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III. Vorskis Sohn

Veronika saß am Steuerbord auf einer Kiste, das Gesicht Honorine zugewandt, und lächelte. Noch war es ein befangenes, zurückhaltendes Lächeln, wie ein Sonnenstrahl, der die letzten Gewitterwolken durchdringen will, und trotzdem war es glücklich; Glück schien der natürliche Ausdruck zu sein für dieses wunderbare Gesicht, dessen Züge jenen Adel, jene besondere Reinheit zeigten, die ein tiefer Lebensernst und der Verzicht auf jede weibliche Gefallsucht gerade den Frauen verleiht, die von unerhörten Schicksalsschlägen verfolgt werden oder von der Liebe unberührt sind.

Ihr schwarzes, an den Schläfen schon ein wenig ergrautes Haar war tief im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Sie hatte die matte Hautfarbe einer Südländerin. Die Augen waren von einem so durchsichtigen Blau, daß sie an die Klarheit eines Winterhimmels erinnerten. Sie war hoch gewachsen, breitschultrig, voll und schlank. Ihre melodische und ein wenig tiefe Stimme klang leicht und freudig, als sie jetzt von dem wiedergefundenen Sohne sprach, und nur von ihm wollte Veronika sprechen.

Vergeblich suchte Honorine auf die Fragen, die sie quälten, zurückzukommen, indem sie sagte:

»Zwei Dinge kann ich mir immer noch nicht erklären. Wer hat die Richtung angegeben, deren Spur Sie bis nach Faouët geführt hat, gerade bis an den Ort, wo ich immer anlege? Man sollte meinen, es sei schon jemand von Faouët nach der Insel Sarek gekommen? Und dann, wie ist der alte Maguennoc dazu gekommen, die Insel zu verlassen? Ist er freiwillig gegangen, oder hat man seine Leiche weggeschafft? Und auf welchem Wege?«

»Warum fragen Sie?« warf Veronika ein.

»Aber bedenken Sie nur! Außer mir, die ich alle vierzehn Tage mit meinem Boot Lebensmittel hole, entweder in Beg-Meil oder in Pont-l'Abbé, gibt es ja nur noch zwei Fischerboote, die immer weiter oben die Küste herauffahren bis nach Audierne zum Fischmarkt. Wie hat also Maguennoc übers Meer kommen können? Und dann noch eins, hat er sich selbst getötet? Weshalb wäre seine Leiche dann aber verschwunden?«

»Ich bitte Sie,« wandte jetzt Veronika dagegen ein, »das hat doch für den Augenblick gar keine Bedeutung. All das wird sich schon aufklären. Sprechen wir lieber von Franz. Sagten Sie nicht eben, daß er nach Sarek gekommen sei? ...«

Endlich gab Honorine den Bitten der jungen Frau nach.

»Ja, der arme Maguennoc hat ihn damals auf seinen Armen gebracht, wenige Tage nachdem man Ihnen das Kind genommen hatte. Maguennoc erzählte auf Geheiß des Herrn von Hergemont, eine fremde Dame habe ihm das Kind anvertraut. Er ließ es von seiner Tochter, die inzwischen gestorben ist, nähren. Ich war damals gerade mit meiner Herrschaft, bei der ich seit zehn Jahren im Dienst war, auf Reisen. Als ich wiederkam, war er schon ein netter kleiner Junge, der in der Heide auf den Felsen herumstrich. Damals trat ich dann bei Ihrem Vater in Dienst, der sich in Sarek niedergelassen hatte. Als Maguennocs Tochter gestorben war, nahmen wir das Kind zu uns ins Haus.«

»Unter welchem Namen?«

»Unter seinem richtigen Namen Franz ... Einfach Franz. Herr von Hergemont ließ sich Herr Anton nennen. Das Kind nannte ihn Großvater. Kein Mensch hat jemals dabei etwas gefunden.«

»Wie war denn sein Charakter?« Mit einer gewissen Angst fragte Veronika.

»Ach, das ist ein wahrer Segen. Er hat gar nichts von seinem Vater, auch nichts von seinem Großvater, wie Herr von Hergemont selbst zugibt. Er ist ein sanftes, freundliches, gefälliges Kind. Niemals gerät er in Zorn. Immer ist er guter Laune. Damit hat der Junge auch das Herz seines Großvaters gewonnen, und dadurch ist auch das Gefühl Ihres Vaters für Sie wieder erwacht, so sehr erinnerte ihn der Enkel an die Tochter, die er verleugnet hatte. Ganz das Abbild seiner Mutter, sagte er. Bald darauf hat er angefangen, nach Ihnen zu forschen.«

Veronika strahlte vor Freude.

