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XIII. Eli Eli Lama Sabathani

Die Vorbereitungen dauerten nicht lange. Vorski nahm selbst tätig daran teil. Er lehnte die Leiter gegen den Baum, warf ein Ende des Strickes um sein Opfer, das andere um einen der oberen Äste des Baumes. Darauf kroch er auf die oberste Stufe der Leiter und schärfte seinen Genossen ein:

»Ihr habt also bloß noch zu ziehen. Stellt sie erst 'mal auf die Füße; dann haltet sie im Gleichgewicht.«

Er wartete einen Augenblick. Da Otto und Konrad sich leise unterhielten, rief er:

»Na, ihr könntet euch auch ein bißchen beeilen ... Inzwischen bin ich ja die reinste Zielscheibe, wenn man mir wieder eine Kugel oder einen Pfeil zudenken sollte. Ist es soweit?«

Die beiden antworteten nicht.

»Na, das ist doch toll! Was gibt es denn noch? Otto ... Konrad ...«

Er sprang wieder von der Leiter herab.

»Ihr beide treibt es aber arg. Auf diese Weise werden wir morgen auch noch nicht weiter sein. So antworte doch, Otto.«

Er leuchtete ihm mit der Laterne ins Gesicht.

»Na, willst du etwa nicht? Brauchst es bloß zu sagen. Und du, Konrad? wollt ihr etwa streiken?«

Otto schüttelte verneinend den Kopf.

»Streiken ... das gerade nicht. Aber Konrad und ich, wir möchten gerne einige Erklärungen.«

»Was für Erklärungen? Worüber? Über die Frau, die hingerichtet werden soll, oder über einen von den beiden Jungen? Na, gebt euch nur keine Mühe, Kameraden. Ich habe euch ja von Anfang an gesagt, ihr müßt mit geschlossenen Augen handeln. Es gilt, etwas Großes zu verrichten, viel Blut zu vergießen. Dafür bekommt ihr aber auch das viele Geld.«

»Ja, eben darum handelt es sich«, sagte Otto.

»Sag uns genau ...«

»Das ist eure Sache ... Wir haben ja alles genau abgemacht.«

»Welches sind unsere Bedingungen?«

»Du kennst sie ja besser als ich.«

»Ganz recht, aber ich möchte sie mir noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen.«

»Mein Gedächtnis ist mir treu: Den Schatz für mich -- und auf den Schatz eine Anzahlung von zweihunderttausend Franken, die ihr zwischen euch zu teilen habt.«

»So ist es und so ist es wiederum auch nicht. Doch wir kommen noch darauf zurück. Sprechen wir zunächst einmal von dem berühmten Schatz. Wochenlang rackert man sich ab, lebt in einem Meer von Blut, begeht ein Verbrechen nach dem anderen ... und nichts wird am Horizont sichtbar.«

Vorski zuckte mit den Schultern:

»Du wirst immer dümmer, mein guter Otto. Du weißt, daß erst eine Anzahl Dinge getan werden mußten. Sie sind getan bis auf eins. In wenigen Minuten wird auch das soweit sein, und der Schatz gehört uns.«

»Was wissen wir davon?«

»Glaubst du denn, ich hätte das alles getan, wenn ich meiner Sache nicht ganz sicher gewesen wäre? Alles ist genau so geschehen, wie ich es vorausgesagt habe. So wird es auch mit dem Letzten sein, und zur bestimmten Stunde wird sich die Tür auftun.«

»Die Tür zur Hölle«, höhnte Otto. »So wenigstens nannte sie Maguennoc.«

Man mag sie so oder so nennen, sie führt zu dem Schatze, den ich heben werde.«

»Mag sein«, sagte Otto, auf den die Sicherheit Vorskis Eindruck machte. »Ich will glauben, daß Sie recht haben. Aber wer bürgt uns dafür, daß wir unser Teil bekommen werden?

»Ihr werdet euer Teil einfach deshalb bekommen, weil der Besitz des Schatzes mir so phantastische Reichtümer bringt, daß ich mir wegen lumpiger zweihunderttausend Franken keine Feinde machen werde.«

»Wir haben also Ihr Wort?«

»Ja, natürlich!«

»Ihr Wort, daß alle Klauseln unseres Vertrages erfüllt werden?«

»Natürlich! Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß Sie uns ja schon einmal gehörig reingelegt und eine Klausel des Vertrages nicht erfüllt haben.«

»Was redest du da? Weißt du, mit wem du sprichst?«

»Mit dir, Vorski.«

Vorski packte seinen Komplizen.

