ein. Niemand konnte mehr eintreten oder hineinsehen.

Sofort begriff sie das Unsinnige ihrer Tat, die den Feind in seinem Vorhaben nicht hindern konnte. Stephan, der zu ihr geeilt war, machte sie darauf aufmerksam.

»Mein Gott, was haben Sie getan? Die haben wohl gesehen, daß ich mich nicht regte, und jetzt wissen sie, daß ich nicht allein bin.«

»Tut nichts«, sagte Veronika. »Jetzt werden sie sich daran machen, die Tür einzuschlagen, und so werden wir Zeit gewinnen.«

»Zeit, wozu?«

»Um zu fliehen.«

»Wie könnten wir das?«

»Franz wird uns rufen, Franz ...«

Sie hielt inne. Man hörte deutlich die sich entfernenden Schritte. Kein Zweifel, der Feind, der sich bei der Gewißheit beruhigte, daß Stephan nicht entfliehen könne, ging hinauf in das obere Verlies, wo Franz war. Vielleicht vermutete er auch, daß die beiden Freunde sich verständigt hätten und daß Franz in Stephans Zelle war, und daß er den Riegel vorgeschoben hätte.

Veronika hatte also die Ereignisse gerade nach der Richtung der Gefahr hin überstürzt. In dem Augenblick, da Franz entfliehen wollte, würde er oben überrascht werden.

Sie verlor alle Fassung.

»Warum bin ich hier heruntergestiegen, es wäre so einfach gewesen, ihn oben zu erwarten! Vereint hätten wir Sie gewiß retten können.«

Hatte sie vielleicht Stephans Befreiung beschleunigen wollen, weil sie die Liebe dieses Mannes für sie kannte? Und war es nicht unwürdig und vorwitzig gewesen, sich in dieses Abenteuer zu stürzen? Doch sofort wies sie diesen schrecklichen Gedanken zurück.

»Nein, es mußte so kommen,« sagte sie, »das Schicksal verfolgt uns.«

»Glauben Sie das nicht, alles wird ein gutes Ende nehmen.«

»Nein, es ist zu spät«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Warum? Was beweist uns, daß Franz nicht schon aus der Zelle geflohen ist? Eben glaubten Sie selbst es noch!«

Sie antwortete nicht. Ihr bleiches Gesicht war verzerrt.

»Wir sind vom Tod umgeben«, sagte sie.

Er versuchte zu lächeln.

»Sie sprechen wie die Leute von Sarek, dieselbe Angst verfolgt Sie.«

Sie stürzte auf die Tür zu, schob den Riegel zurück und versuchte die Tür zu öffnen. Aber was vermochte ihre Kraft gegen diese mächtigen mit Eisenplatten verstärkten Balken!

Stephan ergriff ihren Arm.

»Hören Sie doch ... klingt das nicht wie ...?«

»Ja,« sagte sie, »jetzt wird oben geklopft, über uns in dem Verlies, in dem Franz ist.«

»Aber nein, nein, hören Sie doch nur ...«

Ein neues Schweigen, dann ein Dröhnen unten im Fels. Das Geräusch kam von unten.

»Es sind dieselben Schläge, die ich heute früh hörte,« sagte Stephan verstört ... »derselbe Versuch, von dem ich Ihnen schon sprach ... Ach, jetzt verstehe ich! ...«

»Was meinen Sie?«

In regelmäßigen Abständen folgten die Schläge aufeinander, dann hörten sie auf, und nun vernahm man ein dumpfes, fortgesetztes Rollen und lautes Knarren und Krachen. Es klang, als würde eine Maschine in Bewegung gesetzt. Eine Maschine, wie sie auf See diente, um die Boote ins Schiff heraufzuwinden.

Noch immer stand Veronika lauschend da in banger Erwartung, was kommen würde. Sie versuchte in Stephans Augen eine Erklärung zu finden. Dieser stand vor ihr und blickte sie an, wie man im Augenblick höchster Gefahr eine Frau anblickt, die man liebt.

