Friedrich Christian Laukhard
Magister F. Ch. Laukhards Leben und Schicksale – Band II
Friedrich Christian Laukhard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Entlassung der Deserteure aus neutralen Ländern. – Fabrikation falscher Taufscheine. – Warnung des Kommandanten. – Verschiedene Tätigkeiten, um meinen Unterhalt zu erwerben. – Schreiben für den Kriegskommissar. – Taglöhnerei beim Abbruch eines Klosters. – Mit dem Schiebkarren nach Auxonne. – Letzter Aufenthalt im Hospital Jean Jacques. – Die Dornen der Besorgnis. – Brief an Bispink. – Gute Nachrichten aus Halle. – Entlassung aus der Gefangenschaft. – Abschied von Dijon. – Gewissensbisse. – Mein Wandergefährte, der Husar, und das fleischige Mädchen. – Die Schweizer Grenze.

Die Franzosen hielten die Deserteure vorzüglich deswegen zurück, damit sie den Verbündeten nicht wieder dienen möchten. Sie zeigten also, daß sie schlechte Geographen sind oder die Sache nicht genug überlegt hatten, als sie 1794 den Polen, Schweizern, Dänen, Schweden und anderen aus neutralen Ländern erlaubten, nach beigebrachtem Taufschein in ihr Vaterland zurückzukehren. Denn wie sollte es einem Polen, Dänen, Schweden, Russen und anderen möglich sein, in sein Land zurück zu kommen, ohne unterwegs angehalten und zu Diensten gezwungen zu werden? Die österreichischen und preußischen Werber lassen sich keinen brauchbaren Deserteur entwischen. Uebrigens wie sollten die Deserteure beweisen, daß sie Polacken, Dänen usw. seien? Nach Hause schreiben und Taufscheine kommen lassen, konnten nur die Schweizer, Venetianer und Florentiner; die sehr weit entfernten mußten das lassen. Einige wenige erhielten Taufscheine, aber die anderen? Nun, die fanden schon Rat, wenigstens die Klügeren. Unter den Deserteuren fand sich ein gewisser Prips, welcher ehedem Latein gelernt hatte und einen Taufschein zu fabrizieren wußte. Dieser fing an, ganz in der Stille für einige vertraute Freunde Taufscheine aufzusetzen. Anfänglich ging das Ding; die Leute auf dem Departement waren eben nicht sehr skrupulös, und wenn einer ein Papier von der Art brachte, so gab man ihm einen Laufpaß nach Basel, denn dahin mußten alle. Endlich machte Prips sich selbst einen Paß und entkam.

Nach ihm trat ein anderer auf, namens Mann, gebürtig aus Lübeck und ehedem Dragoner bei den Preußen, ein erzschlechter Kerl und großer Spitzbube. Er verstand auch etwas – aber blutwenig – Latein, konnte schreiben und schrieb denn auch Taufscheine. Aber kaum kamen sie den Herren auf dem Departement zu Gesicht, als diese dem Kommandanten Belin befahlen, die Ueberbringer zu arretieren und nach der Conciergerie zu bringen. Die Formel der Taufscheine von Mann war folgende:

Cum Deo! Anno Domini 1756 die quintus Majus baptistatus est in ecclesia Sancti Ulrici Johannes filius Andreas Mans et Dorothea sua femina. Compater fuerunt Johannes Vogt et Magdalena Cramp, sua mulier. Attestor, Warschau, den 25. October 1789
Augustinus                             Canonicus et Pastor

Solches Geschmier mußte den Beamten auf der Munizipalität die Augen bald öffnen. Sie untersuchten mehrere Taufscheine, und siehe da, diese trugen die Zeichen der Falschheit sichtbar an sich. Sie waren oft auf Papier geschrieben, in welches die Worte: liberté – égalité eingeprägt oder eingestempelt waren. Mann mußte auf zwei Monate ins Gefängnis.

