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XVI. Der Grabstein der Könige von Böhmen

Don Luis hatte sich nach diesen Eingangsworten unterbrochen und sah mit Behagen, was für eine Wirkung sie hervorgebracht hatten. Der Kapitän Belval, der seinen Freund kannte, lachte herzhaft. Stephan blieb ernst. Allesgut hatte sich nicht gerührt.

Don Luis Perenna fuhr fort: »Zunächst, meine Damen und Herren, muß ich Ihnen gestehen, daß, wenn ich so genaue Daten angegeben habe, dies nur geschah, um Sie ein wenig zu verblüffen. Im Grunde wüßte ich Ihnen nicht genau aufs Jahrhundert den Zeitpunkt anzugeben, in dem sich die Begebenheit zutrug, die ich die Ehre haben werde, Ihnen zu erzählen. Was ich aber versichern kann, ist, daß sie in dem Lande Europas vor sich ging, das man heute Böhmen nennt, und zwar an dem Orte, wo gegenwärtig die kleine Industriestadt Joachimsthal steht. Ich hoffe, das genügt wohl. Am Morgen jenes Tages also herrschte großes Leben in einem jener Keltenstämme, die seit ein oder zwei Jahrhunderten zwischen den Ufern der Donau und den Quellen der Elbe in den herzynischen Wäldern wohnten. Mit Hilfe ihrer Weiber waren die Krieger eben dabei, ihre Zelte zusammenzulegen, die heiligen Äxte, ihre Bogen, Pfeile sowie alle Werkzeuge aus Bronze und Zinn auf Pferde und Ochsen zu packen. Die Häuptlinge kamen herbei und beaufsichtigten das Werk. Es herrschte weder Lärm noch Unordnung. Man brach frühzeitig nach einem Nebenfluß der Elbe, der Eger, auf, wo man am Abend desselben Tages anlangte. Dort warteten bereits einige hundert Krieger. Ihre bereitstehenden Barken fielen durch ihre Größe und Pracht der Ausstattung auf. Ein langes, ockerfarbiges Segel war von einem Ende bis zum anderen aufgespannt. Auf die hinterste Bank stieg der oberste Häuptling, oder wenn Sie wollen der König, und hielt eine Ansprache, die ich ausführlich wiederzugeben mir ersparen werde, weil ich meine eigene Rede nicht verkürzen will. Der Inhalt war in kurzen Worten etwa folgender: ›Der Stamm wanderte aus, um der Begehrlichkeit der benachbarten Völker zu entgehen. Es ist immer eine traurige Sache, die Stätte zu verlassen, an der man gelebt hat. Aber was lag den Stammesangehörigen daran, da sie ja ihre kostbarsten Güter mit sich führten, das heilige Erbe ihrer Ahnen, die Gottheit, die sie schützte und die aus ihnen furchtbare Krieger machte, mit einem Worte den Stein, der das Grab ihres Königs verschloß.

Und der Häuptling zog mit feierlicher Geste das ockerfarbige Segel beiseite und legte einen Granitblock in Form einer Platte von ungefähr zwei Metern Länge und einem Meter Breite frei. Die Farbe dieser Platte war düster, und einige Goldkörner leuchteten aus ihrer Masse hervor.

Ein Schrei erhob sich aus der Menge der Männer und Weiber. Alle fielen mit ausgestreckten Armen platt auf den Bauch, indem sie die Nase in den Staub steckten. Der Häuptling der Häuptlinge ergriff ein metallenes Szepter mit kostbarem Griff, das auf dem Granitblock lag, schwenkte es in der Luft und sprach: ›Der allmächtige Stab soll mich nicht verlassen, bevor der Wunderstein in Sicherheit ist. Der allmächtige Stab ist aus dem Wunderstein entstanden, er enthält auch das Feuer des Himmels, das Leben oder Tod gibt. Wenn der Wunderstein das Grab meiner Väter verschloß, so wurde der allmächtige Stab nicht mehr aus ihren Händen gelegt bis zu dem Tage des Unglücks oder des Sieges. Das Feuer des Himmels führe uns. Der Gott der Sonne erleuchte uns!‹

Sprachs, und der ganze Stamm zog ab.«

Don Luis machte eine Pause und wiederholte dann mit Selbstzufriedenheit:

»Sprachs, und der ganze Stamm zog ab.«

Patrice Belval amüsierte sich sehr, und auch Stephan fing die Geschichte an Spaß zu machen. Aber Don Luis unterbrach sie:

