Johann Caspar Lavater
Von der Physiognomik
Johann Caspar Lavater

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LXXXI.
Heucheley, Wankelmuth.

Schwäche und Eitelkeit – ist Mutter der Heucheley. Wo du entscheidende Züge von beyden, bey äußerlicher Artigkeit und vorkommendem Wesen findest; unmarkierte, flache Züge, mit einiger Grazie in der Bewegung, mit Kälte bey Heftigkeit – da erwarte, wo nicht Heucheley, doch Wankelmuth, der nah' an Heucheley gränzt.

LXXXII.
Lächeln.

Wer bey'm Lächeln gewinnt, und bei'm Lachen verliert; – wer, ohne Lächeln, huldreich zu lächeln scheint, und schweigend friedliches Betragen um sich her verbreitet – wer auch im witzreichsten und witzfrohsten Lächeln oder Lachen nie kaltverachtenden Hohn verräth; wer lieblich lächelt, wo er Freude der Unschuld bemerkt, und Lob des größern Verdienstes vernimmt – in dessen Physiognomie und in dessen Charakter wird alles edel, alles harmonisch seyn.

LXXXIII.
Zum Fliehen.

Halte möglichst an dich, in der Gegenwart eines fetten Cholerikers, der immer kaut, immer mit vorrollenden Augen herumschaut, nie gelassen spricht, sich die Ziererey gratioser Höflichkeit angewöhnt hat, und alles mit Unreinlichkeit und Unordnung behandelt. – In seiner runden, kurzen, aufgestülpten Nase, in seinem offnen Munde, in seiner hin und her sich werfenden Unterlippe, in seiner verhängenden protuberanzreichen Stirn, und in seinem weither hörbaren Fußtritt ist Verachtung und Härte; Halbheit mit Prätension von Ganzheit, Bosheit mit Aushängung von Bonhomie.

LXXXIV.
Zum Fliehen.

Fliehe jeden, der gespannt, aufgezogen, hellsprechend, unhörend dezidiert; dessen Augen im Dezidieren größer, vordringender; dessen Augbraunen borstiger, dessen Adern schwellender, dessen Unterlippe ausrückender, dessen Hals aufgeschwollner, dessen Hände Fäuste werden – und der sogleich herabsitzt, höflich-kühl wird; dessen Augen und Lippen zurück treten, wenn er durch die unerwartete Gegenwart eines Größern, der dein Freund ist, unterbrochen wird.

LXXXV.
Zweydeutige Charakter.

Wer schnell seine Gesichtszüge und seine Gesichtsfarbe ändert, und sehr sorgfältig ist, diese schnellen Abwechslungen zu verbergen, und plötzlich eine gelassene Miene annehmen kann; wer besonders seinen Mund leicht an- oder abzuspannen weiß, ihn gleichsam im Zaume halten kann, und besonders, wenn das Auge des Beobachters sich regt zur Wendung gegen ihn – der ist minder redlich, als klug; mehr Weltmann, als Philosoph; mehr Politiker, als Ruhigweiser; mehr guter Gesellschafter, als treuer Freund.

LXXXVI.
Denker.

Es giebt keinen ächten Denker, dem man es nicht zwischen den Augbraunen, und im Uebergang der Stirn zur Nase ansieht. Fehlt es da an Buchten oder Tiefe, Feinheit oder Energie – so wirst du im ganzen Gesichte, und im ganzen Menschen, und in allen Handlungen und Geistes-Operationen, den Denker umsonst suchen – das ist, den Mann mit dem tiefen Bedürfnisse nach wahren, klaren, bestimmten, konsequenten und zusammenhängenden Begriffen.

LXXXVII.
Wollüstling.

Ein lang hervorstehendes, nadelartiges, oder stark krauses, wildes, rohes, auf einem braunen Flecken gewurzeltes Haar am Kinn oder Halse, spricht sehr entscheidend für großmächtige Voluptuosität, die selten ohne großmächtigen Leichtsinn ist.

