Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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20

Gegen acht war der Klever Postwagen fällig.

Er mußte ihn bringen.

Eine Stunde vorher saß Nellecke in ihrer Kammer und machte sich fertig.

Die brennende Lampe stand neben dem Spiegel. Selten benutzte sie ihn. Heute tat sie es. Nur mit Hemd und Unterrock angetan, sah sie in die helle Fläche und wunderte sich über ihr Aussehn und das Ebenmaß ihrer starken und wohlgerundeten Glieder.

Seit der Stunde, wo sie den Brief an Lambert abgeschickt hatte, war sie ruhig und innerlich zufrieden geworden. Der erste Schritt war geschehen. Das Schlimmste lag hinter ihr. Sie hatte nur noch die letzten Konsequenzen zu ziehen, um ihre Sendung als erfüllt zu betrachten.

Die Vergangenheit hatte ihr nichts mehr zu sagen. Die Gegenwart regierte. Die Zukunft kam näher. Mit ihr gedachte sie sich zu befreunden wie mit irgendeinem Geschick, das man nicht mehr abweisen konnte.

»Für ihn,« sagte sie mit fester Entschlossenheit und sah in den Spiegel.

Unter dem schlichten Linnen hob und senkte sich ihre weiße Fülle. Anfangs entsetzte sie sich vor ihrer eigenen Blüte. Diese verschwiegenen Herrlichkeiten – waren sie ihr denn vom lieben Herrgott gegeben? Alles so rätselvoll und wie von Meisterhänden gebildet. Ihr Haar glänzte wie Weizenkörner. Nacken und Schultern ergänzten sich in bezauberndem Rhythmus. Wie eine feingeschwungene Linie grenzte ihre Oberlippe den Mund ab. Es war ein heißes Dürsten in ihr. Die selige Lust ihres Blutes begann sich zu regen. Bis heute wußte sie nicht, daß sie so schön war. Die klare Scheibe erzählte ihr alles. Wie aus Bronze getrieben erschaute sie ihre Arme, die feste Biegung des Halses, den Ansatz ihrer jungen Formen, die sich plastisch wölbten. Ihre Augen erweiterten sich, wurden groß in ihrem Erstaunen. War sie überhaupt Nellecke van Dornick, die schlichte Tochter eines Schiffskapitäns? So wie in dieser Stunde hatte sie sich noch niemals gesehen. So eigenartig nicht, so begehrenswert nicht. Allerdings – sie hatte einmal ein Bildnis betrachtet. Im Schlosse von Moyland. Das ähnelte ihr. Sie täuschte sich nicht. Es war Jakobäa von Jülich – die Herzogin. Auf ihrer Stirn standen die Worte: »In mir sollt ihr das Weib anbeten.« Gleichzeitig hatte der Kastellan eine große Geschichte verkündet und sie dabei angeschaut, ganz ernst und befremdlich. Das war vor zwei Jahren gewesen. Und jetzt wußte sie es. Der Mann hatte recht. Sie und Jakobäa von Jülich erschienen wie Schwestern. Noch besser: sie war wie die Herzogin selber. Sie freute sich dessen. Doch eins wies sie von sich. Nur nicht werden wie dieses Weib an der Seele; das wollte sie nicht. Aber schön war sie doch – diese Jakobäa von Jülich . . . und sie sonnte sich in dem Anblick ihrer eigenen Schönheit.

Es war, als ob sie einem Gottesdienst, einer Selbstanbetung obläge.

Aber nicht lange. Nur etliche Sekunden währte diese trunkene Selbstschau. Beschämt und in rascher Bewegung nahm sie die Flut ihrer Haare, scheitelte sie sacht auseinander und legte die geflochtenen Strähnen wie eine schwere Krone um ihre wächsernen Schläfen.

Jetzt wieder kalt und eisig, schmückte sie sich, wie eine Braut sich schmückt, die nicht dem lockenden Ruf inniger Neigung und heißen Verlangens, sondern dem gebieterischen Muß einer unabweislichen Pflicht zu folgen hat, um mit dieser Pflicht in den Schatten der Selbstverleugnung und des Vergessens zu treten.