»Da ist nichts zu lachen, alles das ist sehr ernst. Es ist keine Geschichte für kleine Kinder, die an Märchen und Zaubereien glauben, sondern eine wirkliche Geschichte, deren Einzelheiten, wie Sie gleich sehen werden, Anlaß zu kostbaren, natürlichen und gewissermaßen sogar auch wissenschaftlichen Aufklärungen geben werden. Jawohl, wissenschaftlichen Aufklärungen. Ich scheue das Wort nicht, meine Damen und Herren ... wir befinden uns hier auf wissenschaftlichem Boden, und Vorski selbst wird seinen Skeptizismus noch zu bereuen haben.«

Don Luis tat so, als wenn er ein zweites Glas Wasser herunterschluckte, dann fuhr er fort:

»Wochen- und monatelang verfolgte der Stamm den Lauf der Elbe, und eines Abends gegen zehn Uhr kam er zur Küste des Meeres, zu dem Lande, das später das Land der Friesen heißen sollte. Daselbst blieb er Wochen und Monate, ohne die nötige Sicherheit zu finden, worauf er sich entschloß, weiterzuziehen.

Dieses Mal war es eine Reise zur See. Dreißig Barken gingen in See. Beachten Sie wohl die Zahl dreißig, die der Zahl der Familien entsprach, aus denen der Stamm bestand. Wochen und Monate irrten sie von Küste zu Küste, ließen sich erst in Skandinavien, dann bei den Angelsachsen nieder, wurden vertrieben und segelten weiter. Und ich sage Ihnen, es war wirklich ein seltsames, rührendes und grandioses Schauspiel, wie dieser Stamm umherirrte und den Grabstein seiner Könige mit sich führte, für den er einen sicheren, unzugänglichen und endgültigen Zufluchtsort suchte, wo er sein Idol verbergen und vor feindlichen Angriffen schützen konnte.

Die letzte Etappe war Irland. Nachdem sie daselbst das grüne Erin ein halbes Jahrhundert oder vielleicht sogar ein Jahrhundert lang bewohnt und ihre Sitten bei der Berührung mit weniger wilden Völkerschaften bereits ein wenig gemildert hatten, empfing der Enkel oder Urenkel des großen Häuptlings, der nun selbst ein großer Häuptling geworden war, einen der Sendboten, die er in die benachbarten Länder geschickt hatte. Dieser kam vom Kontinent. Er hatte einen wunderbaren Zufluchtsort entdeckt. Es war dies eine fast unzugängliche Insel, der dreißig Felsen vorgelagert waren und auf der dreißig granitene Denkmäler standen.

Dreißig! Eine bedeutsame Zahl! Wie sollte man darin nicht das Walten geheimnisvoller Gottheiten erkennen? Die dreißig Barken wurden wieder flott gemacht, und die Expedition begann.

Sie hatte Erfolg. Man nahm die Insel im Sturm. Man rottete die Eingeborenen aus. Der Stamm ließ sich dort nieder, und der Grabstein des Königs von Böhmen wurde an seinen Platz gestellt, nämlich an die Stelle, wo er noch heute liegt und die ich dem Kameraden Vorski gezeigt habe. An dieser Stelle seien mir eine kleine Parenthese und einige historische Bemerkungen von höchster Wichtigkeit erlaubt. Ich werde mich kurz fassen.

Die Insel Sarek sowie der östliche Teil Europas war seit Tausenden von Jahren von den Ligurern, unmittelbaren Nachkommen der Höhlenmenschen, bewohnt, deren Sitten und Gewohnheiten sie beibehalten hatten. Sie waren trotz allem tüchtige Bauleute, die zur Zeit des Mauersteins und unter dem Einfluß der großen Zivilisationen des Ostens ihre mächtigen Granitblöcke aufgerichtet und daraus gewaltige Grabstätten erbaut hatten.

Das fand unser Stamm also dort vor und benutzte so gut es ging ein System von Höhlen und natürlichen Grotten, die noch von geduldiger Menschenhand ausgebaut waren. Die Gruppe der riesigen Denkmäler gab dem Aberglauben der Kelten phantastische Anregung.

