Johann Caspar Lavater
Von der Physiognomik
Johann Caspar Lavater

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Ich fange an zu reden, zu fragen, zu horchen. Ich finde ihre Stimme, ihre Muskeln, ihre Backen, Lippen, Zähne, Augen, gedoppelt bedeutsam; ich suche auch dies fest inne zu behalten; und damit ich es könne, versuche ich sogleich, Wörter bey mir auszufinden, welche sich so genau als möglich zu diesen charakteristischen Zügen passen. Wenn mir diese gelungen sind, so gehe ich nach Hause, classificire meine Zeichnungen und Charaktere; und damit mir dies leichter werde, so fange ich an, Theil mit Theil, Beschreibung mit Beschreibung zu vergleichen, bis ich endlich abstrahiren, und einige Merkmale bestimmen kann.

Von den Temperamenten
»Der
Sanguiniker ist beynahe unverbesserlich – nur dürfte die Nase vom Munde noch etwas weiter abstehen.«

Aber nun darf ich noch nicht glauben, weit gekommen zu seyn. Meine Beobachtungen sollen genug wiederholet werden, ehe ich sie jemanden entdecke, ehe ich sie bey mir selbst für zuverlässig halte. Ich komme nun in eine Gesellschaft, ich treffe da einen unbekannten Mann an. Enthalten kann ich mich nicht, gerade bey dem ersten Anblicke zu vermuthen, daß er nicht von den klügsten sey. Warum das? Er hat eine Aehnlichkeit mit den charakteristischen Zügen der Thoren, die ich noch im Gedächtnisse habe. Das ist lieblos, denke ich, du thust ihm vielleicht Unrecht. Er spricht; ich erröthe; so was dummes habe ich in meinem Leben nicht gehört. Er schweigt; so dumm habe ich in meinem Leben nicht schweigen gesehen. Man spricht von einer ernsthaften Sache; in süßer Selbstzufriedenheit nickt er Beyfall zu, wo es sich gar nicht schickt; unwiderstehlich muß ich mich nun nochmals an die beynahe auf allen Thorengesichtern, die ich beobachtet habe, ausgegossene Selbstgenügsamkeit erinnern. Man lobt etwas; er nickt Misfallen. Ich bemerke insonderheit, wenn er etwas auffallend dummes sagt, gleichsam den Sitz seiner Dummheit; und setze ihn also in die erste, zweyte, oder dritte Classe.

Nun fange ich an, meiner Kunst zu trauen. Ich treffe wieder einen Mann an, der in eine meiner Classen zu gehören scheint. Allein dieser Mann spricht sehr vernünftig; ich muß ihn eben so sehr bewundern, als ich mit jenem Mitleiden haben mußte; ich schäme mich vor ihm. Wie? wenn er mein erstes Vorurtheil auch aus meiner herabschauenden Miene vermuthet hätte? Aber noch mehr schäme ich mich vor mir selber! Was? Sobald ich ihn sah, triumphirte ich über mein Arcanum; nun sehe ich mich betrogen. Wie das? – doch ist dieser Zug würklich ähnlich mit meiner ersten oder zweyten Classe. – Vielleicht war die Anlage, die Erziehung der ersten Jahre, nicht die beste? der Fleiß und die Uebung der spätern Jahre haben diesen Mangel größtentheils vergütet, und die ersten Falten, die sich den noch weichern Muskeln aufgedrückt haben, noch nicht auslösen können? Vielleicht hat sonst ein Zufall mit etwas dazu beygetragen, daß ihm, zum Exempel, die Lippe so fleischicht herunter hängt? Aber denn sind auch noch so manche vergütende Züge; seine Augen, seine Stirne, seine Gebehrden reden so vortheilhaft für ihn; aber am meisten seine weisen feinen Anmerkungen, seine gesetzten, wohl überlegten Urtheile.

Also lerne ich, daß ich äußerst behutsam und zurückhaltend seyn muß; sonst laufe ich Gefahr, in meinen Urtheilen übereilt und ungerecht zugleich zu seyn. Ich lerne, daß ich mich nicht auf einen einzigen Zug verlassen, daß ich verschiedene zusammennehmen muß.

