Friedrich Christian Laukhard
Magister F. Ch. Laukhards Leben und Schicksale – Band II
Friedrich Christian Laukhard

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Vierzehntes Kapitel.

Abmarsch nach dem Innern Frankreichs. – Straßburg. – Das Palais Darmstadt. – Das Münster. – Besuch bei Eulogius Schneider. – Die Geschichte dieses Mannes. – Seine Ode auf Friedrich den Großen. – Seine Grausamkeiten. – Doktor Lobstein. – Bibelbeweise. – Weitermarsch nach Besançon. – Hauptmann Landrin. – Ich sehe zum erstenmal eine Hinrichtung auf der Guillotine. – Man gewöhnt sich dran. – Gespräch über die Freiheit. – Die Pflichten. – Zukunftsträume eines Republikaners.

Den 28. Dezember wurde Landau förmlich geöffnet, denn da waren die Preußen völlig abgezogen und hatten ihren Weg nach Germersheim zu genommen. Der General Feuvre bezog die Festung, und Laubadère nebst Delmas und der bisherigen Garnison zogen ab.

Die Deserteure, zu welchen ich damals noch gerechnet wurde, sollten in Begleitung von zwei Gendarmen nach Weißenburg und von da weiter nach Frankreich gebracht werden; mir aber wurde gesagt, daß der Repräsentant und der General befohlen hätten, ich sollte noch da bleiben. Diese Worte erschreckten mich; da man mich aber nicht festsetzte und der Befehl von Leuten kam, denen eine Untersuchung auf meiner Seite eben nicht sehr willkommen sein konnte, so beruhigte ich mich.

Die Deserteure gingen den 28sten früh um 9 Uhr aus Landau. Gleich darauf begab ich mich zum Adjutanten Doxon, um ihn zu fragen, warum ich nicht folgen sollte. – »Ei was!« sagte dieser, »da steckt gewiß ein Mißverständnis. Laubadère geht noch heute weg und kann sich für jetzt nicht mit dir befassen. Geh' du immer nach Weißenburg und sei in Zukunft ein guter Citoyen; dann wird dir's schon noch gut gehen.«

Ich nützte diesen Wink und verließ Landau um 11 Uhr, nachdem ich noch vorher mit dem braven Brion gegessen und von ihm und seiner guten Familie Abschied genommen hatte.

Wir mußten bis auf den 30. Dezember nachmittags in Weißenburg bleiben, weil wir mit einem Transport Kriegsgefangener nach Straßburg wandern sollten. Wir waren an Zahl etwa 60 Deserteure und 600 Gefangene. Ein Kapitän und 50 Volontäre begleiteten uns, doch ohne auf uns scharf acht zu geben. Da hernach in Straßburg die Zahl nicht mehr ganz voll war, so glaube ich, daß mehrere weggelaufen sind.

In Straßburg lief alles auf, als wir ankamen, und schrie: Es lebe die Republik! – »Seht,« rief einer dem andern zu, »hier gehen von den Leuten, welche uns unterdrücken wollen! Hört einmal, ihr Leute, was macht euer Kaiser? Ist er noch offenen Leibes?« u. dgl.

Auf dem großen Platze wurden wir gezählt und hernach in das ehemalige prächtige Palais des Landgrafen von Darmstadt geführt, wo man unsre Namen aufschrieb. Die Preußen und Österreicher wurden getrennt, und diese erhielten nicht so gutes Quartier als jene (wegen der von ihnen verübten vielen Greueltaten); aber Gefangene und Deserteure blieben noch immer beisammen. Wir wurden sehr gut verpflegt, erhielten Brot, Fleisch und Wein, und lagen auf guten Strohsäcken in warmen Zimmern.

Ich hatte ehemals dieses Palais oder Hotel Darmstadt, eins der schönsten und größten Gebäude in ganz Straßburg, schon gesehen; aber zu der Zeit war es noch die Wohnung eines Fürsten, wenigstens wohnte der Landgraf allemal da, wenn er nach Straßburg kam. Aber jetzt war das Wappen über dem Tor zertrümmert, die Gemälde und anderen Dekorationen der Zimmer waren auch nicht mehr, und in den großen Sälen lag Holz und Stroh. – Alles währt eben nur eine Zeitlang, und Paläste sind dem Verderben ebensogut ausgesetzt, wie kleine Hütten.