So beginnt nach der ersten Phase der Wanderschaft für den Gottesstein eine Zeit der Ruhe und der Verehrung, die wir die Druidenzeit nennen wollen. Sie dauerte etwa tausend bis fünfzehnhundert Jahre. Der Stamm verschmilzt mit den Nachbarstämmen und lebt wahrscheinlich unter dem Schutz irgendeines bretonischen Königs. Nach und nach aber war die Macht der Häuptlinge an die Priester übergegangen, und diese Priester, das heißt also die Druiden, gewannen ein Ansehen, das im Laufe der folgenden Generationen noch zunahm.

Ich behaupte, daß dieses Ansehen ihnen von dem Wunderstein kam. Sie waren ja die Priester einer allgemeinen anerkannten Religion und die Erzieher der gallischen Jugend. Sie befolgten die Bräuche der Zeit, sie leiteten die Menschenopfer, überwachten das Einsammeln der Mistel, der Verbene und aller anderen magischen Pflanzen. Vor allem aber waren sie auf der Insel Sarek Wächter und Herren des Steins, der Leben und Tod gibt. Über dem unterirdischen Opfersaale stehend, war er damals ohne Zweifel im Freien sichtbar, und ich habe allen Anlaß zu glauben, daß zu dieser Zeit der Feen-Dolmen, den wir hier sehen, an der Stelle stand, die man den blühenden Kalvarienberg nannte und der den Gottesstein beschattet. Dort knieten die Kranken, die Schwachen und die gebrechlichen Kinder nieder und erlangten ihre Gesundheit wieder. Auf der heiligen Steinplatte wurden unfruchtbare Frauen fruchtbar, auf der heiligen Platte fühlten Greise ihre Kräfte zurückkehren.

Nach meiner Meinung spielt dieser heilige Stein in der ganzen legendären und fabelreichen Vergangenheit der Bretonen eine Rolle.

Hier ist das Zentrum, von dem aller Aberglauben, aller Glauben, alle Angst und alle Hoffnung ausgeht. Aus den Eigenschaften des magischen Szepters, das der Erzdruide schwang und das nach seinem Willen das Fleisch verbrannte oder die Wunden heilte, entstehen unwillkürlich die schönen Geschichten, die Geschichten der Ritter der Tafelrunde und von Merlin, dem Zauberer. Er ist der Kern aller Übel, das Herz aller Symbole. Er ist das Mysterium der Klarheit, das große Rätsel und die große Lösung.«

Don Luis hatte diese letzten Worte mit einer gewissen Begeisterung ausgesprochen; er lächelte:

»Reg dich nur nicht auf, Vorski, wir wollen uns unsere Begeisterung für die Erzählung deiner Verbrechen aufheben. Vorläufig sind wir noch auf dem Höhepunkt der druidischen Epoche, jener Epoche, die noch lange Jahrhunderte fortdauerte und nach der der Wunderstein von Zauberern und Sehern ausgebeutet wurde. So kommen wir also zur dritten Periode, zur religiösen, das heißt wahrscheinlich zum fortschreitenden Verfall alles dessen, was den Reichtum Sareks ausmachte, wo Pilgerzüge und Gedenkfeste und dergleichen stattfanden.

Die Kirche konnte sich tatsächlich mit diesem großen Fetischdienst nicht einverstanden erklären. Sobald sie zur Macht gelangte, mußten sie gegen den Granitblock ankämpfen, der so viel Gläubige anlockte und eine götzendienerische Religion fortleben ließ. Der Kampf war ungleich, die Vergangenheit unterlag. Der Dolmen wurde dahin geschafft, wo wir jetzt sind. Der Stein des Königs von Böhmen wurde in eine Erdschicht eingegraben, und so erhob sich ein Kalvarienberg an der Stelle der ketzerischen Wundertaten.

Und nun breitete sich darüber das Vergessen.

Verstehen wir uns recht, der Brauch geriet in Vergessenheit, aber nicht der Gottesstein. Man wußte nicht mehr, wo er war. Sogar nicht, was das war. Doch man hörte nicht auf, von ihm zu sprechen und an das Vorhandensein einer Sache zu glauben, die man den Gottesstein nannte. Von Mund zu Mund, von Generation zu Generation erzählte man sich die wunderbaren und schrecklichen Geschichten, die sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernten und eine immer allgemeiner werdende Legende bildeten.