Plötzlich wankte sie und mußte sich an der Wand festhalten. Die ganze Höhle, der Fels, schien sich im Raum zu drehen.

Gleich einer Falltür wurde das am Rande des Felsens an Scharnieren befestigte, aus ungeheuren Balken gebildete Quadrat hochgehoben. Diese Bewegung erinnerte an das langsame Öffnen eines Deckels und ließ ein vom Rand bis zum äußersten Ende der Höhle sich hinziehendes Sprungbrett entstehen, das zuerst nur schwach geneigt war und auf dem man noch stehen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

Im Augenblick dachte Veronika, daß der Feind sie zwischen dem unbeweglichen Fußboden und der Felswand zermalmen wollte, aber gleich darauf begriff sie, daß diese schreckliche Maschine, die sich wie eine Art Zugbrücke hob, sie in den Abgrund stürzen sollte.

»Es ist entsetzlich ... entsetzlich«, murmelte sie. Ihre Hände hielten sich krampfhaft umschlungen.

»Man kann nichts mehr tun,« stöhnte sie, »nicht wahr?«

»Nichts«, sagte er.

»Aber rings um dieses Quadrat ist doch noch Raum, und die Höhle ist rund, man könnte ...«

»Nein«, sagte er. »Der Zwischenraum ist zu klein. Wenn man versuchen wollte, sich zwischen die Höhlenwand und diese Falltür zu zwängen, würde man zermalmt werden, das ist alles schon berechnet. Ich habe oft darüber nachgedacht.«

»Was nun?«

»Man muß warten.«

»Worauf? Auf wen?«

»Auf Franz.«

»Ach Franz,« sagte sie schluchzend, »vielleicht ist er auch zum Tode verurteilt ... oder vielleicht sucht er uns und fällt in einen Hinterhalt. Ich werde ihn nie wiedersehen ... nicht einmal vor seinem Tode kann er mich sehen.«

Dann drückte sie Stephan heftig die Hand und sagte:

»Stephan, wenn einer von uns dem Tode entrinnt, und ich wünsche, daß Sie es sind ...«

»Nein, Sie werden es sein«, sagte er bestimmt. »Ich wundere mich sogar, daß der Feind Sie meine Todesstrafe mit erleiden läßt. Er weiß gewiß gar nicht, daß Sie hier sind.«

»Vielleicht,« sagte Veronika, »denn mir ist doch eine andere Todesart vorbehalten ... Aber mir ist alles gleich, da ich ja meinen Sohn nicht mehr wiedersehen werde. Ihnen, Stephan, vertraue ich ihn an, nicht wahr? Ich weiß, was Sie schon für ihn getan haben.«

Die Falle hob sich langsam, unterbrochen von plötzlichen Schwankungen und Erschütterungen.

»Wenn ich Sie überlebe,« sagte er, »so schwöre ich Ihnen, daß ich meine Aufgabe zu Ende führen werde. Ich schwöre es in Erinnerung ...«

»In Erinnerung an mich,« sagte sie fest, »an jene Veronika, die Sie gekannt und geliebt haben.«

Leidenschaftlich blickte er sie an.

»Wissen Sie denn? ...«

»Ja, und ich spreche offen mit Ihnen. Ich habe Ihr Tagebuch gelesen ... Ich weiß von Ihrer Liebe ... Und ich nehme sie gern entgegen.«

Sie lächelte traurig.

»Dies Gefühl brachten Sie einer Frau entgegen, die nicht bei Ihnen war und die jetzt sterben wird ...«

»Nein, nein«, unterbrach er sie heftig. »Das müssen Sie nicht denken ... Die Rettung ist vielleicht nahe ... Ich fühle es wohl, meine Liebe gehört nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft an.«

Er wollte ihr die Hände küssen.

»Umarmen Sie mich«, sagte sie und hielt ihm die Stirn hin.

Beide hatten schon einen Fuß auf den schmalen Felsrand setzen müssen, der sich an der vierten Seite der Falltür hinzog.