»Ja, kennt der Junge mich denn,« sagte sie, »weiß er, daß seine Mutter am Leben ist?«

»Ob er es weiß! Herr von Hergemont wollte zuerst das Geheimnis für sich behalten, aber ich habe bald alles erzählt.«

»Alles?«

»Nein, er glaubt, daß sein Vater tot ist, und daß Sie alsbald nach dem Schiffbruch in ein Kloster gegangen seien, ohne daß man Sie finden konnte. Nur um Sie zu suchen, kann er nicht schnell genug groß werden und seine Studien beenden.«

»Seine Studien? Er arbeitet also?« ...

»Ja, mit seinem Großvater, und seit zwei Jahren auch mit einem guten Jungen, den ich aus Paris mitgebracht habe, Stephan Maroux, einem Kriegsbeschädigten, der alle möglichen Auszeichnungen hat. Franz hat sich von ganzem Herzen an ihn angeschlossen.«

Auf der glatten Meeresfläche zog das Boot rasch dahin. Seine schäumende Spur im Wasser glänzte wie Silber. Die Wolken am Himmel hatten sich verzogen, und der Tag versprach ruhig und heiter zu bleiben.

»Weiter, weiter«, rief Veronika, die nicht müde wurde, zuzuhören. »Sagt, wie kleidet er sich denn, mein Sohn?«

»Er trägt kurze Hosen, die die runden Knie hervorsehen lassen, ein dickes Flanellhemd mit goldenen Knöpfen und eine Mütze wie sein großer Freund, Herr Stephan, aber seine ist rot, und sie steht ihm zum Entzücken.«

»Hat er noch andere Freunde außer dem Herrn Maroux?«

»Ehemals versammelte er alle Fischerjungen der Insel um sich, aber jetzt sind sie mit Ausnahme von drei oder vier ganz kleinen Knirpsen mit ihren Müttern fortgezogen, sie arbeiten an der Küste von Concarneau und Lorient. Ihre Väter sind im Krieg, und nur die Alten sind hiergeblieben.«

»Mit wem spielt er aber? Mit wem geht er spazieren?«

»Oh, da seien Sie ohne Sorge. Er hat die beste Gesellschaft.«

»Und wen denn?«

»Einen kleinen Hund, den Maguennoc ihm geschenkt hatte?«

»Einen Hund?«

»Ja, und den drolligsten, den Sie sich denken können. Ein lächerlicher Kerl. Eine Kreuzung von Fox und Pudel, aber so possierlich und so spaßig. Ich kann Ihnen sagen, dieser Herr Allesgut hat's in sich.«

»Allesgut?«

»Ja, so nennt ihn Franz, und kein Name paßt besser für ihn. Immer sieht er zufrieden und glücklich aus. Er liebt übrigens die Freiheit und verschwindet auf Stunden, sogar auf mehrere Tage. Aber wenn man ihn braucht und wenn man traurig ist und einem etwas schief geht, dann ist er da ... Allesgut verabscheut Tränen, Scheltworte und Zank. Sobald jemand weint oder traurig aussieht, setzt er sich auf die Hinterbeine, zwinkert mit dem einen Auge, macht das andere halb auf und scheint so herzlich zu lachen, daß man selbst lachen muß. Dann sagt Franz: ›Ja, du hast recht, alter Freund, alles wird gut, man muß sich keine Sorgen machen, nicht wahr?‹ und sobald man getröstet ist, trottet Allesgut davon, er hat seine Pflicht getan.«

Veronika lachte und weinte zugleich. Lange Zeit saß sie schweigend da. Ihre Miene verdüsterte sich nach und nach, und ihre Freude wich einem Gefühl der Verzweiflung. Sie dachte daran, was sie in diesen vierzehn Jahren für ein Glück entbehrt hatte. Sie war eine Mutter gewesen ohne Kind und hatte um einen Sohn getrauert, der noch lebte.

»Wir sind am Ziel«, sagte Honorine und holte aus einer Kiste unter der Bank eine große Muschel hervor, die ihr nach altem Brauch als Signalhorn diente. Sie legte sie an die Lippen, blies die Backen auf und entlockte ihr einige kräftige Töne, die wie ein Stiergebrüll die Luft erfüllten.

Veronika sah sie fragend an.

»Jetzt rufe ich ihn«, sagte Honorine.