Ich wollte, weil ich in Straßburg Bekannte hatte, ausgehen, und wendete mich deswegen an den »Kommis«, welchem die Aufsicht über die Deserteure und Gefangenen anvertraut war; aber dieser entschuldigte sich und sagte, daß er das nicht erlauben dürfte, aber der Kriegskommissar würde wahrscheinlich am andern Morgen kommen, und der würde mir es wahrscheinlich gestatten. Früh kam dieser wirklich, und als er hörte, daß ich den Eulogius Schneider, damals öffentlichen Ankläger bei dem Tribunal zu Straßburg, besuchen wollte, erlaubte er mir nicht nur, auszugehen, sondern schenkte mir noch drei Livres in Papier, pour boire à la santé de la République.

Ich ging aus, und mein erster Gang war nach der Kathedralkirche oder dem berühmten Münster. Allein wie fand ich da alles verändert! Das ganze Münster war ausgeleert, alle Heiligenbilder, alle Wappen, prunkvollen Grabschriften, Altäre, kurz alles, was ehemals die Augen der Betrachter auf sich gezogen hatte, war weg. Man hatte aus dem Münster den Tempel der Vernunft gemacht, d.i. den Ort, wo man zusammenkam, republikanische Reden anzuhören usw.

 

Ich kannte den berühmten und berüchtigten Eulogius Schneider nicht von Person, aber seine Schriften hatte ich gelesen, und er war mir als ein zu guter Patriot beschrieben worden, als daß ich hätte fürchten sollen, er möchte über meinen Besuch böse werden. Ich wollte den Mann kennen lernen, und wird er böse, dacht' ich, was liegt daran? Er ist ja nur ein Citoyen und kein großer Herr oder Fürst.

Ich fragte nach der Wohnung des öffentlichen Anklägers; man sah mich bedenklich an und wies mich dahin. Ich glaubte, aus den Gesichtern derer, die ich fragte, die Gegenfrage zu lesen: willst du etwa jemand angeben und auf die Guillotine bringen?

Ich kam zu ihm, als er eben einige Bürger bei sich hatte, mit denen er heftig debattierte. Er kam mir entgegen. »Was willst du?« sagte er auf deutsch zu mir.

Ich: Den berühmten Mann kennen lernen, der durch Philosophie den Aberglauben besiegte, der einem unnützen Stand entsagte, um der Menschheit zu nützen, den Deutschland als einen seiner besten Dichter und Frankreich als einen der wärmsten Republikaner schätzt!

Schneider: Das sind Komplimente, Freund! Ich bin bloß stolz, daß ich der Republik dienen kann. Aber wer bist denn du?

Hier erfolgte eine kurze Biographie von meiner Seite, worauf Schneider fortfuhr:

»Schön, mein Freund, du tust recht, daß du dich nach Frankreich begibst! Sei gutgesinnt, und du wirst glücklich sein. Aber sag' mir doch, wie spricht man von mir bei euch?«

Ich: Die Klugen loben und ehren dich; die Gelehrten und Virtuosen schätzen deine Verdienste, aber die Pfaffen, die Bigotten –

Schneider (lachend): Ich verstehe dich schon: Nicht wahr, diese sprechen, ich sei ein Apostat, ein Ketzer, ein Freigeist, ein Taugenichts und wer weiß was sonst noch mehr. Das kann ich mir alles schon recht gut vorstellen; aber ich kümmere mich nicht darum. Ich bin ein Apostat vom Kirchensystem und bin froh, daß alle braven Männer denken wie ich. Die Religion der Pfaffen ist ebenso schädlich, als der Despotismus der Fürsten; beides muß zerstört werden, wenn das Volk glücklich werden soll.

Schneider fuhr in diesem Tone noch lange fort, und seine Lebhaftigkeit, sein gesunder starker Ausdruck und seine Teilnahme an meinen Schicksalen entzückten mich. Er gab mir beim Abschied ein Assignat von 10 Livres.

Dieser Mann ist zu merkwürdig, als daß ich meinen Lesern das vorenthalten sollte, was ich nachher noch von anderen über ihn erfahren habe; denn er ist einer von denen, welche Abscheu und Achtung zugleich verdienen.