Eines Tages ließ mich Belin zu sich kommen. »Höre,« sagte er, »Gibasier hat mir gesagt, daß du Latein verstehst; du bist also imstande, auch Taufscheine zu machen. Ich bitte dich aber, dies nicht zu tun: das Departement hat nämlich beschlossen, jeden Verfälscher von der Art auf ein ganzes Jahr einzustecken.« Ich dankte dem guten Belin für seinen Wink und versicherte ihn, daß es mir noch nicht eingefallen sei, auf solche Weise die Republik zu betrügen.

Das hinderte alles nicht, daß nicht echte Taufscheine sogleich einen Paß verschafft hatten, und ein Deserteur, der so einen bringen konnte, wurde auf Kosten der Republik bis auf die Schweizer Grenze versorgt, d.h. er bekam täglich 2 Pfund Brot, 10 Sous und Nachtquartier. Auf den Etapes war nämlich seit dem Sommer 1794 einiges geändert worden. Man gab kein Fleisch mehr, wegen des Mangels desselben und weil die Etapes sonst eine sehr große Menge weggenommen hätten. Auch mußte der Wein von da an auf dem Etape zu 6 Sous die Bouteille bezahlt werden. Auch die reisenden Volontäre bekamen nichts weiter. Ich sprach einmal mit einem Volontär darüber, der mir ganz kalt erwiderte: »Da die Republik das Fleisch für unsere streitenden Brüder in den Armeen braucht, so wäre es unrecht, wenn man es auf den Etapes verschwenden wollte.« – Ein deutscher Soldat murrt gleich, wenn ihm etwas entzogen wird, und nur der Stock kann ihm das Maul stopfen; der Franzose hingegen weiß, warum man ihm dieses und jenes entzieht, und billigend schweigt er.


Ich hielt es bei den Deserteuren in der Kaserne nicht lange aus; denn der Schenkwirt Vienot, bei welchem ich oft einsprach, ließ mich nebst noch einem Schuhmacher, der auch ein preußischer Ueberläufer war, in einer Kammer unter dem Dache liegen, und Kommandant Belin riet mir, für den Kriegskommissar zu schreiben, weil ich meine Stunden bei den gefangenen deutschen Offizieren noch nicht fortsetzen konnte. Der Kriegskommissar war zwar mit meiner Orthographie zufrieden, aber meine Handschrift gefiel ihm nicht; er konnte mich also nur zum Abschreiben und dann und wann zum Konzipieren brauchen; was aber leserlich rein geschrieben sein mußte, war immer das Werk des Greffiers.


Zu eben der Zeit lernte ich einen Mann kennen, der das Karmeliterkloster nebst deren Kirche an sich gekauft hatte und gleich niederreißen ließ. Ich unterzog mich der Arbeit, die heiligen Mauern und Pfeiler mit niederzuwerfen, erhielt dafür täglich einmal zu essen und 50 Sous in Papier und stand mich dadurch so gut, als man sich in meinen damaligen Umständen stehen konnte. Wenn ich so auf einem Pfeiler stand und die großen Quadersteine losbrach, fiel mir oft der heilige Simon Stylites ein, welcher ehedem – wie man berichtet – so viele Jahre hintereinander auf einer Säule gestanden ist. Da machte ich dann einen Vergleich zwischen jenem geduldigen Heiligen und mir Unheiligen und fand so viel Verschiedenheit, daß ich oft selbst überlaut lachen mußte.

Am Ende jeder Dekade wurden wir ausbezahlt; jeder erhielt alsdann 22 Livres 10 Sous, und so war ich immer imstande, nicht nur zu bezahlen, was ich indessen geborgt hatte, sondern es blieb noch soviel übrig, daß ich die Dekade bei Vienot oder sonstwo ordentlich hinbringen und Burgunderwein zur Genüge trinken konnte, wovon ich zwar jeden Tag etwas trank.