Die Stunde war ruhig und voller Weihe.

Unter ihr hatten sie längst Feierabend gemacht.

Im Rahmen des kleinen Fensters stand ein Stück des Himmels mit unsteten, silberigen Splitterchen.

Draußen herrschte jene anheimelnde Stille einer kleinen Provinzstadt, in der man kein Wagenrollen hört, kein lautes Geräusch vernimmt, in der sich die Menschen wie auf Zehenspitzen vorüberschleichen. Aus ihr wuchs eine Mauer empor, die sich aufstellte zwischen hüben und drüben. Jenseits davon lag Obermörmter in einem undurchdringlichen Nebel. Mit ihrem Wachsen wurde die Entschlossenheit Nelleckes stahlhart gehämmert.

Jetzt war sie mit dem Herrichten ihrer stolzen Haarkrone fertig geworden.

Während sie aufstand und die einzelnen Bekleidungsstücke über sich gleiten ließ, sah sie durch das kleine Fenster ins Freie, in den nächtigen Frieden. Dabei nestelte sie ihre Bluse langsam zusammen.

Es geschah alles mit der augenfälligen Gemessenheit einer Hörigen, der nichts anderes übrigbleibt, als nach bestimmten Gesetzen zu handeln.

Ihr Geist schritt gleichsam durch zwei leuchtende Feuer. Links brannte das Feuer der Liebe, rechts das der Pflicht und Entsagung. Welches von beiden sollte sie hüten, welches austreten? Sie zögerte nicht und besann sich nicht weiter. Das zur rechten mußte ihr Herdfeuer werden, und die Worte traten ihr in den Sinn, die da lauten: »Wer seinen Leib preisgibt, geht auch eines Teils seines eigenen Ichs verlustig,« und sie sagte gefaßt vor sich hin: »Es ist nicht eben froh, so etwas erkennen zu müssen. Aber was hilft es. Es bleibt noch genug übrig, einen andern glücklich zu machen.«

Diese Folgerung nahm ihr alles Weiche vom Antlitz,

Sie richtete sich auf und horchte, ob die Klever Post noch immer nicht einfahre.

Aber sie hatte sich um eine halbe Stunde verrechnet. Es blieb schweigsam und lautlos da draußen.

Nur im Lampenzylinder begann es kaum merklich zu sirren.

Gleich darauf wurden unten im Hausflur Stimmen lebendig.

Die von Christine Jordans hörte sie deutlich.

Sie sagte: »Gehen Sie man ruhig hinauf. Sie ist auf ihrer Kammer, um sich für den Abend vorzubereiten. Ihre Turnüre wird sie schon längst hinter sich haben. Im Altmännerhaus soll's großartig werden. Nur Kurasch, junger Mann. Nellecke ist für gewöhnlich so komisch. Bitte, angtree und nur keine Bange. Ich werde schon Vorposten halten.«

Dann hörte sie nichts mehr.

Wer kam jetzt?

Wie konnte jemand es wagen . . .?

Plötzlich dachte sie an ihren Brief, den sie gestern abgeschickt hatte, und an Lambert Terstegen.

Wenn er es wäre? Wenn er jetzt käme, um ihren Willen zu brechen und das endgültige Jawort zu erzwingen? Ihr Kopf schmerzte, und ihrer Sinne kaum Herr, begab sie sich in die äußerste Ecke des Zimmers, wo das Lampenlicht sie nicht mehr erreichen konnte.

Hier blieb sie stehen, laut atmend, die Hände gefaltet.