Eulogius Schneider war erst Franziskaner, dann Hofprediger zu Stuttgart, nachher Professor zu Bonn und endlich Vikarius des Bistums zu Straßburg und Professor der Theologie. Seine Verdienste um die Literatur und seine vortrefflichen Gedichte, vorzüglich seine Ode auf Friedrich den Großen, sind bekannt. Ueber die Meinungen, die er in diesen Versen ausdrücken wollte, hat er sich später in einer Flugschrift, die seine Verwicklungen mit dem Maire Dietrich und seine bissigen Angriffe auf diesen betraf, folgendermaßen ausgelassen:

»Am württembergischen Hofe schrieb ich ein Gedicht auf Friedrich II. und sagte unter anderm von dem großen Manne:

Verkriechet euch, Despoten! was schauet ihr
Ihm ins Gesicht? Er tränkte den Schmeichler nicht
Mit Waisenblut, und feile Dirnen
Mästet' er nicht mit dem Mark des Bürgers!

In seinem Kerker faulte der Denker nicht.
Sein Zensor fraß nicht, gleich dem Getreidewurm,
Der Schriften Kern aus, daß die Hülsen
Schmachtenden Lesern den Gaumen ritzten.

Sein Glaube war nicht künstliches Wortgeweb',
Nach keines Wurmes dreistem System geformt;
Nicht millionenfach durchflochten.
Einfach, wie Gott und die Wahrheit, war er.

Verheerten Friedrichs Jäger die Hoffnungen
Des Landmanns spottend? usw.

›Was?‹ hätte der Herzog sagen können. ›das ist eine Satire auf Mich! Denn sehet nur, der Heuchler lobt Friedrich auf meine Kosten. Ich sehe mich in diesem Bilde wie im Spiegel. Der Despot, der sich vor dem Antlitz des großen Königs verkriechen soll, bin Ich! Mir wirft er vor, daß ich meine Spione und Schmeichler mit der Habe der Waisen nähre und daß ich auf Kosten meines Landes Buhldirnen halte. Die zweite Strophe zielt offenbar auf meine Ungerechtigkeit gegen Schubart, den ich mir nichts dir nichts zehn Jahre auf dem Hohenasperg im Gefängnis sitzen ließ. Zugleich tadelte er meine strenge Aufsicht über das Bücherwesen und meinen Abscheu vor Publizität. In der dritten Strophe spottet er meines falschen Religionseifers und meines Aberglaubens. Denn ob ich gleich ausschweifend lebe, so glaub' ich doch alles, was mir die römisch-katholische Kirche zu glauben vorlegt. – Von der vierten Strophe will ich gar nicht sprechen; man sieht ja offenbar, daß sie auf meine Parforcejagden und Wildhegungen zielt‹ – So hätte der Herzog oder in seinem Namen ein Hofjunker oder Schreiber sagen können. Aber der Herzog und seine Junker und seine Schreiber sagten kein Wort, und man glaubt, daß sie sehr weislich daran taten.«

Das kam tief aus Schneiders Seele! Wahrheit wollte er reden, kühn und ohne Menschenfurcht. Schade, daß er zuviel Spott einmischte und erbitterte, wenn er bessern wollte.

 

In Straßburg wurde Schneider, der vorher schon Mitglied des dortigen Jakobinerklubs gewesen war und aller Augen durch seine Beredsamkeit auf sich gezogen hatte, endlich öffentlicher Ankläger. Dieses ist ein Amt, wobei es sehr schwer ist, den ehrlichen Mann zu machen, und noch weit schwerer, es ohne Verdacht der Spitzbüberei, der Rachsucht und der Ungerechtigkeit zu verwalten, aber schlechterdings unmöglich, ohne Feinde, ohne bittere, rachgierige und schreckliche Feinde zu bleiben. Eulogius Schneider hätte so ein Amt bei seiner Lebhaftigkeit gar nicht annehmen sollen. Gleich anfangs bekam er Händel mit dem Exmaire Dietrich, der die schönste Frau im ganzen Elsaß hatte. Die skandalöse Chronik sagt, Schneider habe der Madame Dietrich schändliche Vorschläge getan, sei aber von ihr spöttisch abgewiesen worden, und daher käme sein Haß gegen ihren Mann. Indessen ist es auch wahr, daß Dietrich gegen sein Vaterland sehr konspirierte und ein Erzroyalist war.