Da nun die Idee in der Erinnerung fortbestand, so war es nur logisch, daß von Zeit zu Zeit irgendein Neugieriger die Wahrheit zu erkunden suchte. Zu diesen Neugierigen gehörte der Frater Thomas vom Benediktinerorden, um die Mitte des 15. Jahrhunderts, und ein gewisser Maguennoc, der heutzutage eine wichtige Rolle gespielt hat. Frater Thomas ist ein Dichter, von dem wir nichts Genaueres wissen. Zugleich auch ist er ein naiver, nicht talentloser Zeichner, der uns eine Art Meßbuch hinterlassen hat, worin er seinen Aufenthalt in der Abtei Sarek beschrieben und die dreißig Dolmen der Insel gezeichnet hat. Das Ganze begleitete er mit religiösen Zitaten und Erbauungssprüchen und mit Weissagungen in der Art des Nostradamus. Dieses Meßbuch entdeckte Maguennoc. Es enthielt die berühmte Seite, die sich auf die Frauen am Kreuz und auf die Prophezeiung bezog. Ich selbst habe dieses Meßbuch heute nacht in Maguennocs Kammer durchgesehen.

Ein seltsamer Mensch, dieser Maguennoc, so eine Art verspäteter Nachkomme einstiger Hexenmeister. Ich habe den Verdacht, daß er mehr als einmal in der Rolle von Gespenstern aufgetreten ist. Sie können überzeugt sein, daß der Druide im weißen Kittel, den man am sechsten Tage nach Vollmond Misteln erntend gesehen haben wollte, kein anderer als Maguennoc war. Er kannte auch all die guten Mittel, die heilenden Pflanzen, und wußte, wie man das Erdreich bearbeiten mußte, um die riesengroßen Blumen hervorzubringen. Es ist kein Zweifel, daß er die Totengrüfte und den Opfersaal durchforscht hat, daß er den magischen Stein entwendet, der im Griff des Szepters eingeschlossen war, und daß er durch dieselbe Öffnung wie wir in die Krypten eindrang und die Öffnung dann wohl mit Sand und Kiesel verschlossen hatte. Er gab Herrn von Hergemont Kenntnis von der Seite des Meßbuches. Hat er ihm nun auch das Resultat seiner letzten Erkundungen mitgeteilt? Und was wußte überhaupt Herr von Hergemont darüber? Noch eine andere Persönlichkeit taucht auf, die sich fortan mit der Angelegenheit beschäftigt und die größte Aufmerksamkeit verdient. Es ist dies ein Sendbote, vom Schicksal dazu berufen, das Jahrhunderte alte Rätsel zu lösen und die Befehle geheimnisvoller Mächte auszuführen, um sich dann den Gottesstein in die Tasche zu stecken ... Ich nenne ihn Vorski.«

Don Luis goß ein drittes Glas Wasser herunter.

»Otto,« sagte er, »gib ihm auch zu trinken, wenn er Durst hat. Hast du Durst, Vorski?«

Vorski am Baum schien am Ende seiner Kräfte angelangt. Stephan und Patrice verwendeten sich von neuem für ihn, da sie eine Katastrophe befürchteten.

»Nein doch, nein,« rief Don Luis, »er ist noch in ganz guter Verfassung und wird schon aushalten, bis ich mit meiner Erzählung zu Ende bin, schon aus Neugierde ... nicht wahr, Vorski, das macht dir Spaß?«

»Räuber, Mörder«, stieß der Elende heraus.

»Also, du weigerst dich immer noch, den Versteck von Franz anzugeben?«

»Mörder, Bandit!«

»Laß nur gut sein, mein Junge ... Wie es dir beliebt! So ein bißchen Leiden fördert die Gesundheit.«

Dann fuhr Don Luis in seiner Erzählung fort:

»Vor ungefähr fünfunddreißig Jahren gelangte eine Frau von großer Schönheit, die aus Böhmen kam, aber ungarischen Ursprungs war, zu hohem Ansehen als Wahrsagerin, Kartenlegerin und Medium. Diese Frau wurde die Geliebte eines bulgarischen Fürsten, der in geistiger Umnachtung Anspruch auf den bulgarischen Thron zu haben glaubte. Aus dieser Verbindung war ein junges Ungeheuer entstanden namens Alexis Vorski, das mit seiner Mutter nicht weit von dem Dorfe Joachimsthal in Böhmen wohnte und später von ihr in der Kunst der Suggestion, der Hellseherei und des Taschendiebstahls unterrichtet wurde. Ein Charakter von unerhörter Gewalttätigkeit, aber schwachem Geist, im Wahn aller möglichen Halluzinationen und nervösen Zustände glaubt er an Hexerei, Weissagungen, Träume und okkulte Mächte. Er nahm Legenden für Geschichten und Lügen für Wirklichkeit. Eine der zahlreichen Sagen in diesen Bergen hatte es ihm besonders angetan. Diese erinnerte an die märchenhafte Macht eines Steines, der eines Nachts von bösen Geistern geraubt worden war und der eines Tages von dem Sohne eines Königs wieder zur Stelle gebracht werden sollte. Die Bauern zeigen noch heutzutage den leeren Raum, den dieser Stein am Abhang eines Hügels zurückgelassen hat.

