Johann Caspar Lavater
Von der Physiognomik
Johann Caspar Lavater

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Hundert physiognomische Regeln

I.
Allgemeine Regeln.

Ist der erste Moment, da dir ein Mensch erscheint, und zwar im rechten Lichte, ganz vortheilhaft für ihn; verschob sein erster Eindruck nichts in dir; wurdest du durch ihn auf keine Weise gedrückt, oder geniert; fühltest du dich in seiner Gegenwart sogleich und immer froher und freyer, lebendiger und mit dir selbst, auch wenn er dir nicht schmeichelte, auch wenn er nicht mit dir sprach, zufriedner, so sey sicher – der wird bey dir, in sofern niemand zwischen Euch steht, nie verlieren, immer gewinnen. Die Natur hat Euch für einander gebildet. Ihr werdet einander mit sehr wenigem sehr vieles sagen können... Studiere nur genau und bezeichne die sprechendsten Züge.

II.
Allgemeine Regeln.

Sehr viele gewinnen, je mehr sie gekannt sind; sie gefielen nicht im ersten Momente.

Es muß ein Grund der Disharmonie zwischen dir und ihnen seyn, daß sie dir anfangs nicht ganz einleuchteten; und ein Grund der Harmonie, warum sie dir mit jedem Male mehr einleuchteten.

Suche genau den Zug, der nicht mit dir harmoniert; findest du ihn nicht in dem Munde, so fürchte dich nicht zu sehr! Findest du ihn dort, so beobachte genau, in welchen Momenten, bey welchen Veranlassungen er sich am klarsten zeigt.

III.
Allgemeine Regeln.

Wer sich am ungleichsten und gleichsten ist, das ist, so mannichfaltig und so einfach, wie möglich; so veränderlich und unveränderlich, so harmonisch, wie möglich, bey aller Lebendigkeit und Wirksamkeit, wessen bewegteste Züge den Charakter des festen Ganzen nie verlieren, sondern demselben konform sind, der sey dir heilig! Aber wo du das Gegentheil, auffallenden Widerspruch zwischen dem festen Fundamental-Charakter und den beweglichen Zügen wahrnimmst, da sey zehnfach vorsichtig auf deiner Hut – da ist – Narrheit oder Schiefsinn.

IV.
Allgemeine Regeln.

Bemerkt die blitzschnellen Momente der völligsten Ueberraschung. Wer in solchen seine Gesichtszüge günstig und edel bewahren kann; wem in solchen kein fataler Zug entwischt, kein Zug der Schadenfreude, des Neides, des kaltverachtenden Stolzes, dessen Physiognomie und dessen Charakter werden jede Probe aushalten, die man über sterbliche und sündige Menschen darf ergehen lassen.

V.
Allgemeine Regeln.

Sehr klug, oder sehr kalt, oder sehr dumm, nie aber wahrhaft weise, nie ächt-lebendig, nie fein-empfindsam, nie zärtlich sind diejenigen, deren Gesichtszüge sich nie merkbar verändern.

Sehr klug, wenn ihre Gesichtszüge wohl proportioniert – genau bestimmt, scharf prononziert sind.

Sehr dumm, wenn die Gesichtszüge flach, ohne Nüance, ohne Charakter, ohne Beugung oder Schweifung sind.

VI.
Allgemeine Regeln.

Wessen Figur schief –

Wessen Mund schief –

Wessen Gang schief –

Wessen Handschrift schief ist, das ist, nach ungleichen, sich durchkreutzenden Direktionen geht –

Dessen Denkensart, dessen Charakter, dessen Manier, zu handeln, ist schief, inkonsequent, einseitig, sophistisch, falsch, listig, launisch, widersprechend, kaltschalkhaft, hartgefühllos.

VII.
Stirn.

Wenn eine schön-gewölbte Stirn, in der Mitte zwischen den Augbraunen, besonders, wenn die Augbraunen markiert, gedrängt, regulär sind, eine leicht sichtbare, perpendikuläre, nicht gar zu lange – oder zwo parallele Falten dieser Art hat, so gehört sie sicher zu den Stirnen erster Größe. Solche Stirnen sind nur zuverläßig klugen und männlich-reifen Charaktern eigen; und wenn sie sich an Frauens-Personen finden, so wird man schwerlich was klügeres, honnetteres, königlich-stolzeres und bescheideneres finden.