Während der Zeit, als ich in der Karmeliterkirche taglöhnerte, habe ich einmal in Gesellschaft eines Dijoners Stärke ( Amidon) nach Auxonne auf einem Schubkarren gekarrt und andere Waren von da mit zurückgenommen. Freilich war das eben keine angenehme Beschäftigung, allein ich unternahm sie dennoch gern, weil ich da den neuen Wein auf den Dörfern so recht probieren konnte. Es ist in der Tat etwas Köstliches um guten neuen Burgunder.


Ungefähr in der Mitte des Dezember 1794 traf ich den Chirurgus Vallée bei Bienot. Er war freundlich und fragte mich, wie es mir ginge. Ich antwortete ihm: eben nicht zum besten; denn einmal müsse ich in der Kälte arbeiten, und dann schmerze mich meine Wunde auf der Brust oft nicht wenig. Er ließ sich dieselbe zeigen und sagte flugs:

»Hole mich Prinz Condé, du bist nicht klug, daß du nicht ins Hospital gehst! Dort hast du Verpflegung, kannst machen, was du willst, wirst vielleicht auch bald kuriert und triffst da lauter alte Bekannte. Was willst du hier in der Kälte herumkriechen! Geh' ins Spital!«

»Höre, lieber Vallée,« antwortete ich, »du wirst doch sorgen, daß ich im Spital wie sonst gehalten werde? Ich fürchte, ich komme zu oft, der Direktor wird am Ende wohl tückisch.«

»Ei, warum nicht gar! Ich will dem Direktor schon sagen, was wir dir noch schuldig sind. Du bist unser Krankenwärter gewesen, hast deine Sachen ehrlich verrichtet und schleppst dich mit einer gefährlichen Wunde. Man muß dich ordentlich verpflegen und tut es auch gern; komm nur morgen und bleib bei uns, bis die Bäume grün werden.«

Ich folgte. Früh holte ich mir einen Zettel beim Kommandanten Belin, und fuhr ab nach »Jean Jacques« ins Hospital.

Mit Vergnügen denke ich stets an jene Tage zurück, die ich noch zuguterletzt in Dijon im Hospital verlebt habe. Täglich ging ich abends mit Freunden zu Mutter Guignier zu Weine, wo wir oft bis zehn Uhr und noch länger sitzen blieben. Dann schlief ich bis sieben oder acht Uhr, stand sofort auf, ließ mich verbinden und aß hernach zu Mittag. Nach dem Essen ging ich in die Familie des Hospitaldirektors, wo ich sehr brave Leute fand, las weiter in Büchern oder schrieb für andere oder erzählte mir Anekdoten mit einem deutschen Deserteur, der ebenfalls Theologe gewesen und nun Krankenwärter war. Dann aß ich zu Nacht, rauchte eine Pfeife Tabak draußen – im Innern war das Tabakrauchen verboten worden, weil mehrere die Betten angesteckt hatten – und ging hernach zu Weine. Dies ist mein ganzer Lebenslauf im Hospital zu Dijon, genannt »Jean Jacques«.

So lustig dieser Lebenslauf aber auch war, so war er doch nicht ohne die Dornen der Besorgnis. Ich wußte mehr als zu gut, in welcher Gefahr ich wegen Dentzels unentschiedener Lage noch immer stand. Um mich also von dieser geheimen Folter zu befreien, sann ich auf eine ungehinderte Entlassung aus Frankreich, und so schrieb ich gleich nach meiner neuen Ankunft im Hospital an Herrn Bispink in Halle. In diesem Brief gab ich ihm, soweit es ohne Gefahr anging, etwas Nachricht über meine Lage in Frankreich seit meiner Desertion von den Preußen bei Landau. Zugleich bat ich ihn, er möchte mir in einem lateinischen Briefe, der an den Kommandanten Belin adressiert werden müßte, es bezeugen, daß ich aus Altona gebürtig wäre. Dies Zeugnis, fügte ich hinzu, wäre das einzige Mittel, mir ungehinderten Abzug aus Frankreich zu verschaffen.