Schneiders Wirksamkeit fiel gerade in die Zeit des Maratismus, sonst auch Terrorismus, Jakobinismus oder Schreckenssystem genannt, nach welchem jeder halbwegs Verdächtige, jeder, der nur schien, ein Aristokrat, ein Gönner des Königtums oder der Emigranten zu sein, sofort eingesteckt und nach kurzer Untersuchung auch bei nur scheinbaren oft an sich unbedeutenden Beweisen hingerichtet wurde. Und da soll Schneider sein Amt zu weit getrieben, soll blutdürstig gehandelt haben und ist wegen angeschuldeter Freveltaten und Ungerechtigkeiten mit mehreren Richtern des Tribunals zu Straßburg gegen das Ende des Germinals im zweiten Jahre der Republik (im April 1794) zu Paris hingerichtet worden.

Sein Urteil, das ich in Frankreich hin und wieder angeschlagen gefunden habe, bringt mit sich, daß Schneider einen übertriebenen Stolz und Herrschsucht geäußert habe, daß er nach seinen Leidenschaften Leute eingesteckt und hinrichten habe lassen, deren Unschuld hernach an den Tag gekommen sei; daß er andere Schuldige für Geld und für Gunstbezeugungen ihrer Weiber und Töchter losgelassen, daß er die konfiszierten Güter an sich gezogen habe u. dgl.

Bei meiner Zurückreise aus Frankreich nach Deutschland hörte ich im Oberelsaß zu Befort und Altkirch die obigen Punkte nicht nur bestätigen, sondern noch vermehren. Die Bauern und Einwohner des Elsasses fluchen dem Andenken des Astrologius Schneider noch immer. Ich wollte auf einem Dorf bei Altkirch einen Bauern eines Besseren belehren und sagte ihm, Schneider habe mit dem Vornamen Eulogius geheißen. »Ei was!« erwiderte der Bauer, »ich muß doch wohl wissen, wie der Tausendsabbermenter geheißen hat: Astrologius hat er geheißen! Der verfluchte Kerl hat mir meinen Schwager auch köpfen lassen, bloß weil er einem Geistlichen ein Nachtlager vergönnt hatte.«

Schneider hat freilich große Fehler begangen; ob er aber auch jene scheußlichen Ungerechtigkeiten, jene bestialischen Grausamkeiten verübt habe, läßt sich nach den Berichten der Elsässer noch nicht ausmachen: die Gärung ist dort noch zu groß, und darum ist ein unparteiisches Urteil über einen solchen Mann von dieser Seite noch immer nicht zu erwarten.

Die Schneider-Geschichte gibt aber die Regel: daß ein Ausländer auf einem Posten, wo viel gehässige Tätigkeit und viel Vorsicht nötig ist, selten sein Glück auf eine dauerhafte Art mache. Die öffentlichen Ankläger in Frankreich, die während des Terrorismus im Gange waren, sind nachher beinahe alle gestürzt worden. Selbst Fouquier-Tinville in Paris, der so viele zur Guillotine befördert hat, mußte endlich selbst hinaufsteigen. Diese Leute gleichen den Ruten, die man ins Feuer wirft, wenn man sie genug gebraucht hat.

 

Nachdem ich den Eulogius Schneider persönlich kennen gelernt hatte, wollte ich auch den Erzphantasten, Johann Michael Lobstein, besuchen, weil ich ehemals in einiger Verbindung mit ihm gestanden war. Man zeigte mir sein Haus, als ich aber hereintrat, erfuhr ich von seiner Frau, der Tochter des ehemaligen Professors Diez in Gießen, daß er nicht zu Hause sei, und auf meine Frage, ob er bald kommen würde, antwortete mir das noch immer hübsche Weibchen, daß er unter einer ganzen Dekade, d. i. in 10 Tagen, nicht wiederkäme. Auf dem Wirtshaus »Zum tiefen Keller« fragte ich so unter anderm auch nach dem Doktor Lobstein. »Ja,« sagte der Wirt, »der steckt fest, der sitzt auf dem Gemeindhaus!« Ich erschrak, daß auch Lobstein einsitzen sollte, fragte nach der Ursache und hörte folgende:

Lobstein war gleich beim Anfang der Revolution mit dem neuen System nicht zufrieden. Er war eines von jenen geduldigen Schafen, welche sich um Jesu Christi willen traktieren lassen, wie man nur verlangt. Er hielt dafür, daß dieser Zeit Leiden nicht wert seien der Herrlichkeit, die an uns soll offenbaret werden, und daß man folglich ohne große Sünde sich seiner Schmach noch Bedrückung entziehen dürfe. Zudem sei Ludwig XVI. König und Obrigkeit, und es sei doch nach dem klaren Ausspruch Pauli (Röm. 13.1) keine Obrigkeit ohne von Gott. Auch befehle der heilige Petrus (Bf. I, Kap. 2, 13) allen Menschen, untertan zu sein aller menschlichen Ordnung. Niemand dürfe, laut dem Buche der Weisheit im 6. Kap. 4. Vers, fragen, wie die Obrigkeit handle noch was sie mache; es sei daher ein frevelhafter Eingriff in die Rechte der Obrigkeit, welche ihr von Gott seien gegeben worden, wenn man ihre Taten mustern wollte. Selbst der Herr Christus bekenne (Joh. 19,11), daß Pilatus die Gewalt, unrecht zu tun und unschuldige Menschen zu geißeln und zu kreuzigen, Schuldige aber loszulassen, von oben herab, d. i. von Gott, erhalten habe. – Man sieht hieraus, daß Friedrich der Große nicht unrecht hatte, als er die Bibel eine wächserne Nase nannte, die jeder Sektierer zu drehen und zu modeln suche, wie sein Ammenglaube und sein Katechismus es wolle. Lobstein zitierte die Bibel, um die Königschaft in Frankreich aufrecht erhalten zu helfen, Cromwell zitierte sie, um in England das Gegenteil zu bewirken. Also –

Solch wunderliches Zeug, das freilich so recht aus dem verhunzten Bibelwesen entspringt, predigte der Schwärmer Lobstein im Anfang der Revolution seinen Pfarrkindern zu Straßburg ohne Aufhören. Aber als gegen das Ende des Jahres 1793 aller öffentliche Gottesdienst vollends aufgehoben und verboten wurde, da konnte er seinen Feuereifer gar nicht mehr bändigen, und er sprühte Flammen und Tod über alle die, welche den Herrn verleugneten und die heilige Religion Jesu, des Sohns des lebendigen Gottes, zerstörten. Er lief, da er nicht mehr predigen durfte und die Kirchen verschlossen waren, von Haus zu Hause, gebärdete sich ganz rasend und unsinnig und drohte im Namen des dreieinigen Gottes, daß nächstens das gottlose Frankreich gleich wie Sodom und Gomorrha untergehen und vernichtet werden würde. Alle Anhänger der verfluchten Rotte zu Paris würden hinabfahren in den Pfuhl, der mit Pech und Schwefel brenne u. dgl.

Anfänglich ließ man den Narren gehn und faseln; als es aber zu arg wurde und einige schwache Köpfe wirklich bei dem unsinnigen Gepredige stutzten und anfingen, die göttlichen Gerichte und das vom Himmel fallen sollende Pech und Schwefel zu fürchten, so steckte man ihn ein und bekümmerte sich um ihn nicht weiter. Er ist auch, unerachtet er unaufhörlich darum bat, weil er gern ein Märtyrer für seine Fratzen geworden wäre, nicht bestraft, ja nicht einmal verhört worden. Er ist indes lange gesessen und starb erst im Anfang des Jahres 1795 im Gefängnis zu Straßburg.

Freund Herrenschneider, den ich im ersten Band als rheingräflichen Hofprediger vorgeführt habe, hat es klüger gemacht: er ließ den Mantel hübsch nach dem Winde hängen und predigte damals den Jakobinismus und den Deismus im Klub, wie ehemals die Höllenfahrt des Herrn Jesu.