»Franz rufen Sie, Franz!«

»Jedesmal, wenn ich zurückkehre, mache ich es so, er klettert dann schleunigst den Felsen herunter, auf dem unser Haus steht, und kommt bis an die Mole.«

»Sie werden ihn sehen. Legen Sie Ihren Schleier doppelt vor Ihr Gesicht, damit er Sie nicht nach den Bildern erkennt. Ich werde mit Ihnen sprechen wie zu einer Fremden, die nach Sarek zu Besuch kommt.«

Jetzt sah man die Insel deutlich vor sich liegen, aber eine Anzahl von Klippen verdeckte den unteren Teil der Felsen.

»Ja, ja, Klippen, an denen fehlt es hier nicht, das wimmelt wie eine Heringsbank!« rief Honorine, die den Motor ausgeschaltet hatte und zwei kurze Ruder ergriff. »Sie sehen, wie ruhig das Meer eben noch war, hier aber ist es immer wild.«

In der Tat sah man ringsum ungezählte Wogen, die aufeinanderprallten, sich überstürzten und unaufhörlich, unermüdlich gegen die Felsen donnerten. Das Boot schien von der Gischt eines Sturzbaches umgeben. Nirgends war in dem schäumenden Strudel ein Stückchen blau oder grün leuchtendes Meer zu erblicken. Nichts als weißer Schaum, den die unermüdlich gegen die spitzen Klippen anprallenden Wasser aufwirbelten.

»Überall ist dasselbe,« fuhr Honorine fort, »und Sarek ist nur mit einem Boot zu erreichen. Nur an der Westseite sind einige Höhlen, die zur Zeit der Ebbe eine Einfahrt bilden. Hier gibt es Felsen, nichts als Felsen, spitze, die verräterisch von unten das Boot aufreißen, und obgleich dies die gefährlichsten sind, sind die anderen nicht weniger zu fürchten. Dort drüben die großen, da hat jeder seinen Namen und seine Geschichte, die von Verbrechen und Schiffbruch erzählt. Ja, das sind die schlimmsten! ...«

Ihre Stimme klang dumpf, zögernd, fast scheu deutete sie mit der Hand auf einige Riffe, die massig aufragten und die verschiedensten Formen bildeten. Da waren Tiere, die sich duckten, zinnenbesetzte Türme, gewaltig aufstrebende Pfeiler, Sphinxgestalten, grob umrissene Pyramiden aus schwarzem Granit, der rötlich schimmerte, als sei er in Blut getaucht.

Honorine machte das Zeichen des Kreuzes und fuhr ruhiger fort:

»Es sind ihrer dreißig. Ihr Vater sagt, daß man Sarek die Insel mit den dreißig Särgen nennt, weil das Volk bei den Klippen schon an den Tod denkt ... Und sie haben recht, es sind schon wahre Särge, Frau Veronika, und wenn man sie öffnen könnte, würde man sicherlich eine Unzahl menschlicher Gerippe finden. Auch meint Herr von Hergemont, das Wort Sarek käme von Sarkophag, was nach seiner Erklärung der gelehrte Ausdruck für Sarg ist.«

Zerstreut hatte Veronika Honorines Erklärungen zugehört. Sie neigte sich tiefer über den Bootsrand, um so früh als möglich die Gestalt ihres Sohnes zu erblicken, während ihre Gefährtin, in Gedanken noch bei ihrer Erzählung, fortfuhr:

»Außerdem gibt es auf Sarek, und deshalb hat Ihr Vater sich gerade hier niedergelassen, eine Anzahl Dolmen Dolmen, die Altarsteine der keltischen Ureinwohner Frankreichs., die nichts Merkwürdiges an sich haben, die aber eigentümlicherweise alle ungefähr gleich sind. Und wissen Sie, wieviel solcher Dolmen es hier gibt? Gerade dreißig, ebensoviel wie Klippen, und die dreißig stehen auf der Insel verteilt, jeder genau vor der Klippe, die seinen Namen trägt! Dol-er-H'rock, Dol-ker-litu usw. Was sagen Sie dazu?«

Sie hatte diese Namen mit ängstlicher Stimme geflüstert, wie immer, wenn sie von all diesen Dingen sprach, als fürchte sie, daß diese Dinge sie hören könnten. »Was meinen Sie dazu, Frau Veronika? Oh, in allem dem liegt viel Geheimnisvolles, und ich sage immer, es ist besser, darüber zu schweigen. Ich will Ihnen das einmal erzählen, wenn wir von hier fort sein werden, weit fort, und wenn Sie erst Ihren Vater und Franz in den Armen halten ...«

Veronika schwieg immer noch und maß mit den Blicken den Raum, der sie noch vom Ufer trennte. Sie hatte ihrer Gefährtin den Rücken zugewandt, klammerte sich mit beiden Händen an den Rand des Bootes und blickte starr geradeaus. Dort, durch die Öffnung zwischen den Felsen, sollte sie zum ersten Male ihr wiedergefundenes Kind erblicken, und sie wollte von dem Augenblick an, wo Franz am Hafen auftauchen konnte, keine Minute verlieren.