Der Duft nach verbranntem Wachs und welken Blumen war bei ihr. Unter dem Einfluß dieses feinen Geruchs verharrte sie in eisigem Schweigen, durchlebte sie in Augenblickseile eine Reihe von Jahren, horchte sie auf, suchten ihre starren Blicke die Tür zu durchbohren. Eine lange Prozession von Erinnerungen zog an ihren geistigen Augen vorüber: solche aus der Kinderzeit und solche aus späteren Tagen, wo sie mit der Muttergottes durch die blumigen Wiesen gegangen war, um Blutströpfchen und Mariawindelweiß für ihre Liebe zu brechen, und andere, die sich mit der Begegnung am Hechelkreuz verknüpften. Diese Erinnerungen waren wie Kerzen, die kaum angezündet, gleich wieder erloschen. Ihre Hände irrten dabei an ihrem Leibe herunter, wie es die von Sterbenden tun, wenn sie das knitterige Linnenzeug zu glätten versuchen . . . von Sterbenden, die in der Gnade sind und willig den letzten Spruch des Ewigen hinnehmen.

Sie war mit sich völlig im klaren. Mochte das Schlimmste über sie kommen. Sie hörte: jemand stieg die schmale Treppe herauf, und irgendeine Hand glitt dabei über die Wände, um sich in dem halbdunklen Flur besser zurechtfinden zu können. Gleich darauf kamen die Schritte näher. Dann machten sie halt.

Noch ein hastiges und scheues Tappen da draußen . . . und Lambert Terstegen war in die verschwiegene Kammer getreten.

Sein Antlitz war weiß wie eine Hostie.

Zuerst sah er nichts.

Das Lampenlicht blendete ihn. Jetzt bemerkte er sie. Mit flackernden, ungewissen Augen sah er sie an. Sie stand dort, wo sie noch soeben gestanden hatte: neben der Bettkante, mit gefalteten Händen, hochaufgerichtet, im tiefen Schatten des Zimmers; nur ihr Gesicht leuchtete wie eine Medaille herüber.

Keiner von ihnen wagte es, die Lippen zu öffnen.

Das quälende Schweigen hielt an.

Die unwiderstehliche Begier, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, ein Jahr zu überbrücken und wieder den Duft des geliebten Weibes zu spüren, trieb ihn nach vorne.

»Nicht weiter!« gebot sie. »Es ziemt sich nicht, in meine Kammer zu dringen. Es wird Aufhebens geben.«

»Was ich tue, das steht bei mir,« sagte er schartig. »Außerdem: ich habe um Erlaubnis gebeten.«

»Aber nicht bei mir. Ich hätte sie dir niemals gegeben, dir den Eintritt geweigert. Hast du meinen Brief nicht erhalten? Weißt du nicht mehr, worum ich dich bat? Ich flehte dich an, mir diese Qual zu ersparen und mir das Leben nicht noch schwerer zu machen. Und du bist dennoch erschienen. Es ist schon besser: verlaß mich. Fortgehen sollst du.«

»Ich bleibe; denn ich kann mich nicht aussperren lassen.«

Um seinen Mund legte sich ein verächtliches Lächeln.

»Hast du kein liebes Wort für mich?« fragte er bitter.

»Nein. Jetzt nicht mehr. In dieser Stunde nicht mehr. Mein Brief sagte dir alles.«

»Eben um des Briefes willen bin ich zu dir gekommen. Dieses Schreiben wegen stehe ich hier. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, was ich aus ihm herauslesen muß, wie ich den Sinn zu verstehen habe, der durch deine Zeilen hindurchweht. Manches Mal war mir so, als scheitelte er die Lebensbäume, die auf dem Friedhof stehen, sacht auseinander. So erklärte ich mir den Sinn deines Briefes, um mir dann wieder zu sagen: Nein, das kann sie nicht wollen. Sie kann mir doch den Spaten nicht geben, daß ich mit eigener Hand meine Liebe verscharre.«

»Lambert, Lambert, ich konnte nicht anders!«

Für einen Augenblick flammte ihr Herz auf. Nur zwei Sekunden hindurch. Schnell verwandelte es sich wieder in seine steinerne Härte.

»Ich bitte dich, Lambert, lasse es mit meinem Schreiben genug sein. Es enthält' meine Beichte. Darüber hinaus bin ich dir nicht mehr verpflichtet.«

»Also nicht mehr verpflichtet?«

Er stierte in ihre Blicke wie in einen tiefen Brunnen hinein. Auf dessen Grunde hatten ihm früher die Sterne der Verheißung geleuchtet. Jetzt sah er sie nicht mehr.