Sie küßten einander feierlich. »Halten Sie mich fest«, sagte Veronika. Dann warf sie sich so weit wie möglich zurück und rief mit erstickter Stimme:

»Franz, Franz ...«

Aber in der Öffnung oben war nichts zu sehen. Immer noch hing dort die Leiter außer Reichweite.

Nun sah Veronika ins Meer hinunter. An der Stelle, wo sie stand, sprang der Fels weniger schroff vor, und zwischen den schaumgepeitschten Riffen sah sie eine kleine stillruhende Wasserfläche, die unermeßlich tief schien. Dort, dachte sie, ist der Tod friedlicher als auf den spitzigen Klippen, und in dem plötzlichen Wunsch, allem ein Ende zu machen und einer langsamen Todesqual zu entgehen, sagte sie zu Stephan:

»Worauf warten wir? Ist es denn nicht besser gleich zu sterben als auf einen langsamen, qualvollen Tod zu warten?«

»Nein, nein«, rief er aus, denn alles empörte sich in ihm bei dem Gedanken, Veronika zu verlieren.

»Hoffen Sie denn immer noch?«

»Bis zum letzten Atemzug, denn ich hoffe für Sie.«

»Ich hoffe nichts mehr«, sagte sie.

Auch er erhoffte im Grunde nichts mehr, aber sein Wunsch, ihren Schmerz zu lindern und die furchtbare Prüfung allein auf sich zu nehmen, war so groß, daß er eine Hoffnung vortäuschte.

Das Brett richtete sich immer steiler auf. Das dumpfe Dröhnen hatte aufgehört, und die schiefe Ebene reichte schon bis an die Türöffnung. Plötzlich gab es einen Stoß, und die ganze Türöffnung verschwand. Es war jetzt unmöglich, aufrecht stehen zu bleiben.

Beide legten sich auf das Brett und stützten die Füße auf den Felsrand.

Noch zweimal wurde das Brett heftig erschüttert, und jedesmal erhob sich der obere Teil ruckweise. Jetzt reichte es schon bis an die Decke und senkte sich langsam dem Meere zu. Schon konnte man deutlich erkennen, daß es die Öffnung vollkommen verschließen würde. Diese Öffnung im Felsen war so bemessen, daß die grauenhafte Folter ihren Opfern keinen Ausweg und auch dem Zufall keine Möglichkeit bot.

Beide sprachen kein Wort mehr. Sie hatten sich in ihr Schicksal ergeben, hielten sich krampfhaft an den Händen und nahmen ihren Tod als unabwendbares Schicksal hin. Seit undenkbaren Zeiten mochte diese Folter bestehen. Sie war wohl schon unzählige Male verbessert und vervollkommnet worden, und -- von unsichtbaren Henkern in Bewegung gesetzt -- hatte sie sowohl Unschuldigen wie Verbrechern, Bretonen, Galliern, Franken und fremden Gefangenen den Tod gebracht. Kriegsgefangene, sündige Mönche, verfolgte Bauern, aufständische Royalisten und Revolutionssoldaten hatte dieses Ungeheuer nacheinander in den Abgrund gestürzt.

Heute waren sie an der Reihe, und sie hatten nicht einmal die Möglichkeit, durch Haß oder Zorn ihren Gefühlen Luft zu machen. Wen sollten sie hassen? Sie starben im tiefsten Dunkel, ohne daß sich das Antlitz des Feindes aus der Finsternis erhob. Sie starben als Opfer eines ihnen unbekannten Wesens, damit törichte Prophezeiungen erfüllt würden, sinnlose Forderungen, wie barbarische Götter sie stellen und phantastische Priester sie aussprechen. Unerhörtes Schicksal! Sie waren auserlesen zu einem Bußopfer, das den Gottheiten einer blutdürstigen Religion dargebracht wurde.

Jetzt richtete sich hinter ihnen die Mauer beinahe senkrecht auf. Das Ende nahte.

Mehrmals schon hatte Stephan Veronika festhalten müssen, die sich ins Meer stürzen wollte.