»Was heißt das? Du wagst mich zu verhöhnen? Mich zu duzen ... mich, mich?«

»Warum nicht, da du es gewagt hast, mich zu bestehlen.«

Vorski konnte sich kaum mehr halten und rief mit bebender Stimme:

»Nimm dich in acht, mein Lieber, denn du spielst ein gewagtes Spiel. Rede!«

»Schön!« erklärte Otto. »Außer dem Schatz und außer den zweihunderttausend Franken war unter uns vereinbart ... du hattest dabei noch die Hand zum Schwur erhoben ..., daß alles flüssiges Geld, das einer von uns im Verlauf des Unternehmens finden würde, in zwei Teile geteilt werden sollte. Die Hälfte für dich, die Hälfte für Konrad und mich. Stimmt das?«

»Das stimmt!«

»Also her damit«, sagte Otto und streckte die Hand aus.

»Was denn? Ich habe ja nichts gefunden.«

»Du lügst! Als man die Schwestern Archignat ins Jenseits beförderte, hast du bei einer von ihnen, und zwar in ihrer Bluse das Geld entdeckt, das du im Hause nicht finden konntest.«

»Was sind das für Räubergeschichten?« sagte Vorski in ziemlich verlegenem Tone.

»Das ist die reine Wahrheit.«

»Beweisen!«

»Nimm einmal das kleine zusammengebundene Päckchen heraus, das du da unter deinem Hemd festgesteckt hast.« Dabei berührte Otto mit dem Finger die Brust Vorskis und sagte noch:

»Nimm es nur raus, das kleine Päckchen, und zähle die fünfzig Tausender auf.«

Vorski antwortete nicht.

Er war starr und suchte vergebens zu erraten, wie der Gegner sich hatte diese Waffe gegen ihn verschaffen können.

»Du gestehst es also ein?« fragte Otto.

»Warum nicht«, erwiderte er. »Ich hatte die Absicht, später die Sache in Bausch und Bogen zu regeln.«

»Regle lieber gleich, das ist besser.«

»Und wenn ich mich nun weigere?«

»Das wirst du hübsch bleiben lassen.«

»Und wenn ich es doch tue?«

»Dann, Vorski, nimm dich in acht!«

»Pah, was habe ich zu fürchten? Ihr seid ja bloß zwei!«

»Wir sind zum mindesten drei.«

»Wer ist der dritte?«

»Ein Herr, der, nach dem, was Konrad mir sagt, nicht der erste beste ist ... nämlich der, der dich eben hereingelegt hat, der Mann mit dem Pfeil und dem weißen Kittel.«

Vorski merkte, daß die Partie für ihn schlecht stand. Die beiden Gefährten umdrängten ihn und setzten ihm hart zu. Er mußte nachgeben.

»Da, Räuber! Da, Bandit!« rief er und zog das kleine Paket hervor, indem er die Banknoten aufzählte.

»Nicht nötig zu zählen!« sagte Otto, der ihm das ganze Bündel entriß.

»Aber ...«

»So ist es ... die Hälfte für Konrad, die Hälfte für mich.«

»Ha, Dummkopf, Erzgauner, das sollst du mir bezahlen. Ich pfeife auf das Geld, aber mich wie einen Buschklepper im Walde zu überfallen! Ha, ich möchte nicht in deiner Haut stecken, mein Lieber.«

Er überhäufte ihn mit Schmähungen, dann fing er plötzlich an zu lachen. Es war ein bösartiges Lachen, das erzwungen klang.