Mit weher Geste winkte er ab.

»Etwas ist tot in dir und in mir. Und was du mir sagtest, das erzählt mir alljährlich der Herbstwind, wenn er die Bäume rüttelt und schüttelt, die noch vor Monden grünten und blühten, um den letzten welken Schmuck von den Ästen zu zausen und ihn über die Felder und den Chausseestaub zu fegen.«

Einen Schritt trat er näher.

»Und das soll das Ende sein?«

Sie gab keine Antwort.

»Also wie ein dürres, vermistetes Blatt beiseite geworfen?!« knirschte er zwischen den Zähnen. »Ich sehe: die Aussaat deines Vaters ist in Halm und Ähren geschossen. Am Silvesterabend ausgestreut, am Drei Königen-Tag in die Scheuer gebracht, um gedroschen zu werden. Das muß man anerkennen: 'ne prompte, aber auch 'ne komische Ernte. Du!« – und seine Augen flammten in die ihren hinüber – »und wer soll das Brot davon haben?«

Sie krampfte die Hände, warf den Kopf zurück und ließ ihre Wimpern wie Gardinen herunter.

»Dem, dem es zukommt,« sagte sie fest und bestimmt, ohne jede Erregung.

»Kann's mir denken,« hielt er ihr heiser entgegen. »Du bist bei 'nem trefflichen Meister in die Lehre gegangen. Rheinkapitäne haben Nerven wie Stricke und Gewissen wie großmaschige Netze. Wer da hineingerät, wird gedrillt oder muß unterm Wasser verrecken.«

»Lambert, ich bitte mir aus: lasse meinen Vater zufrieden!«

Er hörte über sie fort, als hätte sie gar nicht geredet.

»Ach was!« sprach er unbeirrt weiter. »Sein Schiff ist sein Abgott, seine Geliebte, sein Kebsweib, und der Hochmut teert ihm allen Verstand zu, daß kein richtiger Sinn mehr herauskommt.«

»Lambert . . .

»So'n Rheinkapitän! ihm gleich, was er vor sich hat, ob Planke, ob das Herz eines Menschen – wenn's ihm paßt: mit brutaler Faust knüppelt er beide zusammen.«

»Du sollst aufhören, Lambert!«

»Lasse mich ausreden – du, denn du allein hast diese Szene herbeigeführt, und nun beanspruche ich für mich, mir eine Ansicht über die Handlungsweise deines Vaters zu bilden. Ich kenne euch beide. Er und du – ihr habt in dieselbe Kerbe gehauen. Was dich veranlaßt, ist mir bis jetzt unerfindlich gewesen. Das wird sich erst später erweisen. Ihn kann ich verstehen, dich nicht. Für ihn sind alle Schulmagister Subjekte, Nichtstuer, Demokraten übelster Sorte, die sich eine Freude draus machen, als sture Böcke über die Hürde zu springen, gegen Thron und Altar zu rennen und die blöde Herde schließlich in das trübe Spülichtwasser der Sozialisten und Kommunisten zu leiten. Räudige Böcke und Schafsnasen! Natürlich, ich leugne es keineswegs ab – unter meinen Standesgenossen gibt es von dieser Sorte in Hülle und Fülle. Noch neulich! – ein junger Kollege mißhandelte das Bild seines Königs, pfefferte die Gipsbüste von der Konsole herunter, um, auf ihren Trümmern stehend, das Dogma von der ungebundenen Freiheit in die Menge zu tragen – ein Revolutzer in Duodezausgabe, der, hätte er siebzig Jahre früher geatmet, sicherlich dazu beigetragen hätte, dem Konvent und Robespierre die Bolzen zu fiedern. Der infame Kerl verdient gehenkert zu werden; aber man ließ ihn, freute sich seiner und spielte noch Ball mit den weggeworfenen Scherben. Magister und Pöbel! und in diese Kategorie von besoldeten Drängern weist mich dein Vater. Alle wirft er in den nämlichen Kessel: Gute und Böse. Aber er irrt sich, denn so wahr mir Gott helfe: hier pocht das Deutschtum, hier lebt die unverbrüchliche Treue für meinen angestammten König und Herrn, hier haben die zersetzenden Lehren des Uhrmachergesellen von Genf keinen Raum, des sogenannten Menschenbeglückers, der in Turin den slowakischen Katechumenen bei seiner scheußlichen Arbeit ertappte, hier blüht das Höchste und Erhabenste, was der Mensch sein Eigen nennt, aus Vertrauen und Arbeit – die Liebe . . . und du willst nun kommen und mir diese Liebe aus dem Herzen zerren, als wäre sie ein unnützes und giftiges Reptil gewesen?! Nellecke, Nellecke . . .