Den 3. Jänner zogen ungefähr 80 Deserteure und 400 Kriegsgefangene aus Straßburg nach Schlettstadt zu. Wir wurden durch 40 Mann Volontäre, alle vom Bataillon du Var, begleitet, und ein Hauptmann, namens Landrin, führte das Kommando. Dieser Mann hatte einen äußerst feurigen roten Kopf, und ich versprach mir eben darum wenig Gutes von ihm, nach dem alten deutschen Sprichwort: »Rot Haar und Erlenholz wächst auf keinem guten Boden«. Aber ich ward bald zu meiner Freude gewahr, daß ich mich an Landrin geirrt hatte. Einige Stunden von Straßburg hielten wir in einem Ort an, weil noch eine Fuhre herbeigeschafft werden mußte, um einige erkrankte Kaiserliche mit wegzubringen. »Es ist doch vom Teufel,« sagte der Hauptmann zum Sergeanten, »daß keiner von uns Deutsch und keiner von den Gefangenen Französisch versteht. Da kann ich nun nicht einmal den Leuten sagen, was ich haben will.« – Ich hörte dieses, lief hin und sagte, daß ich Deutsch und Französisch verstünde. »Das ist brav,« sagte der Hauptmann, »von nun an sollst du mein Dolmetscher sein.« Ich mußte sofort mit ihm trinken und den ganzen Weg bis Schlettstadt mit ihm sprechen. Er war ein sehr muntrer Mann, dem schon bei einer Attacke der linke Arm lahm geschossen war. Er war aber nicht abgegangen und hatte die Pension nicht genommen, die jedem Verstümmelten nach der Verordnung der Nation von Rechts wegen zukommt.

Ich bin in dieses Landrins Gesellschaft von Straßburg bis Besançon in der Franche Comté geblieben und habe ihm viel zu verdanken, wie ich denn beinahe allerorten, wohin ich gekommen bin, brave Leute getroffen habe.

In Kolmar sah ich zum erstenmal eine Exekution mit der Guillotine. Ein Dorfmaire wurde hingerichtet, weil er einen Geistlichen, der den Eid nicht schwören wollte, einige Zeit bei sich verborgen gehalten hatte. Er bestieg das Gerüst mit vieler Geistesgegenwart und sagte noch, ehe er niedergelegt wurde, recht laut: »Ich bin doch kein Schelm!«

Ich muß gestehen, daß die Guillotine damals einen seltsamen Eindruck auf mich gemacht hat, den ich den ganzen Tag nicht verwinden konnte. Der Apparat und die mir ganz fremde Art, jemanden hinzurichten, erschütterten mich gewaltig, ob ich gleich einsah, daß unter den mir bekannten Hinrichtungsarten keine schneller, sicherer und weniger quälend ist, als diese. Der Hinzurichtende kann beinahe gar nichts empfinden als die Todesangst. Die meisten von denen, die ich habe auf der Guillotine sterben sehen, schienen nicht einmal Todesangst zu fühlen; sie waren unerschrocken und plauderten noch, als man sie schon aufs Brett befestigte.

Der Hauptmann bemerkte Niedergeschlagenheit an mir und fragte mich nach der Ursache. Ich gestand ihm, daß der Anblick der Hinrichtung mir durch die Seele gefahren sei. »Mir ist's auch so gegangen,« sagte er, »aber nun bin ich schon dergleichen gewöhnt. Du wirst noch mehr guillotinieren sehen und nicht mehr davor erschrecken.« Er hatte recht; man gewöhnt sich nach und nach auch an die allerscheußlichsten Szenen. Man denke an die Vieh- und Menschenschlächter!

Von Kolmar hatten wir zwei sehr starke Märsche nach Befort. Ich würde mich unterwegs, wie mir der Hauptmann oft riet, des Wagens bedient haben, wenn ich nicht ein böses Beispiel hätte vermeiden wollen, und wenn ich nicht immer gern mit dem braven Rotkopf gesprochen hätte. Jeden Tag erfuhr ich neue Beweise seiner Gutmütigkeit, und ich muß ihm nachsagen, daß er nicht eine Flasche Wein trank, ohne daß ich Anteil daran nehmen mußte. Früh tranken wir Wein und aßen Brot und Knoblauch dazu, » C'est le dejeuner de Henry Quatre,« sagte immer der Hauptmann. Es ist nämlich bekannt, daß dieser große und wahre König, der noch jetzt im republikanischen Frankreich als ein Vater des Volks verehrt wird, nie etwas anderes zum Frühstück genoß, als Wein und Brot.