Jetzt erreichten sie die Küste.

Eines der Ruder berührte den Hafendamm, den sie bis zum äußersten Ende entlangfuhren.

»Oh,« rief Veronika schmerzlich bewegt, »er ist nicht da.«

»Das ist nicht möglich«, rief Honorine.

Ihr Blick hing an den drei- bis vierhundert Meter entfernt liegenden mächtigen Steinen, die dem Strand als Damm vorgelagert waren. Drei Frauen, ein kleines Mädchen und ein paar alte Fischer erwarteten das Boot. Ein Knabe mit roter Mütze war nirgends zu sehen.

»Wie sonderbar,« sagte Honorine, »zum ersten Male ist er auf mein Zeichen nicht gekommen.«

»Vielleicht ist er krank«, meinte Veronika.

»Nein, krank ist er nie.«

»Was dann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und Sie können so ruhig sein«, fragte Veronika, die von wahnsinniger Angst ergriffen war.

»Seinetwegen bin ich ruhig ... Aber wegen Ihres Vaters. Maguennoc hatte mir geraten, ihn nicht zu verlassen; er ist in Gefahr.«

»Aber Franz ist ja da, um ihn zu verteidigen, und auch Herr Maroux, sein Lehrer. Was vermuten Sie denn?«

Honorine schwieg, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Es sind Torheiten! Mir kommen sonderbare, sehr unwahrscheinliche Gedanken. Seien Sie mir deshalb nicht böse. Immer wieder merke ich, daß ich Bretonin bin. Mit Ausnahme weniger Jahre habe ich mein ganzes Leben in diesem von Legenden und Geschichten erfüllten Land zugebracht ... nichts mehr davon.«

Die Insel Sarek bildet eine langgestreckte, hügelige Hochfläche, die von alten Bäumen bedeckt ist und von phantastisch zerrissenen Klippen getragen wird. Die Insel ist umgeben von einem Kranz ungleichförmiger spitzer Klippen, an denen Wind und Regen, Sonne und Hagel, Nebel und Frost, alles vom Himmel stürzende und alles aus der Erde dringende Wasser unaufhörlich nagen. Die einzig zugängliche Stelle liegt im Osten an einer Bodensenkung, wo einige verlassene Fischerhütten das Dorf bilden. Dort ist ein kleiner Hafen entstanden, der durch eine kleine Mole geschützt ist. Hier ist das Meer völlig ruhig. Zwei Boote lagen vor Anker.

Während Honorine anlegte, machte sie einen letzten Versuch, Veronika von der Landung abzuhalten.

Und als diese sagte: »Nun sind wir da, Frau Honorine«, entgegnete sie:

»Aber wollen Sie wirklich mit ansteigen? Bleiben Sie hier ... In zwei Stunden führe ich Ihnen Ihren Vater und Ihren Sohn zu, und wir essen zusammen in Beg-Meil oder in Pont-l'Abbé, einverstanden?«

Veronika war aufgestanden. Ohne zu antworten, sprang sie auf die Mole.

»Jungens,« sagte Honorine, die ihr, ohne auf ihren Vorschlag zu bestehen, folgte, »ist Franz heute denn nicht hier?«

»Um zwölf Uhr war er noch hier«, erklärte eine der Frauen. »Er erwartet Sie aber erst morgen.«

»Aber er hat mich doch wohl hören müssen ... Na, wir werden ja sehen.«

Darauf sagte sie zu den Leuten, die ihr beim Ausladen halfen:

»Ihr braucht es nicht nach der Abtei hinzubringen, und die Handkoffer auch nicht ... Falls nicht ... Ja, wenn ich nicht bis fünf Uhr wieder hier bin, so schickt einen Jungen mit dem Koffer nach oben.«

»Schon gut, ich komme selbst«, sagte einer der Matrosen.