Bevor sie es noch hindern konnte, war er bei ihr, hatte sie an sich gerissen und sie mit seinen Armen umschlungen.

Er fühlte ihre Glieder durch ihre Kleider hindurch, das Wunder ihres unberührten Leibes. Er küßte ihre Haare, die schwere Flechtenkrone, deren Duft ihn berauschte, und er küßte ihren zuckenden Mund, den sie ihm, schlaff und überrascht wie sie war, nicht mehr zu entziehen vermochte.

Sein Antlitz stand über ihr wie das eines niederstoßenden Falken.

»Nellecke, küsse mich, küsse mich doch! Du hast es doch früher getan, als wir über die Deiche gingen, durch das eingedunkelte Land hin. Planeten über uns und kreisende Sonnen. Wir selber Gottesanbeter, Gottesverehrer . . . und fiel ein Stern herunter – wir verfolgten sein Leuchten mit heißen Wünschen, zwei Menschen, selig in der Welt der Freuden und der Schmerzen. Eins wollten wir werden. Und jetzt, und jetzt?! Ich glaubte, eine Lebendige zu finden, und siehe: ich habe eine Tote gefunden. Tot für mich, abgestorben für mich. Nellecke, wo ist dein Blut und deine Verheißung geblieben?!«

Sie wehrte ihn ab:

»Behüte das Fleisch, um des Geistes teilhaftig zu werden.«

Mit Aufbietung ihrer ganzen Willens- und Körperkraft suchte sie aus seinen Fesseln zu kommen.

»Lasse mich los – du!«

»Loslassen – dich?! Mit anderen Worten: du gedenkst mich von deinem Leibe zu schütteln.«

Er lachte auf.

»Ich sehe: unser Gelöbnis liegt mit gebrochenem Nacken am Boden. Aber so seid ihr Weiber allinsgesamt. Kaum, daß ihr euch entdeckt habt, daß eure Glieder sich runden und eure Kuppeln sich wölben, haltet ihr alle Trümpfe in Händen und werft sie denen zu, die euch genehm sind. Euer verfluchtes Recht, euer angestammtes und ureigenes Recht! Daran ist gar nicht zu zweifeln. Allein es muß aus lauteren und ethischen Motiven geschehen. Du aber – du . . . Aus dir redet was anderes, redet die Selbstsucht, spricht Moritz van Dornick. Der Drei Königen-Abend machte mich wissend. Diese Rheinkapitäne! Diese selbstherrlichen Menschen! und wie sie ihre Waren verfrachten und diese Waren an den Mann bringen, gleichviel ob Kohle oder was sie sonstwie geladen – mit derselben Stirn vertun sie ihr Fleisch, ihr Leben und ihre eigene Tochter . . . und einer der schlimmsten . . .«

Er hatte wie im Wahnsinn gesprochen.

»Du tust mir Gewalt an!« schrie sie gellend. »Du bist wohl aus dem Tollhaus gekommen!«

Mit aller Kraft stieß sie ihn von sich.

»Du! wo ich dich liebe . . .!« rief er zuckenden Mundes. »Ja, mir scheint es: ich bin aus dem Tollhaus gesprungen.«

»Schweige!« gebot sie. »Die Liebe stirbt, wenn man ihren Namen zu laut nennt.«

Hoheit umgab sie.

