Johann Caspar Lavater
Von der Physiognomik
Johann Caspar Lavater

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Der Geschicklichkeitscharakter, oder die so und so bestimmte Fertigkeit eines Menschen, gewisse Dinge zu behandeln, sollte die nicht auch wieder ihre natürlichen und unmittelbaren Zeichen und Merkmale haben? Sollte die Leichtigkeit und Schnelligkeit in der Behandlung dieser oder jener Kunst, dieses oder jenes Geschäfftes nicht natürlicher Weise aus der Feinheit, aus der Bewegung und Activität unsers Aeußerlichen erkennbar seyn können? Wird nicht die Vernunft sagen, daß es eine sehr natürliche Folge unsrer innern Fertigkeit sey, daß sich unsere Gliedmaßen auf eine leichtere, ungezwungene, schnellere Weise wenden und bewegen werden, als wenn wir diese Fertigkeit nicht besitzen? Es erhellet also aus dem bisher gesagten, daß die Physiognomie des Menschen, das ist, sein ganzes Aeußerliches, in sofern es an seinem Körper haftet, nicht willkührlich, nicht bloß ein Zufall, und außer der Verbindung mit dem innern Charakter des Menschen, folglich die Physiognomie keine blos eingebildete Wissenschaft sey.

Es wäre leicht möglich, dies noch weitläuftiger aus der Vernunft darzuthun. Allein die Schranken, die ich mir gesetzet habe, wollen es nicht gestatten. So viel muß aber nothwendig hierüber noch gesagt werden, daß, wenn auch alle die angeführten, und noch anzuführen möglichen Vernunftgründe für die Würklichkeit dieser Wissenschaft, nicht das mindeste beweisen sollten, jedoch die Erfahrung so sehr dafür spricht, daß ich es, die Wahrheit zu gestehen, geradezu für Unsinn halte, wenn man ins Gelag hinein behaupten will, sie sey weiter nichts als eine eingebildete Wissenschaft, es wäre denn, daß man unter der Physiognomik die abgeschmackte, seynsollende Kunst, die speciellen und individuellen Schicksale des Menschen aus seinem Gesichte zu prophezeyen, verstehen wollte.

Als Charlatanerie und leere Träumerey möchte ich freylich von Herzen gerne diese Kunst größtentheils aus dem Reiche der wahren Wissenschaften aus eben dem Grunde verbannt wissen, aus welchem ich die Physiognomik, nach meiner Erklärung, zu einer Wissenschaft mache; nemlich darum, weil sie ganz auf willkührlichen, und nicht auf natürlichen Verbindungen von Ursache und Würkung zu beruhen scheint.

Und was sagt denn nun die Erfahrung überhaupt von der Gesichtsdeutung? Sie sagt uns zuerst, daß die Physiognomien aller Menschen wohl so verschieden seyn, als es ihre Charaktere immer seyn mögen.

Sie sagt uns, daß jedes Ding in der Welt, es mag heißen wie es will, seine eigene specielle und individuelle Physiognomie habe, daß jede Birne, jeder Apfel, jede Traube, jedes Blatt die seinige habe, woraus wir von seiner innern individuellen Beschaffenheit urtheilen.

Sie sagt uns, daß das beseelteste Wesen auf Erden, der Mensch, das Meisterstück des Schöpfers, die mannigfaltigste Physiognomie, das ist, für eine jede Art des Charakters eine eigene Physiognomie habe, daß der, von dem wir wissen, daß er zornmüthig und wild ist, ganz anders aussehe, als der, von dem wir wissen, daß er sanftmüthig und gelassen ist, und zwar so anders, daß es die meisten ohne Besinnen, ohne es aus dem Umgange zu wissen, diesen beyden auf den ersten Blick ansehen, daß der eine zum Zorne geneigt und der andere sanfter und gelassener ist. Sie sagt uns, daß kein Mensch, so klug oder stupide er immer seyn mag, auf der Welt sey, (auch sogar nicht alle im Tollhause ausgenommen) kein Mensch, auf den nicht wenigstens einige gewisse Aeußerlichkeiten an andern einen solchen Eindruck machen, daß sein Urtheil über ihn und sein Betragen gegen ihn auf irgend eine Weise bestimmt wird.