LXXXVIII.
Harte Charakter.

Einige Ingredienzien –

  1. Perpendikuläre, knottenreiche Stirnen, sehr hoch, oder sehr kurz.
  2. Sehr spitze, kleine, kurze, oder roh-runde Nasen, mit weiten Naslöchern.
  3. Scharf-eingeschnittne, lange, ununterbrochne Wangen, oder Nasenzüge.
  4. Untere Zähne, merklich vorstehend, unter obern langen, oder sehr kurzen.

LXXXIX.
Zum Fliehen.

Wer, ohne zu schielen, zugleich auf zwo Seiten zu schauen sich gewöhnt hat; kleine, helle Aeuglein nach ungleichen Direktionen gucken läßt, und obendrein allenfalls noch schwarze Zähne, und bey einer hohen oder kleinen Statur einen gebognen Rücken hat, und mitunter schief hohnlächelt – den fliehe, alles seines Scharfsinns, Vielwissens und Witzes ungeachtet, als einen falschen, ehrlosen, unverschämten, arglistigen, eigennützigen und niedrigen Menschen.

XC.
Zum Fliehen.

Fliehe große Augen in kleinen Gesichtern, bey kleinen Näschen, kleinen Figürchen, welche mitten im Lachen dich fühlen lassen, daß sie nicht froh sind – und mitten in der Freudenbezeugung über deine Nähe, ein schalkhaftes Lächeln nicht verbergen können.

XCI.
Zum Fliehen.

Große, massive Körper, mit kleinen Augen, runden Wangen, vollen, niederhängenden Backen, wurstigen Lippen, sackähnlichem Kinne; die immer mit ihrer eigenen Körperlichkeit beschäftigst sind, immer räuspern, spucken, Taback nehmen, kauen, schneutzen; auch wohl gar alles, wovon sie sich entladen, dem freyen Boden anvertrauen – sind im Grund eitele, fade, kraftlose, ehrsüchtige, lenksame, vielwissende, unsichere, leichtsinnige, wollüstige, schwer-zubehandelnde, vielgierige, wenig-geniessende Charakter – und wer wenig genießt, der giebt wenig.

XCII.
Zum Fliehen.

Wer schleicht, sich vorwärts neiget, zurück geht im Entgegen-kommen, leise-schüchtern Grobheiten sagt, dich scharf fixiert, sobald du dich wendest, und dir nie gelassen in's Gesicht sehen darf; der von keinem Menschen Gutes spricht, als von Bösen; wider jeden Beruf Exceptionen, wider jede Behauptung Widersprüche in Bereitschaft hat – o, könntest du seinen Schädel befühlen – welche versteckte Mißform! Welche irreguläre Knotten! Welche pergamentne Weichheit und eiserne Härte zugleich! Fliehe! Du verlierst in seiner Atmosphäre, auch wenn du zu gewinnen scheinst. – Betrachte, sag' ich auch hier wieder, die Falten seiner Stirn – wenn er einen geraden, unschuldigen, religiösen Mann ekrassiert, und einem harten Schalk das Wort redet. – Die Verworrenheit derselben wird dir das Verworrene des Charakters klarer als klar zeigen.

XCIII.
Zum Fliehen.

Wie klug, wie gelehrt, wie scharfsinnig, wie gewandt, wie brauchbar und nützlich immer ein Mensch sey, wenn er sich immer mißt, oder zu messen scheint; wenn er Gravität affektiert, um den Mangel innerer lebendiger Kraft zu bedecken; wenn er gemessenen Schrittes, seines Ich keinen Augenblick vergessend, sich im Kopfe, sich im Halse, sich im Schulterblatt tragend einher geht; und dennoch im Grunde leichten Sinnes und schalkhaften Humors ist, und, sobald er allein ist, alle Würde, Gravität und Selbstaushängung, sein Ich aber nie vergißt – er werde nie dein Freund.

XCIV.
Warnung.

Wenn ein rascher, roher Mensch bey dir allein sanft, gelassen, höflich ist, und immer zu lächeln oder Lächeln zu machen sucht, so wende dich – »mir nichts, dir nichts« – und schnell kehre dich zurück, ehe er seine Falten dir wieder gefällig machen kann; die Falte in der Stirn, die in den Wangen, die seiner künstlichen Bemühung unmittelbar vorgeht, und die sich in diesem Momente fast immer stark zeigt, ist die wahre; – diese beyden zeichne dir – und sie heissen warnend in deinem Alphabete der Physiognomik.