Herr Bispink hatte von mir seit meinem Uebergang nach Landau keinen Brief erhalten, und erst kurz vor Ankunft meines Dijoner Briefes hatte er erfahren, daß ich zwar noch lebte, allein zu Dijon an der Wassersucht im Lazarett krank läge. Dies hatte den guten Bispink um mich ebenso besorgt gemacht, als vorher die Ungewißheit über meine Lage und die Zeitungsnachricht, daß ich in Frankreich guillotiniert sei.

Es läßt sich denken, daß ihm nichts willkommener sein konnte, als mein eigenhändiger Brief, der von Krankheit u. dgl. nichts erwähnte und mit einemmal den Stachel aller unangenehmen Nachrichten und Gerüchte stumpf machte. Voller Freude hatte er sich sogleich angeschickt, alles aufzubieten, um zu meiner Befreiung aus Frankreich nach Möglichkeit mitzuwirken.

Er bemühte sich um eine schriftliche Fürbitte für mich von dem französischen General d'Oyré an den Kommandanten Belin und um noch eine an den Sekretär bei dem französischen Gesandten Barthélemy zu Basel. Diese und seine Briefe trug er selbst nach Leipzig und übergab sie dort zur sicheren Beförderung fürs weitere.

Alles dies war in Zeit von zehn Tagen zustande gekommen. Die Zeit ward mir indes gar lang, ehe Bispinks Antwort kommen wollte, und ich zweifelte schon, ob er meinen Brief erhalten hätte.

Endlich gegen das Ende des Jänners ließ mir der Kommandant Belin sagen, ich möchte gleich zu ihm kommen, er habe einen Brief an mich, der käme weit her, aus Deutschland. O, wie klopfte mir da das Herz! Ich flog zu ihm, und siehe da, ein Brief von meinem Bispink. Es waren eigentlich drei Briefe: einer in französischer Sprache von dem General d'Oyré, der damals als Geisel in Erfurt sich aufhielt und in den humansten Ausdrücken den Kommandanten Belin um meine Entlassung ansprach, dann zwei lateinische Briefe, deren einer unter mehreren anderen Nachrichten über dies und das, mir wie von ungefähr das Zeugnis gab, daß ich in Altona geboren und getauft sei. Dieser Brief war von Bispinks Hand, aber unter erborgtem Namen und unter dem Schreiborte Hamburg. Halle als eine preußische Stadt hätte, wie er gedacht hatte, das Zeugnis für mich als einen preußischen Deserteur verdächtig machen können. Der andere lateinische Brief von jemandem namens Adler aus Altona erzählte mir zu meiner höchsten Betrübnis, daß dieser brave Mann ein Entzündungsfieber gehabt habe und dem Tode nahe gewesen sei. Eben dieser Freund Adler riet mir, daß ich mich, um als preußischer Deserteur vor jeder Nachstellung sicher zu sein, nach der Schweiz begeben möchte. Vorzüglich empfahl er mir Zürich zu meinem Aufenthalt. Bispink hatte nämlich zugleich einen Brief an Herrn Geßner in Zürich geschickt, mit dem Auftrag, mich bei meiner Ankunft angemessen kleiden zu lassen und mir zu meiner weiteren Reise 3 Karolin in seinem Namen vorzustrecken. Dieser Brief enthielt zugleich einen an mich mit einem Paß für mich auf Halle und der Nachricht, daß ich vom Soldatenstande völlig entlassen sei. Dies konnte mir in den Briefen nach Dijon nicht gesagt werden, und Bispink hatte es für gefährlich gehalten, die erwähnte Anweisung für mich jemandem in Basel aufzutragen: er hatte ein Gerede darüber befürchtet und dadurch – in Barthélemys Nähe – Scheiterung seines Projektes. Die Herren Baseler ließen mich aber nicht nach Zürich, und so warf mich diese meine Unwissenheit wieder in einen Strudel, der meine Zurückkunft nach Halle über ein halbes Jahr verzögerte.