»Immerhin, du hast deine Sache gar nicht so übel gemacht! Aber woher und wieso hast du das wissen können? Das mußt du mir noch erzählen. Ja? Jetzt haben wir allerdings keine Minute länger zu verlieren. Wir sind also in allen Punkten einig, nicht wahr, und ihr macht weiter mit?«

»Ohne zu murren, da Sie die Sache von der heiteren Seite auffassen«, sagte Otto, und der andere Gefährte fügte respektvoll hinzu:

»Sie haben trotzdem Lebensart, Vorski ... Ein großer Herr sind Sie!«

»Und du bist bezahlt; mach schnell! Die Sache eilt.«

Diese Sache, wie der schreckliche Mensch sich auszudrücken beliebte, wurde nun wirklich rasch zu Ende geführt. Vorski stieg wieder auf die Leiter und wiederholte seine Befehle, denen Konrad und Otto sich gehorsam fügten. Sie stellten das Opfer auf die Füße, brachten es ins Gleichgewicht und zogen dann an dem Strick.

So wurde sie mit zerrissenen Kleidern auf das Kreuz gelegt, ihre Arme rechts und links vom Körper ausgestreckt; dann wurde sie festgebunden.

Sie schien aus ihrer Betäubung nicht erwacht zu sein und gab keinen Klagelaut von sich. Vorski wollte ihr einige Worte sagen, aber er brachte sie nicht heraus. Dann versuchte er, ihren Kopf gerade zu richten. Aber auch das unterließ er, da er nicht den Mut fand, die anzurühren, die nun sterben mußte. Ihr Kopf neigte sich auf die Brust herab.

Nun kam Vorski vom Baume herunter und lallte:

»Branntwein, Otto ... du hast ja die Flasche. Ah, Teufel noch eins, eklige Geschichte.«

»Noch ist es Zeit«, wandte Konrad ein.

Vorski goß einige Schlucke herunter und rief: »Noch Zeit ... Zeit, wozu? Etwa sie zu befreien? Hör einmal zu, Konrad! Ehe ich sie frei gebe, wäre ich lieber selber an ihrer Stelle. Mein Werk im Stiche lassen? Ha, du weißt ja nicht, was das für ein Werk ist und welche Absicht ich dabei habe.« Er trank von neuem.

»Ausgezeichneter Branntwein, aber um mir so recht das Herz aufzupulvern, möchte ich lieber Rum, hast du keinen, Konrad?«

»Nur noch ein kleines bißchen.«

»Her damit.«

Sie hatten die Laterne verhängt, damit sie nicht gesehen werden konnten. Nun setzten sie sich unter den Baum und schwiegen eine Zeitlang. Aber der Alkohol war ihnen zu Kopf gestiegen, Vorski war sehr aufgeregt und schrie laut:

»Erklärungen? Ihr braucht keine. Ihr braucht ihren Namen nicht zu wissen. Die letzten Herzschläge des Opfers, das man den Göttern darbringt, bedeuten erhabene Augenblicke. Hört auf diese Herzschläge, ihr beiden da!«

Er kletterte wieder auf die Leiter und versuchte, die Herzschläge des erschöpften Opfers wahrzunehmen. Aber Veronikas Kopf, der sich zur Seite geneigt hatte, verhinderte ihn, sein Ohr an ihre Brust zu legen. Ein ungleichmäßiges heiseres Stöhnen unterbrach allein die Stille.

Er sagte ganz leise:

»Veronika, hörst du mich? ... Veronika ... Veronika ...« Dann nach kurzer Unterbrechung fuhr er fort:

»Du mußt nämlich wissen ... ja, was ich da tue, darüber bin ich selber entsetzt, aber das geschieht, weil es ... du erinnerst dich an die Weissagung? Deine Frau wird am Kreuze sterben, dein eigener Name Veronika deutet ja darauf hin. Erinnere dich doch, daß die heilige Veronika Christi Antlitz mit einem Leinentuch abwischte und daß auf diesem Leinentuch das heilige Antlitz des Erlösers zurückblieb ... Veronika, du verstehst mich doch, Veronika?«

Eiligst kam er die Leiter herab, riß Konrad die Rumflasche aus den Händen und leerte sie mit einem Zuge.