»Ich flehe Sie an«, flüsterte sie. »Lassen Sie mich, ich leide zu sehr.«

Wäre nicht ihr Sohn gewesen, so hätte sie bis zum Schluß ihre Selbstbeherrschung nicht verloren, so aber quälte sie die Sorge um ihn. Auch er war in der Hand der Feinde und er, wie seine Mutter, wurden den unerbittlichen Göttern geopfert.

»Nein, er wird kommen«, beruhigte sie Stephan. »Sie werden gerettet. Ich will es. Ich weiß es bestimmt.«

»Er ist in ihrer Gewalt wie wir ...« antwortete Veronika verzweifelt. »Man quält ihn mit feurigen Werkzeugen und spitzigen Pfeilen ... Man reißt ihm das Fleisch von den Knochen, ach, mein armes Kind! ...«

»Und ich sage Ihnen, daß er kommt, liebe Freundin ... denn eine Mutter und ein Kind, die sich wiedergefunden haben, kann nichts mehr trennen ... Er selbst hat es Ihnen gesagt.«

»Der Tod hat uns zusammengeführt, der Tod wird uns vereinen ... Ich will nicht, daß er leidet ...«

Ihr Schmerz war zu groß. Sie riß sich von Stephans Hand los und wollte sich ins Wasser stürzen. Plötzlich aber lehnte sie sich wieder gegen die Falltür und stieß ebenso einen Ruf der Überraschung aus.

Zu ihrer Linken war etwas vor ihren Augen aufgetaucht, das dann wieder verschwand.

»Die Leiter, die Leiter ... nicht wahr«, flüsterte Stephan.

»Ja, es ist Franz ...«, sagte Veronika, außer sich vor Freude und Hoffnung. »Er ist gerettet und kommt uns zu Hilfe ...«

In diesem Augenblick stand das Folterbrett beinahe steil in der Luft. Es rührte sich nicht mehr. Die Höhle hinter ihnen war abgeschlossen. Nur der Abgrund blieb ihnen, und der schmale Felsrand allein konnte ihnen einen schwachen Halt geben.

Veronika beugte sich von neuem vor. Wieder sah sie die Leiter, die jetzt nicht mehr schwankte, sondern oben festgehakt schien.

Oben in der Felsöffnung tauchte das Gesicht eines Knaben auf, der ihr zulächelte und winkte:

»Mutter, Mutter ... schnell«, rief der Knabe.

»Ich komme, Liebling, ich komme.«

Sie hatte die Leiter ergriffen und, von Stephan gestützt, gelangte sie ohne Schwierigkeit auf die erste Sprosse.

»Und Sie, Stephan«, wandte sie sich an diesen. »Sie folgen mir doch?«

»Ich habe Zeit,« sagte er, »beeilen Sie sich.«

»Nein, erst versprechen Sie mir ...«

»Ich schwöre es Ihnen, eilen Sie.«

Sie kletterte vier Sprossen hinauf und hielt inne.

»Sie müssen kommen, Stephan«, sagte sie.

Er hatte sich schon wieder dem Felsen zugewandt und mit der linken Hand an einem engen Spalt zwischen diesem und der Zugbrücke festgeklammert. Mit der rechten Hand griff er nach der Leiter und setzte den Fuß auf die unterste Sprosse. Auch er war gerettet.

Voller Freude stieg Veronika hinauf. Mochte sich auch unter ihr der Abgrund öffnen, oben erwartete sie ihr Sohn, den sie endlich ans Herz drücken würde.

»Ich komme, ich komme, mein Liebling«, wiederholte sie immer wieder.

Behend steckte sie ihren Kopf und ihre Schultern durch das Fenster. Der Knabe zog sie hinein. Sie schwang sich aufs Fensterbrett, und nun stand sie neben ihrem Sohn.

Sie sanken einander in die Arme.

»O meine Mutter, meine Mutter, ist es denn möglich, Mutter!«

Kaum aber hatte sie ihn in die Arme geschlossen, so machte sie sich los. Eine unerklärliche Scheu hielt sie zurück.