Mein Hauptmann Landrin hatte manche seltsame Begriffe, worüber wir oft auf dem Marsche disputierten und wobei er recht in Feuer kam. Er meinte nämlich, daß persönliche und gesetzliche Freiheit die einzige Quelle aller Moralität sei, daß aber diese mit der Zeit ihre vortrefflichen Folgen so allgemein in der französischen Republik und bei allen künftighin freiwerdenden Völkern beweisen würde, daß selbst alle bürgerlichen Poenalgesetze überflüssig sein würden. Ich widersprach ihm immer und berief mich auf die Schwachheit der menschlichen Natur und auf die Geschichte aller Völker und aller Zeiten.

»Was willst du,« antwortete er mir mit Feuer, »du berufst dich auf die Geschichte aller Zeiten, und du hast recht; denn bisher ist auf der weiten Erde noch kein freies Volk gewesen, wenigstens noch kein kultiviertes Volk so lange frei geblieben, daß es sich hatte moralisch bessern können. Aller despotische Zwang macht die Menschen böse, denn er macht sie zu Heuchlern und zerstört in ihnen jene Liebe zur Aufrichtigkeit im Reden und Handeln, ohne welche der Mensch unmöglich gut sein kann. Unsere Vernunft irrt sich selten in Rücksicht unserer Pflichten, das mußt du selbst gestehen. Jetzt sag' mir aber, warum wir so selten unsere Pflichten beobachten?«

Ich: Weil wir sinnliche Geschöpfe sind, weil wir, vom Taumel unsrer Leidenschaften hingerissen, die Stimme der Vernunft nicht hören, weil wir –

Landrin: Larifari! Du sprichst ja wie der Pfaffe auf der Kanzel! Ich will dir's besser sagen. Deswegen tun wir Böses, weil wir zuviel Gutes tun sollen, weil man uns zuviel Pflichten aufbürdet.

Ich: Ich verstehe dich nicht, Kapitän.

Landrin: Will dir's erklären. Man hat von allen Zeiten her die wahren natürlichen Pflichten der Menschen nicht gehörig gekannt, und daher hat man Zeug zu menschlichen Schuldigkeiten gemacht, das niemals wirkliche natürliche Schuldigkeit war. Alle Gesetzgeber sind in diesen Fehler gefallen, indem sie von Pflichten gegen Gott und gegen den Nebenmenschen räsonniert haben. Denn schau, Bruder, es gibt keine Pflichten gegen Gott, weil wir mit Gott in keinem Kontrakt stehen, und es gibt auch keine Pflichten gegen den Nebenmenschen, mit dem wir nicht im Kontrakt stehen. Verstehst du mich?

Ich: Also dürfte ich ja einen Menschen, mit dem ich nicht im Kontrakt stehe, ermorden, bestehlen?

Landrin: Da haben wir's ja, das liebe Naturrecht, die schönen Zwangspflichten! – Pflicht besteht im Tun-müssen, nicht im Unterlassen-müssen. Sobald du etwas tun mußt, hast du eine Pflicht zu erfüllen. Wenn man dir nun viel zu tun gibt, so gibt man dir viele Pflichten. Dann merkst du aber bald, daß du manches tun mußt, was du eigentlich zu tun nicht schuldig bist, d. h. du siehst ein, daß du Pflichten hast, die keine sind. Diese übertrittst du leicht, denn dein Gewissen macht dir keine Vorwürfe. Aber da du es doch heimlich tun mußt, aus Furcht vor der Strafe, so wirst du unaufrichtig, falsch und heuchlerisch im Reden und Handeln, und der Hauptschritt zur Immoralität ist getan. Bisher hast du bloß die Stimme der Vernunft noch gehört und eben deswegen auch keine wahre Schuldigkeit vernachlässigt, aber bald wirst du auch die Stimme der Sophisterei und der Leidenschaft hören und wirkliche Laster begehen. Du siehst dies an allen verwöhnten hitzigen Leuten. Erst verleitet sie ihr Temperament, sich über das Lästige und Zuviele der despotischen Konvenienz hinauszusetzen. Ihre Sinnlichkeit befindet sich bei dieser Lebensart behaglich. Sie gehen weiter, werden zügellos, und beruhigen sich durch die sophistische Stimme der Leidenschaft. Endlich überschreiten sie die natürlichen Pflichten und betäuben, um sich auch dabei zu beruhigen, die echte Stimme der Vernunft und sophistischen Moral und alles, was mit der Erhaltung der vernünftigen Natur des Menschen in Verbindung steht, fort und werden Scheusale. Betrachte den Wollüstling, den Trunkenbold, den Geizhals, den Tyrannen, und du wirst finden, daß ich recht habe.