Nun geriet er in eine Art Delirium, worin er einige Augenblicke lang sich in einer Sprache ausdrückte, die seine Gefährten nicht verstanden. Darauf begann er den unsichtbaren Feind herauszufordern, Schmähungen und Lästerungen gegen die Götter auszustoßen:

»Vorski ist der Stärkere. Vorski beherrscht das Schicksal. Vorski wird mit begeisterten Freudenrufen empfangen werden. Einer, den ich nicht kenne, wird ihm mit Palmen und Segen entgegenkommen. Er bereite sich immer darauf vor! Er tauche auf aus der Dunkelheit und steige aus der Hölle zu Tage! Hier ist Vorski. Bei Glockenklang und Hallelujagesang soll sich angesichts des Himmels die Weissagung erfüllen, während die Erde sich öffnet und Flammensäulen hervorstößt!«

Darauf schwieg er einen Augenblick wie in Erwartung der Zeichen, die er vorhersagte.

Vom Baum herab klang das Röcheln der Sterbenden. In der Ferne grollte das Gewitter, schwarze Wolken wurden von Blitzen zerrissen. Man hätte meinen können, die Natur wollte auf den Ruf des Banditen antworten.

Seine großsprecherischen Reden, die schauspielerischen Gesten machten Eindruck auf die Gefährten. Otto murmelte:

»Er macht mir Furcht.«

»Es ist der Rum«, meinte Konrad.

»Und ich sage euch beiden, ihr werdet Zeugen außerordentlicher Dinge sein. Otto und Konrad, bereitet euch vor: Die Erde wird erbeben, und an der Stelle, wo Vorski den Gottesstein erlangen wird, wird eine Feuersäule sich zum Himmel erheben.«

»Er weiß nicht mehr, was er redet«, meinte Konrad.

»Da ist er schon wieder oben auf der Leiter«, flüsterte Otto. »Er wird schon noch einen Pfeil abkriegen.«

Die Erregung Vorskis kannte keine Grenzen mehr. Das Ende nahte. Von den Leiden ermattet, lag das Opfer im Todeskampf.

Erst ganz leise, damit sie ihn nicht hören konnte, dann mit lauterer Stimme sagte Vorski: »Veronika, du vollendest deine Sendung ... Ruhm sei dir. Ein Teil meines Triumphes kommt dir zu. Ruhm sei dir! Vernimmst du nicht bereits das Grollen des nahenden Donners? Meine Feinde sind beseitigt, du hast keine Hilfe mehr zu erwarten. Es ist der letzte Schlag deines Herzens, deine letzte Klage. Es ist dein Eli Eli Lama Sabathani; mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Er lachte wie ein Wahnsinniger. Darauf trat Schweigen ein, das Grollen des Donners ließ nach. Vorski neigte sich plötzlich, und man vernahm von der obersten Sprosse der Leiter folgendes:

» Eli Eli Lama Sabathani. Der Tod hat sein Werk getan. Die letzte der vier Frauen ist gestorben. Veronika ist gestorben.«

Er schwieg von neuem, dann heulte er laut: »Veronika ist tot! Veronika ist tot!«

Und abermals trat Schweigen ein, das längere Zeit anhielt.

Da erbebte mit einem Male die Erde von Zuckungen, die aus den Eingeweiden der Erde selbst kamen, und laut hin erscholl das Echo über Wälder und Hügel.

Und fast zur selben Zeit stieg an der anderen Seite des von den Eichen gebildeten Halbkreises ein Feuerstrahl empor zum Himmel mit einem Wirbel von Rauch, aus dem rote, gelbe und bläuliche Flammen zischten.

Vorski sprach kein Wort. Seine Gefährten waren erstarrt. Endlich stammelte einer von ihnen:

»Es ist die alte verfaulte Eiche, die der Blitz schon einmal verbrannt hat.«

Obwohl der Brand fast ebenso schnell erlosch, hatten doch alle drei den Eindruck, als ob die alte Eiche ganz und gar verkohlt wäre und Flammen sowie vielfarbige Dämpfe ausströme.

»Hier ist der Eingang, der zum Gottesstein führt«, sagte Vorski ernst. »Das Schicksal hat gesprochen, wie ich es euch verkündet habe. Und zwar hat es auf meinen Befehl gesprochen, der ich sein Diener war, und der jetzt sein Herr ist.«

Mit der Laterne in der Hand stürzte er nach vorn. Zu ihrer Überraschung sahen sie aber, daß keine Spur von Brand an dem Baum zu sehen war und daß die vielen trockenen Blätter nicht angekohlt waren.

»Wiederum ein Wunder,« sagte Vorski, »alles hier ist ein unbegreifliches Wunder.«

»Was sollen wir tun?« fragte Konrad.