Sie sagt uns, daß es gewisse Physiognomien gebe, von denen alle Menschen sogleich, ohne weitere Untersuchung, und doch richtig urtheilen werden, sie zeigen große Weisheit oder große Thorheit an. So wollte ich, zum Exempel, es darauf ankommen lassen, ob ein Mensch dumm genug seyn könnte, gewisse unglückliche Physiognomien in einem Thorenhospitale anzusehen, und sie nicht dumm zu finden; und so wollte ich auch Menschen nennen oder Gesichter zeichnen können, von denen jedermann auf den ersten Blick sogleich sagen müßte: das muß ohnfehlbar ein verständiger und scharfsichtiger Mann seyn.

Wir mögen es gestehen oder nicht, merken oder nicht, so ist doch das Aeußerliche der Menschen, der Totaleindruck, welchen es, unabhängig von dem Innern oder dem Betragen derselben, auf uns macht, in tausend Fällen, wo nicht ein völliger Entscheidungsgrund für uns, doch das, was das Uebergewicht giebt, und den Ausschlag macht.

Ohne mich in charakteristische Details einzulassen, ohne Miene zu machen, daß ich die Physiognomien verstehe, (denn würklich fehlet daran unendlich viel,) darf ich doch zum Exempel sagen: daß ein Mann, der in seinem Gange hüpft, immer einen offenen gelächterreichen Mund hat, keinen Augenblick stille stehen kann, alles angafft, und nichts mit Aufmerksamkeit betrachtet, daß ein solcher Mann bey keinem einzigen Menschen in den Verdacht eines gesetzten, weisen und ernsthaften Charakters fallen werde.

Vier Silhouetten von trefflichen Männern.
»Diese Männer sind, [...] ohne Widerrede, von den Verständigsten, Geschmackvollesten, Geniereichsten, die Teutschland hervorgebracht hat.«
Friedrich Arnold Klockenbring (1742-1795)

Ich getraue mir zu behaupten, daß auch derjenige, der in seinem Leben nichts von der Physiognomik gehört hat, einen Menschen nicht für aufrichtig wird halten können, der uns nie in die Augen sehen darf, der freywillig und mit einer Art von Affectation schielet, der mit dem halben Munde lächelt, wenn er etwas ernsthaftes oder trauriges erzählet, dessen Ton etwas unsicheres und schwankendes hat, dessen Rede unterbrochen und zerstreuet, dessen Stimme bald langsam, bald schnell, bald laut, bald leise, bald ängstlich und weinerlich, bald tiefathmend und zurückhaltend ist. Lasset einen solchen so schön mit uns reden als er immer will, wir werden uns schwerlich bereden, daß Aufrichtigkeit, Lauterkeit und Einfalt den Vorzug und das Eigenthümliche seines Charakters ausmachen.

Wenn es möglich ist, daß schon bloße ungefärbte leblose Köpfe, die nur auf ein Papier flüchtig hingezeichnet sind, entscheidend für Verstand oder Dummheit seyn können, wie viel mehr Bedeutendes und Entscheidendes kann in einem lebendigen Gesichte, in einer ganzen lebendigen Person seyn?