Ich: Noch sehe ich nicht ein, wohin dein Räsonnement führen soll.

Landrin: Höre nur weiter! Alle Pflicht entsteht aus Kontrakt. Wer seine Schuldigkeit kennen lernen will, muß diesen auch genau kennen lernen. Nun frage ich dich: was ist besser, Freiheit oder Sklaverei?

Ich: Freiheit allerdings!

Landrin: Kann aber ein einzelner Mensch frei sein? Ich: Auf keine Weise.

Landrin: Recht so! Freiheit einzelner Menschen existiert bloß unter freien Völkern. Ein freies Volk ist aber ein solches, das seine Rechte gegen jeden, er sei, wer und was er wolle, verteidigen kann. Die Kraft also eines Volkes, seine Rechte zu verteidigen, macht das Wesen der Freiheit aus. Also ist der Begriff von der Freiheit der Nation für den Republikaner die erste Quelle, der erste Erkenntnisgrund seiner Schuldigkeit, und aus diesem einzigen Begriffe leitet sich alles her, was irgend als Pflicht für ihn ausgegeben werden kann. Außer der Freiheit hast du aber auch dein Eigentum, du hast einen guten Namen, du hast Güter, du hast Gesundheit und noch mehr. Diese Dinge ungestört genießen zu können, heißt das Recht eines Bürgers, und wer dich darin stört, beleidigt dich und wird an dir zum Verbrecher. Also darf dich keiner stören, so wenig du andere stören darfst in dem, was ihnen zusteht. Siehe da die Quellen der wahren Pflichten, welche die Vernunft selbst anerkennt, und gegen welche selbst die Leidenschaften zu schwach sein werden, wenn einmal die Menschen diese heilsamen Grundsätze ihrer Glückseligkeit werden völlig kennen gelernt haben.

Ich: Aber wann wird das geschehen?

Landrin: Sobald die französische Republik den Völkern den Beweis gegeben hat, daß wahre Moral nur in einem freien Staat öffentlich das wahre Glück der Menschen machen kann. In Staaten, wo Despoten regieren, kann nur die Tugend, d.i. das innere Bewußtsein, Gutes getan zu haben und noch ferner Gutes tun zu wollen, die wenigen Weisen beglücken, die sich da finden. Aber im Freistaat macht die Erfüllung der gesellschaftlichen Pflichten auch äußerlich glücklich, gibt Wohlstand, macht geehrt, beliebt, kurz macht den Menschen so, wie er gerne sein möchte. Sag' mir einmal, warum in einer Stadt, worin 3000 Handwerksleute sind, doch wenigstens 2900 fleißig arbeiten?

Ich: Weil ihre Arbeit sie nährt.

Landrin: Schön! Nun nimm an, die Ausübung unsrer Pflichten nähre uns, d.i. mache uns, nicht im Innern – denn so ein Glück ist für die meisten Menschen zu hoch –, sondern im Aeußeren, vollkommen glücklich, versetze uns in Wohlstand usw., so wirst du finden, daß auch von 3000 Menschen allemal 2900 und noch mehrere rechtschaffene Männer sein werden.

Ich, fuhr er voll Enthusiasmus fort, ich bin völlig überzeugt, daß die künftige Generation in Frankreich besser sein wird als die gegenwärtige, und daß man in hundert Jahren die Uebung der gesellschaftlichen Tugenden und der Pflichten gegen das Vaterland für das Wohl der Menschheit allgemein ebenso notwendig halten wird, als man jetzt das Atemholen nötig für das Leben hält. Dann werden die Strafgesetze freilich noch da sein, aber kein Mensch wird sie brauchen; in Erz wird man sie eingraben, und Moos wird sie überziehen. Ihre Sprache wird so veralten, daß die Gelehrten nach Jahrtausenden Mühe haben werden, zu erklären, welche Laster man ehemals und wie man sie bestraft habe. –

Das Urteil über das Räsonnement des ehrlichen Landrin, wie die Würdigung seiner erbaulichen Aussicht in die Zukunft überlasse ich dem Leser.


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