»In den Gang eindringen, der uns gewiesen wurde. Bringe die Leiter, Konrad, und grabe mit der Hand in dem Blätterhaufen. Der Baum ist hohl und wir werden ja sehen, ob ...«

»Ein Baum mag noch so hohl sein,« erwiderte Otto, »so hat er doch immerhin Wurzeln, und ich kann mir nicht denken, daß durch die Wurzeln hindurch ein Gang führt.«

»Schaff die Blätter beiseite, Konrad.«

»Nein!« antwortete Konrad.

»Wieso nein? ... Was soll das heißen?«

»Erinnern Sie sich an Maguennoc? Erinnern Sie sich, daß er ebenfalls den Gottesstein hat berühren wollen und daß er infolgedessen sich die Hand hat abhacken müssen?«

»Aber das ist ja gar nicht der Gottesstein«, rief Vorski.

»Was wissen wir davon? Maguennoc sprach immer von der Pforte zur Hölle.«

Vorski zuckte mit den Schultern: »Und du Otto, du hast auch Furcht?«

Otto antwortete nicht, und Vorski hatte ebenfalls keine Eile, die Probe aufs Exempel zu machen, denn er sagte:

»Na, es eilt ja nicht. Warten wir bis zum nächsten Morgen, da werden wir den Baum mit Beilhieben abhacken und am besten sehen, was wir zu tun haben und wie wir vorgehen müssen.«

Und bei diesem Entschluß blieben sie. Da aber das Zeichen auch noch von anderen gehört worden sein konnte und man sich nicht überraschen lassen durfte, so beschlossen sie, gegenüber dem Baum, unter dem Schutz, den ihnen die ungeheure Platte des Feen-Dolmens bot, sich niederzulassen.

»Otto!« befahl Vorski, »du holst jetzt aus der Abtei etwas zu trinken und bringst ein Beil sowie Stricke und alles sonst noch Notwendige mit.«

Es fing an, heftig zu regnen. Sie ließen sich nun unter dem Dolmen nieder, und jeder übernahm abwechselnd die Wache, während die beiden anderen schliefen. In dieser Nacht ereignete sich weiter nichts Besonderes. Der Sturm war von großer Heftigkeit. Man hörte das Toben der Wogen. Dann wurde allmählich alles ruhig. Bei Tagesanbruch fällten sie die Eiche, die bald, von Stricken gezogen, sich umlegte.

Da bemerkten sie, daß im Innern des Baumes zwischen den verfaulten Holzteilen eine Art Kanal angebracht war, der bis zur Mitte eines aus Sand und Stein entstandenen Blockes rings um die Wurzeln lief.

Mit Hilfe einer Hacke legten sie das Terrain frei. Bald kamen Stufen zum Vorschein, und sie sahen, daß längs einer Mauer senkrecht eine Treppe hinab in die Dunkelheit führte. Dahin leuchteten sie mit der Laterne. Eine Grotte öffnete sich unter ihnen.

Vorski wagte sich zuerst vorwärts. Die anderen folgten ihm vorsichtig.

Die Treppe bestand anfangs aus Erdstufen, die von Kieselsteinen gehalten waren, dann aber war sie in den Felsen selbst eingehauen. Die Grotte, zu der sie auf diese Weise kamen, hatte nichts Merkwürdiges und schien eher ein Zugangsraum. Sie stand tatsächlich mit einer Art gewölbten Krypta in Verbindung, deren Mauerwerk aus roh behauenen Steinen bestand. Rings herum standen wie unförmige Standbilder zwölf kleine Menhirs, von denen ein jeder das Skelett eines Pferdekopfes trug. Vorski berührte einen dieser Köpfe. Der Kopf zerfiel sofort in Staub.

»Seit zwanzig Jahrhunderten ist keiner in diese Gruft gedrungen«, sagte er. »Wir sind die ersten Menschen, die diesen Boden betreten, die ersten, die die Spuren der Vergangenheit schauen.« Mit wachsender Begeisterung fuhr er fort:

»Es war die Totenkammer eines großen Häuptlings. Mit ihm begrub man hier seine Lieblingspferde und seine Waffen ... Seht! Da sind auch Beile und ein Messer aus Stein ... wir finden auch Spuren alter Bestattungsbräuche vor, wie aus diesem Kohlenhaufen und diesem versteinerten Knochen hervorgeht ... Ich bin der erste, der hier eindringt. Ich war darauf gefaßt. Eine entschlummerte Welt erwacht bei meinem Nahen.«

Konrad unterbrach ihn.