»Wie du willst, Corréjou, aber weißt du nichts Neues von Maguennoc?«

»Maguennoc ist fort. Ich selbst habe ihn nach Pont-l'Abbée gebracht.«

»Wann denn, Corréjou?«

»Gleich am Tage nach Ihrer Abfahrt, Mutter Honorine.«

»Was wollte er denn dort?«

»Er hat uns erzählt, daß es wegen seiner abgeschlagenen Hand wäre, so eine Art Wallfahrt, glaube ich, wohin, weiß ich nicht ...«

»Eine Wallfahrt? Nach Faouët, zur Kapelle der heiligen Barbara?«

»Ja, so sagte er.«

Mehr fragte Honorine nicht. An Maguennocs Tod war nicht mehr zu zweifeln. Sie folgte Veronika, die ihren Schleier heruntergezogen hatte, und beide Frauen schlugen einen steinigen, in Stufen ansteigenden Fußweg ein, der durch einen Eichwald hindurch bis zur südlichen Spitze führte.

»Übrigens muß ich gestehen,« sagte Honorine, »daß ich nicht sicher bin, ob Herr von Hergemont von hier fortgehen wird. Alles, was ich sage, nennt er Hirngespinste, obgleich er selbst oft über vieles erstaunt ist.«

»Ist es noch weit bis zum Hause?« fragte Veronika.

»Vierzig Minuten zu Fuß. Der Teil ist wie eine zweite Insel, wie Sie sehen werden, die mit dieser verbunden ist und auf der die Benediktiner eine Abtei erbaut hatten.«

»Aber er haust doch nicht mit Franz und Herrn, Maroux allein da?«

»Vor dem Kriege hatte er noch zwei Leute mehr dort, dann haben Maroux und ich zusammen mit der Köchin Marie le Goff alles allein gemacht.«

»Und die ist doch dageblieben während Ihrer Abwesenheit?«

»Ja, gewiß.«

Sie waren jetzt auf der Hochfläche angelangt. Der Fußweg, der sich längs der Küste entlangzog, führte bald aufwärts, bald fiel er steil bergab. Überall standen alte Eichbäume, durch deren noch zartbelaubte Zweige die büschelweis hängenden Misteln lugten. Das Meer, das in der Ferne mattgrün schimmerte, umgab die Insel mit einem weißen Schaumgürtel.

»Was wollen Sie jetzt tun?« fragte Veronika.

»Ich will zunächst allein hineingehen und mit Ihrem Vater sprechen, dann hole ich Sie an der Gartentür ab, und Sie gelten Franz gegenüber vorerst als eine Freundin seiner Mutter. Nach und nach wird er dann die Wahrheit erraten.«

»Und Sie glauben, daß mein Vater mich gut aufnehmen wird?«

»Er wird Sie mit offenen Armen empfangen, Frau Veronika,« rief Honorine, »und wir werden allesamt glücklich sein, vorausgesetzt ... vorausgesetzt, daß nichts dazwischengekommen ist ... Es ist so sonderbar, daß Franz nicht angelaufen kommt! Von jeder Stelle der Insel aus konnte er unser Boot erspähen. Sie verfiel wieder in ihre Grübelei, und beide setzten schweigend ihren Weg fort, Veronika ein wenig ungeduldig und ängstlich.

Plötzlich bekreuzigte sich Honorine.

»Tun Sie es mir nach, Frau Veronika,« sagte sie, »die Mönche haben den Ort geweiht, aber da sind aus früherer Zeit noch so manche böse Dinge, die Unglück bringen, besonders in diesem Wald hier, dem Wald zur großen Eiche.«

»Frühere Zeiten«, das sollte sicher heißen: die Epoche der Druiden und der Menschenopfer. Und in der Tat, sie gelangten an einen Wald, dessen Eichen in großen Abständen voneinander auf einem kleinen Hügel mit bemoostem Gestein standen, so daß sie aussahen wie antike Götter, jede mit ihrem Altar, ihrem geheimnisvollen Kult und ihrer furchtbaren Macht. Veronika bekreuzigte sich wie die Bretonin und fing an zu zittern.

»Wie traurig das hier ist,« rief sie unwillkürlich, »nicht eine Blume wächst hier auf diesem öden Plateau.«

»Es gibt schon welche, wenn man sich bemüht. Sie werden noch die von Maguennoc sehen ganz am äußersten Ende der Insel, rechts von den Feendolmen auf einem Flecken, den man den blühenden Kalvarienberg nennt. Sie sind prachtvoll, sage ich Ihnen, aber er holt sich auch von verschiedenen Stellen selber die Erde zusammen. Er bearbeitet sie und mischt sie mit allerlei Blättern, deren besondere Kräfte er kennt.«

Und noch leiser flüsterte sie:

»Sie werden die Blumen von Maguennoc noch sehen ... Blumen, wie es auf der Welt keine mehr gibt ...«

Hinter einem Hügel fiel der Weg plötzlich steil ab. Ein scharfer Einschnitt teilte die Insel in zwei Teile. Der zweite Teil lag gerade gegenüber und war etwas weniger hoch und viel weniger ausgedehnt.