Unterdessen fahre ich fort, mein Auge in der feinen und schnellen Beobachtung dessen, was in den menschlichen Gesichtern ähnliches und unähnliches ist, zu üben. Ich mache wieder eine Anwendung von meiner ersten Beobachtung; sie paßt sich vortrefflich. Ich sollte erschrecken, daß ich einen Menschen gefunden, der das Unglück hat dumm zu seyn; aber ich bin so boshaft mich zu freuen, nur darum, weil ich den Schlüssel zur Entzieferung der Dummheit gefunden zu haben glaube.

Menschen und Thiere.
»Hier noch einige dem
Porta nachgezeichnete Thier- und Menschenphysiognomien – die ausgesuchtesten, besten – und in diesen, welche Unähnlichkeit!«

Ich gehe in meine Kammer, mein Gewissen macht mir Vorwürfe: du opferst dein Herz dem Verstande, und die Menschenliebe deiner Wissenschaft auf. Ich schäme mich; ich verschwöre die Physiognomik. Allein ich erhole mich wieder; unmöglich kann diese Wissenschaft an sich sündlich, oder Gott misfällig seyn. Unmöglich kann es der Urheber der menschlichen Gesichtsbildungen, der seine Weisheit in der unendlichen Mannichfaltigkeit offenbaret, misbilligen, wenn ich mich bestrebe, die Zeichen dieser Mannichfaltigkeit, welche die Bande der menschlichen Gesellschaft auf mancherley Weise knüpfen sollen, mir selbst klar zu machen, und zu bestimmen. Nur muß ich nicht da anfangen, wo ich aufhören sollte; da, wo mein Herz vielleicht in Gefahr kommen könnte. Ich muß nur nicht darauf ausgehen, Dummheit und Bosheit zu finden. Ich will Verstand und Tugend aufsuchen; ich will meinem Herzen da eine Quelle von den feinsten Vergnügungen öffnen; ich will die Physiognomien der Verständigen und Tugendhaften studieren. Ich will die Form, die Farbe, die Lage, die Proportion des Gesichtes, die Muskeln, die Stellung, die Gebehrden, das Feuer der Augen, die Bewegung der Lippen bemerken, wenn der tiefsinnige Denker ein schweres Problem auflöset, und einen verworrenen Satz auf der Wage deutlicher Begriffe abwiegt; wenn der redliche Christ von Gott, von der Ewigkeit, von der Tugend spricht; noch mehr, wenn er handelt, da will ich ihn belauschen, den bewährten, den redlichen Mann, von dem ich sonst gewiß weiß, daß man sich auf sein Herz und seine weise Rechtschaffenheit verlassen darf. Jenen Blick, mit dem er einem Armen nachschaut, dem er gern noch mehr würde gegeben haben, wenn es nur in seinem Vermögen gestanden hätte; jenes sanfte stille Gott dankende Lächeln, das um seine Lippen, auf seinen Wangen schwebt, und aus seinen Augen leuchtet, wenn er einen Tugendhaften rühmen oder eine großmütige Handlung erzählen hört; jene standhafte, bescheidene und doch unüberwindliche Miene, die mit dem Bewußtseyn, daß man recht gehandelt hat und weiter recht handeln will, so wesentlich verbunden ist; jene bewundernswürdige Ruhe, wenn er Beleidigungen vergiebt, und wenn seine Eingeweide entbrennen, den Beleidiger zu segnen: Diese schönen Züge will ich mir sorgfältig auffassen. Ich will sie mir vermittelst meines Bleystiftes aufbewahren, aber das unnachahmliche und von keiner Menschenhand erreichbare Urbild mir dennoch tief einprägen; und zu dem Ende ganz einfache, ruhige, unzerstreuete Beobachtung seyn. Ich will in dem Sanftmüthigen die Züge der Sanftmuth, in dem Demüthigen die Züge der Demuth aufsuchen. Aber die Beobachtung soll genau seyn; sie soll oft wiederholet, und oft geprüfet werden. Wie kann das möglich seyn, wenn ich sie nur verstohlner Weise machen muß? Ist es nicht unbescheiden, Gesichter zu analysiren? und wenn die Demuth es merkt, wird sie sich nicht wegwenden, und verhüllen? In der That hier stößt mir ein neues großes Hinderniß meines Studiums auf; wer merket, daß er beobachtet ist, wird entweder unwillig, oder er verstellet sich. Wie kann ich dieser Schwierigkeit abhelfen? Vielleicht zum Theil auf folgende Weise.