XCV.
Was nicht zusammen taugt.

Hast du eine lange, hohe Stirn, so mache nie Freundschaft mit einem beynahe kugelrunden Kopf. Hast du einen beynahe kugelrunden Kopf, so mache keine Freundschaft mit einer hohen, langen, beinernen Stirne. – Besonders taugen solche durchaus nicht zu Ehepaaren.

XCVI.
Zum Fliehen.

Verbinde dich mit keinem Menschen, der auch nur einen noch so kleinen, dir fatalen Zug im Gesichte hat, der sich mit jeder Bewegung regt, und selten ganz verschwindet; besonders, wenn dieser Zug sich im Munde und in den Falten um den Mund her zeigt. Du wirst sicherlich immer anprellen, es mag auch sonst noch so viel Gutes im Charakter seyn.

XCVII.
Zum Fliehen.

Fliehe den auffallend Schiefblickenden, Schiefmauligen; mit breit-hervordringendem Kinne – am meisten, wenn er dir mit unterdrücktem Hohne Höflichkeiten sagt – bemerke die unverbergbaren Falten auf den Backen. Er wird dir wenig vertrauen, aber viel Vertrauen von dir erst zu erschmeicheln, dann zu ertrotzen suchen.

XCVIII.
Männliche Charakter.

Beynahe furchenlose, nicht perpendikuläre, nicht sehr zurückgehende, nicht sehr flache, nicht kugel- sondern schaalenförmige Stirne; dichte, nette, reiche, die Stirn auffallend begränzende Augbraunen, über mehr als halb-offnen, jedoch nicht ganz-offnen Augen; eine mäßige Vertiefung zwischen Stirn und einer etwas verbognen, breitrückigen Nase; merklich geschweifte, nicht offne, nicht scharf-beschlossne, nicht sehr kleine, nicht große, nicht disproportionierte Lippen; ein, weder sehr vorstehendes, noch sehr zurückgehendes Kinn – sind zusammen entscheidend für reifen Verstand, männlichen Charakter, klug-thätige Festigkeit.

XCIX.
Zum Fliehen.

Wer den großen, oder, merklich-kleinen Kopf zurückstrebend empor hebt; wer die kurzen Füße, Aufmerksamkeit erregend, spiegelt; wer die großen Augen, größer machend, geflissentlich seitwärts drehet, als müßte er alles über die Achsel ansehen; wer lange stolz-schweigend horcht, und dann trocken, kurz, und absprechend antwortet, und mit kalter Lache endigt; so bald du zur Replike die Lippe regst, supercilios und Stillschweigen-gebietend dich anbrummt – der hat von drey lieblichen Qualitäten nur eine minder, als vier – Eigensinn, Stolz, Härte, mit allen ihren Symptomen – und obendrein höchst wahrscheinlich noch Lügenhaftigkeit, Schalkheit und Geitz.

C.
Zum Fliehen.

Fliehe jedes prägnante, charakterreiche, großaugige, volle, scharf-durchfurchte, scharf-belippte, gelb-braune, blau-geäderte, knöcherne Gesicht, das sich dir mit unterthäniger Schmeicheley nähert – es wird ein Ahitophel, ein Judas, ein Satan an dir werden, wenn du es mit schlichtem Geradsinn und derber Ehrlichkeit behandelst. Es wird lügen und wüthen wider dich, und dein bloßer Name wird ihm Augen und Adern aufschwellen. – Schmeicheley in harten, und Härte in weichen Gesichtern sind gleich furchtbar.

Beschluß.

Brauche, mißbrauch' es nicht, behalt' es für dich und die Wahrheit,
Die die Natur dich lehrt, und ein Freund der Natur sey dir heilig;
Gieb das Heilige nicht den Hunden! – Dem Schweine nicht – Perlen!
Rein ist alles dem Reinen, und Wahrheit ist Eins mit der Freyheit!

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