Freylich könnten wohl vielleicht dergleichen Zeichnungen für zwey Extreme angesehen werden. In diesem Grade der Merkbarkeit, sagt man vielleicht, können wir uns nicht leicht betrügen; allein wie unendlich viele Zwischenzüge, Schattirungen, Nüancen? wie ungewiß werden diese, je feiner, zärter, unbeschreibbarer sie sind? Das hat Schein. Doch wenn man erwägt, daß in der Natur eigentlich und an sich nichts groß und nichts klein, nichts mehr oder minder merkbar, sondern dieser Unterschied der Merkbarkeit nur zu gewissen gegebenen Augen relativ ist; wenn man bedenkt, daß das, was unsern Augen, oder auch vielleicht nur dem ungeübten Auge unmerklich ist, andern oder unsern eignen Augen merkbarer werden kann, wenn es auch genau in derselben Lage und Zeichnung bleibt; daß zum Exempel das geübte Auge eines Kunstverständigen, in einem erhabenen Gemählde, worinn sich alle Züge immer gleich bleiben, immer mehr Schönheit und Ausdruck finden kann, die vielleicht von tausend andern physisch gleich guten oder wohl gar bessern Augen übersehen werden; wenn man endlich erwägt, daß die Natur immer nach Gesetzen handelt, und daß ein stumpfer Winkel von hundert und neun und siebenzig Graden so wenig ohne zureichenden Grund von ihr gebildet werden kann, als ein spitziger von einem Grade; daß also die erste Neigung oder Lenkung einer Gesichtslinie, es sey zu welcher Expression es wolle, eben so wenig ohne Grund, oder nach andern Gesetzen gebildet werden kann, als der marquirteste oder gebogenste Contour; so wird man gestehen, daß auch die feinern Nüancen ihren Grund haben, folglich überhaupt erkennbar und wissenschaftlich bestimmbar seyn müssen. Jede Modification meines Körpers hat eine gewisse Beziehung auf die Seele. Eine andere Hand als ich habe, würde schon eine ganz andere Proportion aller Theile meines Körpers fordern, folglich einen ganz anders modificirten Körper; das heißt, meine Seele würde die Welt durch ein ganz anderes Perspectiv, folglich unter einem andern Winkel ansehen müssen; und dann wäre ich ein ganz anderer Mensch. Daß ich also eine solche Hand habe, und keine andere, giebt zugleich zu erkennen, daß ich eine so und so bestimmte Seele habe; und dies geht bis auf jeden Muskel, ja jede Faser fort. Dieses wieder zu beweisen, darf man nur den scharf beobachtenden Zergliederer fragen; ob nicht jeder Muskel von jedem andern, der denselben Namen führt, aber zum Körper eines andern Menschen gehöret, verhältnißweise eben so verschieden sey, als die ganze Gesichtsbildung von jeder andern verschieden ist?

Vielleicht findet man es lächerlich, aus einem Knochen oder einem Zahne physiognomische Beobachtungen herzuleiten. Ich finde es gerade eben so natürlich, als aus dem Gesichte. Nicht, daß das ganze Gesicht als ein Zusammenfluß von lebendigen Expressionen, nicht viel stärker und entscheidender spräche, als ein einzelnes kleines Glied. Auch allerdings nicht, daß mir das eine so leicht sey, wie das andere. Allein ich getraue mir zu behaupten, der preiswürdige Schöpfer habe eine solche Proportion oder Analogie zwischen allen Theilen der Maschine des menschlichen Körpers festgesetzt, daß ein höherer, ein englischer Verstand aus einem Gelenke oder Muskel die ganze äußerliche Bildung, und den allseitigen Contour des ganzen Menschen bestimmen könnte, und daß folglich ihm ein einziger Muskel hinreichend wäre, den ganzen Charakter des Menschen daraus zu calculiren.

Ein großer und scharfbeobachtender Zergliederer, ein Morgagni, ein Meckel, wird, wenn man ihm die Knochen von verschiedenen Skeleten unter einander würfe, diejenigen, welche zu Einem Körper gehören, wohl zusammen finden können. Ein Mahler kann zwar oft, wie der Verfertiger eines Skelets, Glieder von verschiedenen Körpern in einen zusammen setzen; nur das ungeübte Auge wird dies nicht bemerken; aber der feinere Kenner wird sagen: Eine Hand vom Vandyk paßt sich nicht zu einer Figur von Rubens.

Hieraus ergiebt sich nach meinem Bedünken unwidersprechlich, daß alles große und kleine an dem menschlichen Körper bedeutend sey; daß die Natur eine zehntausendfache Sprache habe, in welcher sie auf einmal mit uns redet; daß sie an sich selbst sehr verständlich, sehr unzweydeutig rede; daß es nicht an ihr, sondern an uns fehle, wenn sie nicht verstanden oder unrecht verstanden wird; daß folglich die Physiognomik nicht eine eingebildete, sondern eine würkliche Wissenschaft sey.

Wenn alles bisher gesagte noch nicht hinlänglich wäre, dieses zu beweisen, so bliebe uns zuletzt noch die besondere Erfahrung übrig, daß es Menschen gegeben hat, und noch giebt, welche eine unglaubliche Fertigkeit besaßen, aus dem Aeußerlichen eines Menschen seinen innern Charakter größtentheils richtig und nach der Wahrheit zu beurtheilen.


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