›Der Sohn eines Königs, das bist du,‹ sagte ihm seine Mutter, ›und wenn du den geraubten Stein wiederfindest, so wirst du selber König werden.‹

Außer dieser albernen Prophezeiung verkündete die Böhmin noch eine andere. Danach sollte die Gattin ihres Sohnes am Kreuze sterben und er selbst von der Hand eines Freundes fallen. Diese Weissagungen hatten auf Vorski, als die Schicksalsstunde nahte, den größten Einfluß.

Vorski ist mit Veronika von Hergemont verheiratet. Er lebte noch mit einer anderen Frau zusammen, mit Elfriede, der Genossin seiner Verbrechen. Es existiert ein Sohn Reinhold aus dieser Ehe, wie ein anderer Sohn Franz aus der Ehe mit Veronika von Hergemont vorhanden ist. Elfriede folgte ihm mit Reinhold und verbirgt sich in den unterirdischen Zellen von Sarek. Während er selbst als Gefangener in ein Konzentrationslager kommt, hat sie den Auftrag, Herrn von Hergemont auszuspionieren und so bis zu Veronika von Hergemont zu gelangen. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde die Elende so handelt. Es ist wohl blinde Ergebenheit, Furcht vor Vorski, der Hang zum Bösen und auch der Haß gegen die Rivalin. Reden wir nur von der Rolle, die sie gespielt hat, ohne uns weiter damit zu beschäftigen, wie sie drei lange Jahre unter der Erde mit ihrem Sohn hat leben können, die sie nur des Nachts verließ, um Nahrung zu stehlen. Hier wartete sie geduldig auf den Tag, da sie mit ihrem Herrn und Meister wieder zusammentreffen würde.

Es ist mir unbekannt, wie Vorski und Elfriede miteinander in Verbindung bleiben konnten, aber ich weiß mit Bestimmtheit, daß Vorski mit zwei Schicksalsgenossen aus dem Konzentrationslager entwich. Die Reise war nicht allzu schwer. An jeder Wegkreuzung war ein Pfeil nebst einer Nummer und den Initialen V. v. H. angebracht, die ihnen den Weg zeigten. Von Zeit zu Zeit fand er in einer Hütte oder unter einem Stein oder unter einem Heuschober Lebensmittel, so kam er nach und nach bis zum Strand von Beg-Meil.

Dort holten Elfriede und Reinhold in Honorines Benzinboot eines Nachts die Flüchtlinge ab und brachten sie in die Druidenzellen unter der schwarzen Heide.

Seltsamerweise hatte Vorski bis zum ersten Tage seines Aufenthalts auf Sarek noch niemals von dem Geheimnis der Insel sprechen gehört. Erst Elfriede erzählte ihm das Geheimnis des Gottessteins. Sie können sich vorstellen, welchen Eindruck auf einen Mann wie Vorski eine solche Mitteilung machte. War der Gottesstein nicht jener Wunderstein, der auf dem Boden seines Landes geraubt worden war und der, durch den Sohn eines Königs wieder aufgefunden, ihm Macht und Königswürde verleihen sollte? Alles, was er später darüber erfuhr, bestärkte ihn in dieser Überzeugung. Aber das größte Ereignis während seines unterirdischen Aufenthaltes in Sarek war im letzten Monat die Entdeckung der Prophezeiung des Bruders Thomas. Von dieser Prophezeiung waren ihm hier und da schon Einzelheiten durch Gespräche bekannt geworden, die die Bauern des Abends unter den Fenstern der Hütten miteinander führten. Seit Menschengedenken hat man in Sarek immer schreckliche Ereignisse gefürchtet, die mit der Entdeckung und dem Verschwinden des unsichtbaren Steines in Zusammenhang stehen sollten. Immer war auch von Schiffbrüchen und gekreuzigten Frauen die Rede gewesen. Vorski kannte ja auch die Inschrift auf dem Feen-Dolmen, worin von dreißig Opfern für dreißig Särge, von der Marterung der vier Frauen, von dem Gottesstein, der Tod und Leben geben sollte, die Rede war. Also ein merkwürdiges Zusammentreffen für einen so schwachen Geist!