»Das ist die Abtei da auf der anderen Seite drüben.«

Dieselben zerklüfteten Felsen umgaben die kleine Insel mit einem noch steileren Wall, der mit seinen spitzen Zacken von unten wie ein Kronenreif wirkte. Dieser Wall war mit der Hauptinsel nur durch ein schmales, fünfzig Meter langes Felsstück verbunden, er war kaum breiter als der Wall eines Bergfrieds, und sein spitzer Grat schien scharf zu sein wie die Schneide einer Axt.

Auf diesem Grat war an einen Weg gar nicht zu denken, um so weniger, als ein breiter Spalt ihn in der Mitte auseinanderriß. Deswegen hatte man über diese Kluft eine Brücke geschlagen, die sich mit ihren beiden Enden direkt auf den Felsen aufstützte und unten über den Spalt führte.

Veronika und Honorine traten eine nach der andern auf die Brücke. Sie war sehr schmal und wenig fest und zitterte bei jedem Schritt und bei jedem Windstoß.

»Sehen Sie, dort drüben auf der Spitze der Insel können Sie schon einen Teil der Abtei sehen.«

Der Fußweg führte durch Wiesen, die mit kleinen kreuzweis gepflanzten Tannen bestanden waren. Ein anderer Fußweg ging rechts ab in ein dichtes Gehölz.

Veronika wandte keinen Blick von der Abtei, deren niedrige Front nach und nach zum Vorschein kam. Nach Verlauf einiger Minuten wandte sich Honorine plötzlich um und schrie -- das Gesicht dem Gehölz zugewandt -- auf:

»Herr Stephan!«

»Wen rufen Sie?« fragte Veronika, »Herrn Maroux?«

»Ja, den Lehrer unseres Franz. Er lief nach der Brücke zu. Ich habe ihn durch eine Lichtung gesehen!«

»Aber warum antwortet er denn nicht? Haben Sie seinen Schatten gesehen?«

»Nein.«

»Ich könnte schwören, daß er es ist, mit seiner weißen Mütze ... Übrigens kann man die Brücke hinter uns noch sehen. Wir wollen warten, bis er hinübergeht.«

»Warum denn warten, wenn irgend etwas Schlimmes passiert ist auf der Abtei ...«

»Ja, Sie haben recht ... Eilen wir lieber.«

Sie begannen schneller zu gehen. Düstere Ahnungen hatten sie ergriffen. Plötzlich fingen sie ohne besonderen Grund an zu laufen, so sehr wuchsen ihre Befürchtungen, je näher sie der Wirklichkeit kamen.

Die Insel verengte sich von neuem. Eine niedrige Mauer legte sich quer vor, sie umgrenzte das Gebiet der Abtei. In diesem Augenblick hörte man von drinnen Schreie.

Honorine schrie auf:

»Man ruft! Haben Sie gehört! ... Eine Frau hat geschrien ... Es ist die Köchin ... Marie le Goff.«

Sie stürzte zur Gartentür, stieß den Schlüssel hinein, aber so ungeschickt, daß sie trotz aller Bemühungen nicht aufschließen konnte.

»Dort, durch die Lücke!« befahl sie ... »rechts hinüber ...«

Sie stürzten vorwärts, stiegen über die Mauer und kamen über eine weite Rasenfläche, auf der einzelne Trümmer verstreut lagen und auf dem der schlecht zu erkennende Fußweg sich jeden Augenblick unter Efeu und Moos verlor.

»Da sind wir! Da sind wir!« stieß Honorine hervor. »Wir kommen.«

Sie konnte kaum noch sprechen.

»Es schreit niemand mehr! Das ist ja entsetzlich ... Ach, die arme Marie le Goff«, und sie ergriff Veronikas Arm.

»Gehen wir um das Haus herum.«

»Der Eingang ist auf der anderen Seite ... Auf dieser Seite sind die Türen immer verschlossen und die Fensterläden heruntergelassen.«

Veronika hatte sich in einige Wurzeln verfangen. Sie stolperte und fiel auf die Knie. Als sie sich wieder erhoben hatte, war Honorine fortgelaufen und bog gerade um den linken Flügel. Ohne zu wissen, was sie tat, lief Veronika, anstatt ihr zu folgen, geradewegs auf das Haus zu, stürmte die Treppe hinauf und warf sich gegen die verschlossene Tür, auf die sie mit aller Gewalt einschlug.