»Es gibt noch einen anderen Zugang, eine andere Verbindung; man sieht das an dem hellen Schein da hinten.«

Ein schmaler Gang führte sie tatsächlich nach einem anderen Raum, durch den sie zu einem dritten Saale gelangten.

Die drei Krypten waren ganz gleichartig. Dasselbe Mauerwerk, dieselben Steine, dieselben Pferdegerippe.

»Drei Gräber von Häuptlingen«, sagte Vorski. »Es ist klar, daß sie vor dem Grabe eines Königs liegen und daß diese Toten die Wächter dieses Königs waren, nachdem sie im Leben seine Gefährten gewesen sind. Das wird uns gleich die nächste Krypta zeigen. Ich werde es sofort erfahren. Vorski ist seinem Ziel nahe, und er braucht nur noch die Hand auszustrecken, um für alle Mühe königlich belohnt zu werden. Der Gottesstein ist da. Während vieler Jahrhunderte hat man das Geheimnis der Insel lösen wollen, und niemandem ist das geglückt. Nun kommt Vorski, und der Gottesstein gehört ihm. Er zeige sich mir und gebe mir die verheißene Macht! Zwischen diesem Steine und Vorski liegt nichts als mein Wille. Und ich will! Der Prophet ist aus der Finsternis erstanden. Hier ist er! Wenn in diesem Königreiche der Toten ein Gespenst den Auftrag hat, mich zum göttlichen Stein zu führen und mir die goldene Krone aufs Haupt zu setzen, so trete dieses Gespenst hervor! Hier steht Vorski!«

Er ging in die Gruft. Dieser vierte Saal war viel größer und bildete eine Art Dom mit eingedrückter Kuppel. Mitten in dieser Senkung war ein kreisförmiges Loch, das nicht viel breiter war, als um einem kleinen Rohr Raum zu geben. Durch dieses fiel eine etwas gedämpfte Lichtsäule, die am Boden einen genauen Kreis beschrieb. Inmitten dieses Kreises stand ein Block aus aneinandergelegten Steinen. Aus diesem Block heraus ragte ein Metallstab.

Sonst unterschied sich die Krypta nicht von den ersten Krypten. Wie diese war sie ausgestattet mit Menhirs und Pferdeköpfen, und ebenso zeigte sie Spuren von Opfern.

Vorski ließ den Metallstab nicht aus den Augen. Seltsam: dieses Metall glitzerte, kein Staub schien es zu bedecken. Vorski streckte die Hand aus.

»Nein, nein«, rief Konrad lebhaft.

»Warum?«

»Das hat Maguennoc vielleicht auch angefaßt, und das hat ihm die Hand verbrannt.«

»Du bist ja verrückt.«

»Ja, aber ...«

»Ich, ich fürchte mich vor nichts«, sagte Vorski und griff nach dem Gegenstande. Es war ein ziemlich grob gearbeitetes Szepter aus Blei, das aber immerhin eine gewisse künstlerische Hand verriet. Auf seinem Stiel sah man eine Schlange, die teils in das Blei eingegraben war, teils reliefartig daraus hervorragte.

Der riesige Kopf dieser Schlange bildete den Griff, und dieser Griff war ganz und gar mit Silbernägeln und kleinen durchsichtigen, grünen Steinen verziert, die wie Smaragde glänzten.

»Ist das der Gottesstein?« murmelte Vorski.

Er nahm den Gegenstand in die Hand und betrachtete ihn mit respektvoller Furcht von allen Seiten.

Da bemerkte er, daß der Griff unmerklich wackelte. Er fingerte daran herum, drehte ihn nach rechts, nach links, und schließlich gab der Griff nach:

Der Kopf der Schlange ließ sich abschrauben. In seinem Innern lag ein Stein ... ein kleiner Stein von rötlicher Farbe mit gelben Adern, die Goldadern zu sein schienen.