Nachdem ich dem ehrlichen Belin die lateinischen Briefe erklärt hatte, so sagte er, indem er mir die Hand drückte: »Nun hast du gewonnen, Laukhard! Nun kannst du in dein Deutschland zurückgehen, wann du willst. Ich bin wirklich recht froh darüber: denn ich dachte immer, der Henker möchte mit dir noch einmal so sein Spiel auf der Guillotine haben. Du verstehst mich. Jetzt geh' nach dem Departement und fordre auf diese Briefschaften einen Paß nach der Schweiz.«

Auf dem Departement wurden meine Briefe vorgelesen, und als einer von den Beisitzern die Bedenklichkeit äußerte, daß das kein ordentlicher Taufschein sei, indem er von keinem Geistlichen unterzeichnet wäre, so sagte der Präsident:

»Ist etwa das Zeugnis aus dem Briefe eines ehrlichen Laien nicht ebenso gut, als das Attest eines Priesters? Wir Franzosen haben wohl noch Ursache, auf Priester zu bauen! Genug, das Zeugnis ist gut, und Citoyen mag nach Hause gehen!«

Ich erhielt also von dem Departement eine Ausfertigung, nach welcher Nardot, der Kriegskommissar, mir einen Paß nach Basel geben sollte. Dieser lachte, als er schreiben mußte, ich sei aus Altona. Denn ich hatte ihm von meinen Begebenheiten einiges vorerzählt, und so wußte er recht gut, woher ich war. Aber auch er war mir gut, und froh, daß ich auf diese Weise aller Gefahr entgehen konnte, und schrieb mir den Paß.

Hier mag vielleicht mancher aristokratische Leser die Nase rümpfen und sagen: Der Verfasser lobt den Zivismus oder die Anhänglichkeit der Franzosen ans Gesetz; nach seinem eigenen Geständnis wußten Belin und Nardot, daß es mit seinem Geburtsort Altona nicht richtig war, und doch waren sie, wie er zu verstehen gibt, recht brave Bürger. Wo bleibt aber hier ihre Bravheit, da sie ihre Mitbürger hintergehen halfen und wenigstens den Betrug nicht entdeckten?

Meine Herren! die Bürger Belin und Nardot wußten, daß es der Republik ganz gleichgültig sein konnte, ob ich aus Altona oder Konstantinopel oder gar Otaheiti gebürtig war. Dann waren sie meine Freunde; verrieten sie mich, so war der Schaden für mich groß, sehr groß, und der Nutzen für den Staat – eine Null! Das Schreckenssystem hatte alle feinfühligen Franzosen nur noch mehr humanisiert, und so gönnte man mir Leben und Blut.

Der Kommissar riet mir, in Dijon zu bleiben, bis es bessere Witterung und warm wäre; denn, sagte er, in der Franche-Comté wirst du schlechte Wege treffen und nicht fortkommen. – Aber ich hatte noch einen triftigen Grund, mich bald von dannen zu machen.

Ich hatte, da ich von Herrn Bispink immer keine Antwort erhielt, an meine Mutter geschrieben und um meinen Taufschein gebeten. Es war nämlich seit meinem Schreiben an Bispink auch den linksrheinischen Pfälzern erlaubt worden, nach Hause zu gehen, weil man jene Provinzen damals auch als der Republik eigen ansah. Es war mir sehr wahrscheinlich, daß meine Mutter bald antworten würde, und dann kam der Brief, wie alle für die Gefangenen und Deserteure, an den Kommandanten Belin, und dann, was würde der ehrliche Mann gedacht haben, oder vielmehr, was hätte er zu seinen Mitbeamten sagen sollen? Um also dem einen wie dem andern vorzubeugen, entschloß ich mich kurzweg, gleich den anderen Tag abzufahren.