Der Gedanke, gleich Honorine um das Haus herumzulaufen, schien ihr ein Zeitverlust, der niemals wieder gutgemacht werden könnte. Als sie gerade von ihren nutzlosen Bemühungen ablassen wollte, hörte sie von neuem aus dem Innern des Hauses Schreie.

Es war eine Männerstimme, und Veronika glaubte die Stimme ihres Vaters zu erkennen. Sie wich einige Schritte zurück. Plötzlich wurde im ersten Stock ein Fenster aufgestoßen, und sie sah Herrn von Hergemont mit schreckerfülltem Gesichte:

»Zu Hilfe, zu Hilfe! Ach das Ungeheuer ... zu Hilfe!« schrie er. Und Veronika:

»Vater, Vater, ich bin da!«

Er neigte einen Augenblick den Kopf, schien aber seine Tochter nicht zu sehen und versuchte mit aller Hast vom Balkon herunterzuklettern. Da hörte man hinter ihm einen Knall, und eine der Fensterscheiben zersplitterte.

»Mörder, Mörder«, schrie er und verschwand wieder im Zimmer.

Veronika, wie von Sinnen und unfähig, einzugreifen, blickte sich um. Wie sollte sie ihrem Vater zu Hilfe kommen. Die Mauer war zu hoch. Nirgends entdeckte sie etwas, woran sie sich hätte anklammern können. Plötzlich bemerkte sie in einer Entfernung von zwanzig Metern eine Leiter. Mit einem unglaublichen Aufwand von Willenskraft gelang es ihr, die sehr schwere Leiter vorwärts zu schleppen und unter das offene Fenster zu stellen. Trotz ihrer Verwirrung wunderte sich Veronika, Honorines Stimme nicht zu hören.

Auch an Franz dachte sie. Wo war nur Franz? War er mit Stephan Maroux geflohen? War er fortgelaufen, um Hilfe zu holen?

Die Leiter reichte nicht bis zu dem Fenster hinauf. Veronika machte sich jetzt klar, wie schwer es für sie sein würde, über den Balkon zu klettern. Sie zögerte jedoch nicht. Dort oben wurde gekämpft. Sie konnte in dem wüsten Lärm die erstickten Rufe ihres Vaters unterscheiden. Veronika stieg hinauf. Allerhöchstens konnte sie die untere Querstange des Balkons erreichen. Ein schmales Gesims, auf das sie das Knie stützte, gab ihr jedoch die Möglichkeit, das Zimmer zu übersehen und das Drama, das sich dort abspielte, zu verfolgen.

In diesem Augenblick war Herr von Hergemont von neuem rückwärts bis ans Fenster zurückgewichen, so daß sie ihn fast von vorn sehen konnte. Er rührte sich nicht. Seine Augen blickten verstört. Die Arme hielt er mit einer unentschlossenen Gebärde vorgestreckt, wie in Erwartung von etwas Furchtbarem, das sich ereignen würde.

»Mörder, Mörder«, stammelte er ... »Bist du es wirklich? Oh, sei verflucht! Franz, Franz!«

Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es Veronika, den Fuß auf das Gesims zu setzen.

»Da bin ich, da bin ich«, wollte sie rufen, aber das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Sie hatte etwas gesehen! ... Sie sah ... ihrem Vater gegenüber, fünf Schritte von ihm entfernt, stand, an die gegenüberliegende Wand des Zimmers gelehnt, ein Wesen, das einen Revolver auf Herrn von Hergemont richtete und langsam zielte. Und dieses Wesen ... o, fürchterlich ... Veronika erkannte die rote Mütze, von der Honorine gesprochen hatte, das Flanellhemd mit den goldenen Knöpfen ... Ganz besonders fand sie in diesem jungen, von höchster Grausamkeit verzerrten Gesicht den gleichen Ausdruck wieder, den sie an Vorski gesehen hatte, wenn er von seinen niederen Trieben, von dem Durst nach Rache und Blut beherrscht war.

Das Kind konnte sie nicht sehen. Seine Blicke blieben an dem Ziel, das es treffen wollte, hängen, und es schien ihm eine wilde Freude zu sein, die verhängnisvolle Bewegung hinauszuschieben.

Veronika war sprachlos, auch ihre Worte, ihre Schreie konnten die Gefahr nicht abwenden. Sie konnte sich höchstens zwischen Vater und Sohn werfen. Sie begann zu klettern, klammerte sich fest und stieg auf die Fensterbrüstung. Zu spät ... Der Schuß ging los. Herr von Hergemont brach mit einem Schmerzenslaut zusammen.

Da, in demselben Augenblick, als das Kind noch den Arm gehoben hatte und Herr von Hergemont hinstürzte, ging hinten im Zimmer eine Tür auf. Honorine erschien und wurde Zeugin des furchtbaren Schauspieles.