Bleich, wie eine aus Wachs gebildete Heilige, in verschlossener Pein stand sie im Halbschatten, nur das Antlitz umleuchtet vom Licht der armseligen Lampe, unnahbar, einer Bekennerin ähnlich, in sich gefestet, stark und dennoch lieblich anzuschauen, als wäre sie von dem sanften Myrrhenhügel der Erkenntnis gestiegen.

Sie rührte sich nicht.

Kein Laut kam über ihre Lippen.

Zwei Minuten vergingen.

Dann begann sie zu sprechen.

»Du fragst gar nicht danach, ob ich Blut in den Adern habe, oder ob ich Not daran leide. Aber ich sage dir: Ich habe Blut in den Adern. Heißes und verlangendes Blut. Das hättest du wissen müssen, und du konntest es wissen. Und daher: wie kommst du dazu, so über mich und mein Sehnen zu sprechen? Dir jedoch ist alles ein Tun, hast kein Verständnis dafür, was ich mit dem heißen Blut und meinem Herzen beginne. Du weißt nicht, was ich leide und dulde.«

Er breitete die Arme.

»Hier an meiner Brust soll es klopfen.«

»Oder auch nicht,« versetzte sie schroff. »In diesem Augenblick bin ich eine willenlose und dir fremde Sache geworden. Doch später hierüber. Vorab sei gesagt: Was du mir und meinem Vater angetan hast, ist deiner nicht würdig gewesen.«

»Nellecke, Nellecke! ich weiß nicht mehr, was ich denke und rede.«

Sie war stiller geworden.

»Das ist das Wenigste noch,« versetzte sie gütig, »das mit dem Vater, und ich kann es vergessen, denn ich will mir noch etwas Großes und Schönes bewahren, wie in einem Schatzkästlein. Ich will mich dessen erinnern, wie wir uns gut waren, wie wir uns das Bauholz der Zukunft zusammentrugen, um unser Heim zu errichten, will daran denken, wie zwei Lerchen über uns standen, wie sie nie mehr über uns stehen werden, so verheißend und jubelnd, denn ich möchte so ruhig von dir gehen, wie ich ruhig zu dir kam im ersten Mai unserer Liebe.«

Er machte eine kurze Bewegung.

»Lambert, ein Wort noch, ein letztes noch, Lambert. Dann nichts mehr. Aber es muß mal gesagt sein. Ich kann dir dieses Wort nicht ersparen, wenn ich dir auch hiermit alle Hoffnung entziehe. Es kommt anders, wie wir uns dachten. Gegen gewisse Dinge kann man nicht kämpfen. Nur das sollst du wissen: meine Liebe zu dir öffnet Gräber, weckt Tote auf, kann Berge versetzen, aber –« und sie rang mit der entscheidenden Wendung – »aber sie kann die Siegel einer Verpflichtung, die einer heiligen Satzung nicht brechen. Lambert« – und die vom Myrrhenhügel der Erkenntnis Niedergestiegene wurde hart bis zum Tode – »Lambert, wir müssen uns trennen, denn ich habe eine Mission zu erfüllen.«

War das Nellecke noch, Nellecke, die bei Röschen Jungklaas die Spitzen- und Feinwäsche unter sich hatte? War das das schlichte und einfache Stadtkind? War das die Tochter eines biederen Schiffskapitäns, der viele Jahre hindurch seinen braven Kohlenmaster zwischen Duisburg-Ruhrort und Rotterdam geführt hatte, das Kind von Moritz van Dornick? oder aber war sie auf einem anderen Planeten geboren? Ihr Leib schien herrlich gemeißelt. Ihr schlichtes Gewand wandelte sich zu einer prächtigen Schau, als wäre es mit Zobelbramen verhangen. Ihr lichtes, weizenschweres Haar brannte wie eine leuchtende Krone. Zwischen den mächtigen Flechten lag ihr Antlitz wie eine bleiche Seerose . . . so stand sie, als wäre sie aus dem alten Rahmen im Schloß von Moyland getreten: die schöne Jakobäa von Jülich . . .

Dann wandte sie sich.