»Das ist er! Das ist er!« rief Vorski außer sich.

»Fassen Sie ihn nicht an«, warnte von neuem Konrad.

»Woran sich Maguennoc verbrannt hat, verbrennt sich Vorski nicht.«

Und aus Übermut behielt er den geheimnisvollen Stein in der Hand, die er mit aller Kraft zudrückte.

»Er soll mich nur verbrennen, ich bin es zufrieden. In mein Fleisch soll er dringen, ich werde glücklich sein.«

Konrad gab ihm ein Zeichen und legte den Finger an den Mund.

»Hörst du etwas?«

»Ja«, sagte jener.

»Ich auch«, bestätigte Otto.

Tatsächlich vernahm man ein rhythmisches, gleichförmiges Geräusch von Tönen, eine Art merkwürdiger Musik.

»Das ist ganz hier in der Nähe«, meinte Vorski. »Es ist, wie wenn es hier aus dem Saale käme.«

Es kam tatsächlich aus dem Saale. Es war ein Geräusch, das große Ähnlichkeit mit Schnarchen hatte.

Konrad, der zuerst diese Behauptung aufgestellt hatte, war auch der erste, der darüber lachte. Aber Vorski sagte zu ihm:

»Wahrhaftig, ich glaube, du hast recht, wie Schnarchen klingt es. Ist denn noch jemand hier?«

»Es kommt von dieser Seite hier,« sagte Otto, »aus dieser schattigen Ecke.«

Die Helligkeit ging nicht über die Menhirs hinaus. Hinter denselben befanden sich lauter kleine Kapellen. Vorski ließ in eine dieser Kapellen die Laterne hineinleuchten.

Da rief er erstaunt aus: »Jemand ... ja, es ist jemand da ... seht doch.«

Seine beiden Begleiter wagten sich weiter vor. Auf Schuttsteinen, die in einer Ecke angehäuft lagen, schlief ein Mann, ein Greis mit weißem Bart und langen weißen Haaren. Die Haut seines Gesichtes und seiner Hände war von tausend Runzeln gefurcht. Dunkelblaue Ringe lagen um seine geschlossenen Augenlider. Mindestens ein Jahrhundert mochte über ihn dahingegangen sein. Ein geflickter Kittel fiel ihm bis auf die Füße herab. Um seinen Hals hatte er einen bis zur Brust hängenden Rosenkranz aus den heiligen Kugeln, die die Gallier Schlangeneier nannten und die in Wahrheit kleine Seeigel sind. In Reichweite seiner Hand lag ein schönes Beil, das allerlei unleserliche Schriftzeichen aufwies.

Auf der Erde lagen in Reih und Glied messerartig geschärfte Kiesel, große platte Ringe, zwei Ohrgehänge aus grünem Jaspis und zwei Halsketten aus blauer Emaille.

Der Greis schnarchte noch immer.

Vorski murmelte: »Das Wunder dauert fort ... Es ist ein Priester, ein Priester von ehemals aus der Zeit der Druiden.«

»Und? Und?« fragte Otto.

»Nun -- er wartet auf mich.«

Konrad gab einen brutalen Rat:

»Ich schlage vor, daß man ihm mit seinem Beil den Schädel spaltet.«

Doch Vorski wurde wütend.

»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, so bist du selber des Todes!«

»Wenn es aber vielleicht ein Feind ist ... einer von denen vielleicht, die uns gestern abend verfolgt haben. Erinnern Sie sich doch an die Gestalt im weißen Kittel.«

»Du bist und bleibst ein Idiot. Glaubst du, daß er bei seinem Alter uns derartig hat Beine machen können?«

Er bückte sich und ergriff den Greis sanft beim Arm.

»Wacht auf, wacht auf ... ich bin es.«

Keine Antwort, der Mann erwachte nicht.

Vorski ließ nicht nach.

Der Mann auf seinem Bett aus Kieselsteinen bewegte sich ein wenig, murmelte einige unverständliche Worte und schlief dann weiter.

Ein wenig ungeduldig erneuerte Vorski seinen Versuch, doch jetzt etwas energischer und mit lauter Stimme:

»Nun, wir können uns hier doch nicht länger aufhalten; aufgewacht!«

Er versetzte dem Greis einen tüchtigen Stoß.


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