Doch das Wesentliche war und blieb die in dem Meßbuch von Maguennoc aufgefundene Prophezeiung. Erinnern wir uns daran, daß Maguennoc die berüchtigte Seite herausgerissen hatte und daß Herr von Hergemont, der gern zeichnete, sie ihm mehrmals kopiert hatte, wobei er unwillkürlich der Hauptperson unter den Frauen die Gesichtszüge seiner Tochter Veronika gab. Aus dem Original und aus einer der Kopien bekam Vorski davon Kenntnis, als er eines Nachts Maguennoc beim Lampenschein damit beschäftigt sah. Nun konnte er heimlich die Prophezeiungen, die auf dieser Seite standen, abschreiben, nun wußte er auf einmal die ganze Wahrheit. Alle hier und da verstreuten Elemente der Weissagung vereinigten sich ihm jetzt zu einer Gesamtheit. Es war kein Zweifel mehr möglich. Die Prophezeiung betraf ihn, und er hatte die Mission, sie wahr zu machen.

Und nun paßt auf, Stephan und Peatrice. Ihr sollt die Prophezeiung des Frater Thomas zu hören bekommen. Auf zehn verschiedenen Seiten seines Notizbuches hat Vorski sie aufgeschrieben, um sie sich sozusagen tief ins Herz zu graben:

Also ich lese:

»Auf der Insel Sarek im Jahre Vierzehn und Drei
wird es Schiffbrüchige geben, Trauer und Verbrechen,
Pfeile, Gift, Seufzen und Verbrechen,
Totenkammern, vier Frauen am Kreuz.

Vor seiner Mutter wird Abel den Kain töten.
Der Vater dann, aus fremdem Stamme,
Grausamer Fürst, gehorsam dem Geschick,
Nachdem er durch tausend Todesarten
Die Gattin langsam hat dahinsterben lassen.

Flammen und Getöse wird aus der Erde kommen
Am selbigen Orte, wo der große Schatz gelegen.
Und der Mann wird endlich finden den Stein,
Der einstmals den Barbaren gestohlen wurde,
Den Gottesstein, der Leben und Tod verleiht.«

Jetzt begreifen Sie wohl, wie die Dinge zusammenhängen? Sie selbst, Stephan, waren ja eines der Opfer und Sie kennen die anderen. Im fünfzehnten Jahrhundert macht ein von höllischen Visionen geplagter Mönch seiner krankhaften Phantasie in diesen Prophezeiungen Luft. Der gute Mann dachte an nichts Böses, als er an den Rand seiner infernalischen Zeichnungen irgendeinen Text setzte. Mit einem spitzen Instrument meißelt er noch einige solcher Zeilen auf einen der Felsblöcke des Feen-Dolmens.

Vier Jahrhunderte später fällt nun dieses prophetische Blatt in die Hände eines eitlen und von Wahnvorstellungen besessenen Verbrechers: Was sieht der Verbrecher darin? Etwa eine amüsante und zugleich kindische Phantasie? Nein, ein heiliges Dokument von höchster Wichtigkeit. Es ist für ihn das Alte und das Neue Testament, das Heilige Buch, das ihm das Gebot von Sarek erklärt und erläutert, und das zugleich ihn, Vorski, als den Messias verkündet, der die Beschlüsse der Vorsehung zur Ausführung bringen soll.

Außerdem macht dem Vorski die Sache auch Vergnügen. Denn es handelt sich ja darum, Geld und Macht zu stehlen. Kommt er nicht selbst aus dem Lande, wo der Gottesstein gestohlen wurde? Ist er nicht der Sohn eines Königs?

Diese Beweise genügen ihm. Die Götter haben ihm genau den Weg gewiesen, den er zu gehen hat. Trifft er auf diesem Wege Menschen, so müssen sie eben beseitigt werden, damit das von Bruder Thomas verkündete Werk vollendet, der Gottesstein befreit und Vorski, der Auserwählte des Schicksals, zum König gekrönt werde. Also, frisch die Ärmel hochgestreift, das Schlächtermesser in die Hand genommen und ans Werk! Vorski wird die Angstträume des Bruder Thomas zur Wahrheit machen!


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