»Komm, komm«, sagte sie und zog ihn ans Licht. »Komm, ich muß dich sehen.«

Der Junge ließ es geschehen. Sie prüfte einen Augenblick sein Gesicht, und plötzlich sprang sie entsetzt zurück und rief:

»Also bist du doch der Mörder?«

Zu ihrer grauenvollen Überraschung fand sie in ihrem Sohn die Züge dessen wieder, der vor ihren Augen Herrn von Hergemont und Honorine getötet hatte.

»So, du erkennst mich also«, höhnte er.

Bei dem Ton dieser Stimme erkannte Veronika ihren Irrtum.

Dieser Knabe hier war nicht Franz, sondern der andere, der in Franz' Kleidern die höllische Tat vollbracht hatte. Wiederum lachte er höhnisch.

»Jetzt begreifst du also, meine Liebe? Du erkennst mich wieder?«

Das widerliche Gesicht verzerrte sich und nahm einen Ausdruck der Bosheit, Grausamkeit und Gemeinheit an.

»Vorski, Vorski«, stammelte Veronika. »Das ist Vorskis Gesicht.«

Er lachte schallend.

»Warum auch nicht?! Glaubst du, daß ich meinen Vater verleugne, wie du es getan hast?«

»Es ist Vorskis Sohn«, wiederholte Veronika.

»Ja, warum nicht? Hatte er vielleicht nicht das Recht zwei Söhne zu haben, der gute Mann, erst mich und dann den sanften Franz?«

»Also Vorskis Sohn«, sagte Veronika noch einmal.

»Und ein forscher Kerl, kann ich dir sagen, der seinem Vater Ehre macht und in seinem Sinne erzogen ist. Einige Beweise davon hast du schon gesehen, wie? Aber das ist längst nicht alles. Wir sind noch im Anfang, warte nur, gleich wirst du einen neuen Beweis sehen. Sieh dir mal den albernen Lehrer da an ... Und paß mal auf, was daraus wird, wenn ich erst komme!«

Mit einem Satz war er am Fenster, wo eben Stephans Kopf auftauchte. Der Bursche nahm einen Stein und schlug damit heftig auf den Flüchtling ein.

Veronika, die im ersten Augenblick zu bestürzt war, um zu handeln, stürzte nach vorn und packte ihn beim Arm. Es war zu spät. Stephans Kopf war nicht mehr zu sehen. Der eiserne Haken der Leiter hatte sich gelöst, man hörte ein Geräusch, dann das Aufschlagen eines Körpers im Wasser.

Veronika stürzte ans Fenster. Die Leiter schwamm in der von Felsklippen umrahmten stillen See. Nichts verriet die Stelle, wo Stephan untergegangen war. Kein Wirbel, kein Gekräusel im Wasser.

»Stephan, Stephan«, schrie sie.

Keine Antwort. Nichts als das tiefe Schweigen in dem Raum, wo selbst die Winde schlafen und das Meer schlummert.

»Du Elender, was hast du getan«, stieß Veronika hervor.

»Traure nicht um ihn, meine Beste, der Herr Stephan erzog deinen Sohn wie ein Püppchen. Willst du mir einen Kuß geben, Vaters Liebchen? Aber wie böse siehst du aus.«

Mit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu.

Blitzschnell zog sie ihren Revolver.

»Mach, daß du fortkommst, oder ich erschieße dich wie einen tollen Hund.«

Das Gesicht des Burschen nahm einen noch wildereren Ausdruck an.

Schritt für Schritt wich er zurück und knirschte zwischen den Zähnen:

»Das wirst du teuer bezahlen, meine Schöne. Ich will dich umarmen ... Ich bin dir gut ... Und du willst schießen? Das zahlst du mir mit Blut, mit rotem Blut, mit Blut ...«

Es klang, als ob das Wort ihm Freude machte. Er wiederholte es mehrmals, dann lachte er höhnisch auf und lief durch den Gang in der Richtung nach der Abtei davon.

»Mit dem Blut deines Sohnes«, schrie er. »Mutter Veronika! Mit dem Blut deines Sohnes!!«


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