Die deutschen Offiziere waren froh, daß ich fortkonnte, und einige derselben versorgten mich noch mit Assignaten auf die Reise; ebendieses tat auch der Spitaldirektor. Den größten Teil der Nacht brachte ich in der Schenke der Mutter Guignier zu und ging erst nach zwölf Uhr, zwar nicht betrunken, aber auch nicht ganz nüchtern, nach Hause. Im Spital erwartete mich ein preußischer Gefangener von den Bellingschen Husaren, ein geschickter Schneider und braver Mensch, der nicht weit von meinem Bette lag. Er war meinetwegen aufgeblieben und bat mich, ihm zu erlauben, daß er sich an mich auf meinem Wege anschlösse, um zu versuchen, aus Frankreich herauszukommen. Ich hielt es für Pflicht, einem Kameraden den Ausgang aus Frankreich zu erleichtern, und sagte ihm, er solle den anderen Morgen vor der Stadt auf mich warten. Ich brauchte nicht zu fürchten, verraten zu werden, denn der Husar verstand kein Wort Französisch, und wenn er wäre angehalten und ich seinetwegen befragt worden, so hätte ich gesagt, daß ich von seiner Geschichte nichts wisse und daß es meine Schuldigkeit auch nicht sei, danach zu fragen.

Früh konnte ich mich beinahe nicht losmachen aus dem Hospital. Die Chirurgen, der Direktor, die Krankenwärter und viele Kranke redeten alle auf mich ein, und fast jeder wollte mir etwas mitgeben. Der deutsche Wärter drang mir ein ganzes Brot auf, der Direktor ein Fläschchen feinen Franz, der Apotheker ein Gläschen liquor anonymus, und mehrere Krankenwärter ihre Fleischportionen vom vorigen Abend, die sie für mich aufgespart hatten. Endlich kam der Portier und brachte mir einen großen Pack Rauchtabak. – Sie weinten alle, und ich war so tief gerührt, daß ich ihnen nur die Hände drücken, aber kein Wort sprechen konnte.

Betäubt ging ich durch die Straßen von Dijon, und erst vor dem ehemaligen Peterstor konnte ich mich wieder fassen und zurück blicken. Hier stieg nun folgender Gedanke bei mir auf, der mein ohnehin schon verwirrtes Gemüt nur noch mehr zerrüttete:

Du gehst jetzt aus einem Lande, in welches du auf die unwürdigste Art von der Welt getreten bist. Du hast wollen das Deinige beitragen, die Freiheit einer edlen Nation stürzen zu helfen – eine Freiheit, deren wohltätigen Einfluß du selbst gefühlt und genossen hast. Geh', Laukhard, schäme dich! Du bist ein Niederträchtiger, ein Verworfener. Sprich ferner nicht mehr von Schurken, denn du gehörst in ihre Klasse, stehst mit unter den Verächtlichsten. Die Franzosen hätten recht gehabt, wenn sich dich deiner Unternehmungen wegen mit dem Tode bestraft hätten. Aber wie sind sie mit dir verfahren? – Welchen Ersatz kannst du ihnen geben? – Hier faßte ich den festen Vorsatz, von den Franzosen niemals anders zu reden oder zu schreiben, als wie es die Wahrheit nach meiner Ueberzeugung fordere. Und durch diesen Vorsatz wurde ich um etwas beruhigt.


Mein Husar kam bald zu mir, und wir gingen stracks fort auf Auxonne zu. Aber schon den Nachmittag fing es an zu regnen, so daß wir eine Stunde vor dieser Stadt auf einem Dorfe übernachten mußten. Ein reicher Bauer gab uns Quartier. Es war schon ein alter Mann, dessen Sohn tot, dessen Enkel aber im Felde waren. Drei Töchter seines Sohnes, deren Mutter und er versahen ihnen die Wirtschaft, wobei ihnen auch ein Kriegsgefangener aushalf. Die Leute waren sehr munter, und als ich ihnen sagte, daß mein Reisegefährte ein Schneider sei, so bat ihn der Alte, er möchte ihm seinen Rock ausbessern. Der Husar war dazu willig, und alle gaben ihm das Zeugnis, daß er seine Sache hübsch mache, daß es schade sei, daß er fort wolle, und daß er sogar auf ihrem Dorfe recht gut würde leben und sich durchbringen können. Die Mädchen schäkerten endlich mit uns, und ich merkte, daß der Husar nichts mehr bedauerte, als daß er mit ihnen nicht sprechen konnte.