VIII.
Stirn.

Jede Stirn ist schwachsinnig, die in der Mitte, und untenher, eine, auch nur kaum merkbare länglichte Höhlung hat, mithin selbstlänglicht ist – ich sage, eine kaum merkbare – sobald sie merklich ist, ändert sich alles.

IX.
Stirn.

Länglichte Stirnen, mit scharf-angezogner, Faltenloser Stirnhaut, wo auch bey seltener Freude keine lieblich-lebendige Falte sich äußert, sind kalt, hämisch, argwöhnisch, bitter, eigensinnig, überlästig, prätentiös, kriechend, und können wenig vergeben.

X.
Stirn.

Stark vorgebogne, oben sehr zurückliegende Stirnen, mit bogigen Nasen, und länglichtem Untertheile des Gesichtes – schwindeln immer an der Narrheit Abgrunde.

XI.
Stirn.

Jede, oben vorwärts sinkende, unten gegen das Auge eingehende Stirn, an einem ausgewachsenen Menschen, ist ein sicheres Zeichen unheilbarer Imbezilität.

XII.
Stirn.

Wie weniger Buchten, Wölbungen, Vertiefungen, wie mehr einfache Flächen, oder geradlinigt-scheinende Umrisse an einer Stirn wahrzunehmen sind, desto gemeiner, mittelmäßiger, Ideenärmer, Erfindungsunfähiger ist die Stirn.

Noch nicht sehr klug ist 4, doch etwas klüger als 3, 3 klüger als 2, 2 als 1.

12. Stirn.
»Noch nicht sehr klug ist 4, doch etwas klüger als 3, 3 klüger als 2, 2 als 1.«

XIII.
Stirn.

Es giebt schön-gewölbte Stirnen, die beynahe groß und genialisch scheinen, und dennoch beynahe närrisch, und nur halbklug sind; an dem Mangel, oder an der Wildheit und Verworrenheit der Augbraunen entdeckt man ihre Klugheits-Aefferey.

XIV.
Stirn.

Lange Stirnen, oben mit etwas sphärischen Knotten, sind gemeiniglich nicht sehr zurückgehend; haben immer einen untrennbaren, dreyfachen Charakter – genialische Blicke, mit wenig ruhig zergliederndem Verstande – Starrsinn mit Wankelmuth; Kälte mit Heftigkeit – darneben haben sie was Feines und Edles.

XV.
Stirnfalten.

Schiefe Falten in der Stirn, besonders wenn sie ungefehr parallel sind, oder scheinen, sind sicherlich ein Zeichen eines armseligen, schiefen, argwöhnischen Kopfes.

XVI.
Stirnfalten.

Parallele, reglierte, nicht gar zu tiefe Stirnfalten, oder parallel gebrochne, findet ihr selten anderswo, als bey sehr verständigen, weisen, redlichen und geradsinnigen Menschen.

XVII.
Stirnfalten.

Stirnen, deren obere Hälfte mit merklichen, besonders zirkelbogigen Falten durchfurcht, deren untere Hälfte flach und faltenlos ist, sind ganz zuverläßig dumm, und aller Abstraktionen beynahe unfähig.

XVIII.
Stirnfalten.

Stirnfalten, die bey der geringsten Bewegung der Stirnhaut in der Mitte sich tief abwärts senken, sind der Schwachheit schon sehr verdächtig.

Sind die Züge stehend, tief eingegraben, sehr tief herabsinkend, so zweifelt nicht an Geistesschwäche, oder Stüpidität, mit Kleinsinn und Geitz gepaart.

Merkt aber wohl, daß die Talentreichsten Genies eine Linie, die in der Mitte sich merklich abwärts senkt, unter drey beynahe Horizontal-Parallelen zu haben pflegen.

XIX.
Stirnfalten.

Verworrene, stark gegrabene, gegen einander streitende Falten in der Stirn – sind immer ein sicheres Zeichen eines rohen, verworrenen, und schwer zu behandelnden Charakters.

Zwischen den Augbraunen noch eine gevierte Fläche – oder eine thorförmige, faltenlose Breite, die faltenlos bleibt, wenn um sie her sich alles roh furcht – o, da ist ein sicheres Zeichen der höchsten Schwachheit und Verworrenheit.

XX.
Stirnfalten.

Roh, derb, indelikat-argwöhnisch, ehrgeitzig, bey manchen guten Eigenschaften, sind alle – in deren Stirnen sich

scharfe,

verworrene,

schiefe

Falten formen, wenn sie, seitwärts schielend, scharf-lauernd, mit verschobenem Munde horchen.


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