Ich gehe in die Einsamkeit; ich nehme ein Medaillen- oder Bildsäulenwerk von Antiken; die Cartons eines Raphaels, die Apostel eines Vandyks, die Portraite eines Houbraken vor mich; diese darf ich betrachten, wie ich will; diese auf alle Seiten kehren. Diese großen Männer sollen mir die Augen öffnen; das Schöne und Große in meinen Nebenmenschen, meinen Brüdern, mir entdecken.

Ich suche nun die Charaktere zusammen, die sich, zufolge der Geschichte, oder aus ihren Thaten und Schriften zu schließen, einander ähnlich sind. Ich mache eine Reihe von Clarke, Loke, Pope, Newton; wieder eine von Homer, Klopstock, Milton, Bodmer; eine andere von Boileau, Voltaire, Corneille, Racine; wieder eine andere von Gesner, Thomson; wieder eine andere von Swift, Rabener; wieder eine andere von Tessin, Moser; wieder eine andere von Lycurg, Montesquieu, Mirabeau; wieder eine andere von Albin, Haller, Boerhave, Morgagni; noch eine andere von Socrates, Plato, Xenophon; noch eine andere von Zwingli, Calvin, Bullinger. Nun fange ich an zu beobachten; aber vergesse es nicht, erstlich, daß keines aller dieser Bildnisse, so wohl gerathen sie immer seyn mögen, die lebendige Natur erreicht; zweytens, daß, wenn sie auch den höchsten möglichen Grad der Vollkommenheit erreicht hätten, sie nur eine einzige, momentale Situation und Gesichtslage darstellen; drittens, daß die Lebendigkeit, der stärkste Ausdruck im menschlichen Gesichte, das Licht, die Wärme, die sanfte Bewegung mangelt. Die Betrachtung dieser Unvollkommenheiten macht mich also recht sehr behutsam. Nun beobachte ich erst jedes Portrait für sich allein; dann vergleiche ich die Glieder einer jeglichen Reihe mit sich selbst; dann jede Reihe mit der andern; dann vergesse ich meine Charaktere, und stelle die ähnlichen Bildungen zusammen; dann versetze ich die Bildnisse wieder, und stelle die unähnlichsten neben einander. Dann fange ich an, mit Worten zu beschreiben, wie wenn ich diese Physiognomien einem beschreiben wollte, der das Bildniß nicht sehen kann, und doch einen deutlichen Begriff davon bekommen wollte. Dadurch gewinne ich dreyerley: ich beobachte weit besser; ich entwickele die Totaleindrücke, und löse sie in einzelne Theile auf, welche ich mir fixire; und die Classification wird mir ungemein erleichtert.

Bey dieser Beschreibung gehe ich folgendergestalt zu Werke. Ich bezeichne erst das Ganze überhaupt; dann gehe ich von Theil zu Theile fort; und wenn die Beschreibung fertig ist, so vergleiche ich sie nochmals Zug für Zug mit meinem Urbilde.

Bin ich damit fertig, so lege ich sie beyseite; und nehme das Bildniß allein wieder vor mich, und setze den intellectuellen und moralischen Charakter des lebendigen Originals mir bestimmt vor Augen. Ich sondere das Intellectuelle und Moralische ab; ich wäge jedes für sich ab; und gehe erst den negativen oder Exclusionsweg, dann den positiven.

12 Köpfe, allerley Affecten [nach Charles Lebrun].
»Wir fassen zusammen: Was in der Seele vorgeht, hat seinen Ausdruck auf dem Angesichte.«


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