»Franz«, heulte sie auf ... »Du! Du!«

Das Kind sprang auf sie zu. Honorine versuchte ihm den Weg zu versperren. Kein Kampf fand statt. Das Kind wich einen Schritt zurück, hob plötzlich die Waffe, die es in der Hand hielt, und zielte.

Honorine brach zusammen und stürzte quer vor der Tür hin. Und als der Knabe über ihren Körper hinwegsprang und entfloh, rief sie:

»Franz! ... Franz! ... Nein, es ist nicht wahr ... Franz ...«

Von draußen klang ein Lachen herein. Ja, das Kind hatte gelacht. Veronika hatte es gehört, dieses furchtbare höllische Lachen, das Vorskis Lachen glich.

Sie verfolgte den Mörder nicht. Sie machte keine Anstrengung, ihn zu rufen. Ganz in ihrer Nähe murmelte eine Stimme:

»Veronika, Veronika!«

Herr von Hergemont lag am Boden und sah sie mit seinen verglasten Augen an, die der Tod schon halb gebrochen hatte.

Sie kniete bei ihm nieder, und als sie versuchte, seine blutige Weste und das Hemd zu öffnen, um seine Wunde zu verbinden, schob er sie sanft mit der Hand weg. Sie begriff, daß ihre Sorge umsonst war und daß er mit ihr sprechen wollte. Sie beugte sich über ihn.

»Verzeih' mir, Veronika.«

Dies war das erste, was sein schwindendes Bewußtsein hervorbrachte. Sie küßte ihn auf die Stirn und sagte weinend:

»Sei ruhig, Vater, strenge dich nicht an.«

Aber er hatte ihr noch etwas zu sagen, sein Mund mühte sich vergebens Worte zu bilden, die jedoch keinen Zusammenhang mehr hatten. Das Leben entschwand. Sein Geist umnachtete sich. Veronika hielt ihr Ohr dicht an seine Lippen, die sich in einem letzten Versuch erschöpften. Sie vernahm die Worte:

»Nimm dich in acht ... der Stein Gottes ...«

Plötzlich richtete er sich halb auf. In seinen Augen einen Glanz, flackernd wie eine sterbende Flamme. Ihr Vater schien bei ihrem Anblick nur an die vielen Gefahren zu denken, die sie bedrohten. Mit heiserer und erschreckter Stimme hörte sie ihn sagen:

»Nicht bleiben ... Es ist dein Tod, wenn du bleibst. Fort von dieser Insel ... rasch ...«

Sein Kopf fiel hinten über, und er stammelte ein paar Worte, die Veronika auffing:

»Ach das Kreuz ... die vier Kreuze von Sarek ... meine Tochter ... meine Tochter ... die Marter am Kreuz ...« das war alles.

Ein tiefes Schweigen trat ein. Ein ungeheures Schweigen, das die junge Frau auf sich lasten fühlte wie eine Bürde, deren Gewicht mit jedem Augenblick schwerer wurde.

»Fliehen Sie von dieser Insel ...« wiederholte eine Stimme, »rasch! Ihr Vater befiehlt es Ihnen, Frau Veronika.«

Honorine befand sich neben ihr, leichenblaß. Ihre beiden Hände hatten sich um ein zusammengeknülltes, ganz mit Blut getränktes Tuch gekrampft, das sie gegen ihre Brust drückte.

»Ich will Sie pflegen«, rief Veronika. »Warten Sie, lassen Sie mich sehen.«

»Später ... wird man sich mit mir beschäftigen! ... später ...« stammelte Honorine. »Oh, das Ungeheuer ... Wenn ich doch rechtzeitig gekommen wäre ... Aber die Tür unten war verbarrikadiert ...«

Veronika flehte sie an:

»Lassen Sie sich pflegen ... Hören Sie ...«

»Gleich ... Aber erst ... Marie le Goff die Köchin ... unten an der Treppe ... Sie ist verwundet ... Vielleicht auf den Tod ... Sehen Sie nach ihr ...«

Veronika ging durch die Tür im Hintergrunde, durch die ihr Sohn hinausgeeilt war, als er entwich.

Der Treppenflur war geräumig. Auf den ersten Stufen lag Marie le Goff zusammengekrümmt im Todeskampf.

Sie starb ganz kurz darauf, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, als drittes Opfer eines unbegreiflichen Dramas.

Wie der alte Maguennoc vorausgesagt hatte, war Herr von Hergemont wirklich das zweite Opfer gewesen.


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