Die Leute gaben uns zu essen, und als der Alte sowohl als die Mädchen fortfuhren, zu bedauern, daß ein hübscher Mensch, der ein Handwerk verstände, ihr Land verlassen wolle, worin er doch weit besser als in Deutschland leben und sein Auskommen finden würde – so wollte ich meinen Spaß haben und sagte zum Alten, wenn er meinem Reisegefährten eins von den Mädchen zur Frau geben wollte, so wollte ich ihm den Vorschlag tun, da zu bleiben. Dazu könnte wohl Rat werden, antwortete der Alte mit Lächeln. Ich erklärte dies meinem Husaren, aber auch mehr schnurrig als ernsthaft, und dabei blieb es für den Abend. Früh aßen wir noch Suppe mit den guten Leuten und gingen nach Auxonne, wodurch auch der Husar mußte, weil er sonst nicht über die Saône konnte, über welche hier eine Brücke geht. In Auxonne lagen auch Preußen, unter welchen der Husar Bekannte hatte, die er besuchen wollte, während ich meinen Paß unterschreiben und mir Brot und Geld geben ließ. Ich bestellte ihn in ein Weinhaus, wo wir unser Bündel abgelegt hatten, und ging. Als ich zurückkam, war mein Husar noch nicht da; ich ließ mir also etwas geben und wartete: aber vergebens. Daran aber war ich wohl schuld, und zwar so per accidens; denn unterwegs von dem Dorfe an bis Auxonne sprach ich von den Vorteilen, die einer haben könnte, der in Frankreich bleiben und sich da durch seine Arbeit nähren wollte. Und da ich merkte, daß das eine Mädchen, welches sehr bei Fleische war, Eindruck auf den Husaren machte, so strich ich das Glück heraus, welches er da auf dem Dorfe haben könnte.

Diese Vorstellung hat dem guten Menschen vielleicht eingeleuchtet, denn nach langem Warten ging ich endlich ins Kloster zu den Preußen, und fragte nach dem Husaren. »Ja,« hieß es, »der ist zurückgegangen, er hat gesagt, er getraue sich nicht, durchzukommen.« Wahrscheinlich war er wieder auf das Dorf zurückgeeilt. Nun, es bekomme ihm wohl!


Ich marschierte nun ohne besondere Abenteuer der Grenze zu, und als ich nach Bourg libre, wie das frühere Saint Louis nun hieß, gelangte, befragte ich mich, was ich zu tun hätte, um ohne Hindernis nach Basel zu kommen. Man wies mich an einen Greffier, welcher meinen Paß aus Dijon an sich hielt und mir ein Zettelchen von seiner Hand gab, nach welchem die Grenzwache auf der Chaussee angewiesen wurde, mich durchzulassen.

Als ich über die Grenze kam, hatte ich eine ganz eigene Empfindung. Ich war freilich recht herzlich froh, endlich einmal wieder in einem Lande zu atmen, wo ich weiterhin keine Gefahr mehr zu besorgen hatte, wegen eines Auftrags, dem ich mich so unbesonnen unterzogen hatte. Allein auf der andern Seite verließ ich doch ungern ein Land, in welchem ich mehr gesehen und mehr erfahren hatte, als ich je wieder sehen und erfahren kann, ich mag hinkommen, wo ich will, und sollte ich Methusalems Alter erreichen.


 << zurück weiter >>