Einzelne Glockenschläge fielen von Sankt Nikolai. Achtmal hintereinander erschallte das Tönen. Fast gleichzeitig wurde draußen ein Posthorn lebendig.

Ohne sich weiter um Lambert Terstegen zu kümmern, hatte sie sich ein warmes Tuch um die Schultern geschlagen.

Mit grauen Lippen folgte er ihrem sicheren Gehaben. Er kam sich vor wie ein Entrechteter, ein von seinem Schöpfer Enterbter.

Als sie sich nach der Tür bewegte, sprang er auf sie zu, vertrat ihr den Weg und hielt ihr ein zerknittertes Schreiben entgegen: »Und das hier, was soll mit diesem geschehen?«

»Du kennst seinen Inhalt.«

»Nellecke . . .

Seine Stimme war wie die eines verzweifelten Tieres geworden.

»Störe nicht weiter; man hört alles im Hause. Es ist nicht wohlgetan, seine geheimsten Gedanken jeden wissen zu lassen.«

»Und du hast mir sonst nichts zu sagen?«

»Nichts mehr. Nicht das Geringste.«

Träumte er? War er im Fieber? Wurde ihm das ›De profundis‹ gesungen?

»Bleibe doch. Du darfst so nicht gehen.«

Ohne das Haupt zu erheben, hatte er seinen Arm um ihre Hüften geschlungen und sie an sich gezogen. Sein Mund ruhte auf ihrem goldigen Scheitel.

»Du kennst meine Neigung zu dir,« sagte sie mit Tränen in ihrer zitternden Stimme, »aber es ist nichts mehr zu ändern. Gedenke meiner, wenn du es kannst; und vermagst du es nicht, so bin ich auch hiermit zufrieden. Mache mir den Abschied nicht schwerer, als er schon ist. Ich würde das Leid nicht erdulden. Du darfst mir das bißchen Erinnerung nicht völlig zerstören. Habe Dank für alles, was du mir warst. Ich nehme es mit mir in ein anderes Leben. Tue das Gleiche. Oder noch besser: vergiß mich; denn wenn alles zu Ende ist, dann muß man vergessen. Es gibt andere Frauen – viel schönere und bessere; Frauen, die dir auf Erden schon den Himmel bereiten. Leb' wohl! Gedenke nicht mehr der Vergangenheit, und lasse die Gegenwart ganz entschwinden. Es muß schon so bleiben.«

Und sie wurde ernst und stark und abweisend und sagte: »Störe mich nicht; ich habe noch einen Gang zu tun.«

»Du . . .?!«

Das Wort vertrocknete ihm in der glutheißen Kehle. Seine Sinne warfen sich an sie. Sie entkleideten die Seele und den Körper des begehrenswerten Weibes. Durch sie verlangte er ihren Mund, ihre Brust, ihre Gedanken, die Geheimnisse ihres Fühlens und Denkens und alles, was in ihr war.

»Du gehst nicht!« rief er fassungslos.

»Das wollen wir sehen,« sagte sie, ohne aus ihrer Hoheit und Ruhe zu kommen. »Es geschieht, was geschehen muß. Daran verrückst du kein Steinchen. Im übrigen: verhalte dich schweigsam. Wir wollen diesem Hause den Frieden nicht nehmen.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Was hast du vor?«

Er stand dicht neben dem Tisch. Seine Hand hatte die Lehne eines Stuhles umgriffen.

»Lambert, ich bitte dich, frage nicht weiter. Meine Seele, die hast du. Die ist wie ein Kleinod in der Monstranz, die der Priester allsonntags emporhebt. So was vergeht nicht.«

»Nellecke, Nellecke . . .

»Lambert, meine Zeit ist zu Ende.«

»Und ich höre von dir?«

»Ja, du hörst noch von mir.«

»Und wann geschieht dies?«

»Noch heute Abend. Wenn es dir recht ist, halte dich bereit. Ich scheue mich nicht, vor dich und deinen Vater zu treten. Jetzt ist es genug. Oder hast du noch was zu fragen?«

Er gab keine Antwort.

Er winkte nur leise.

Nein, er hatte nichts mehr zu sagen.

An der Tür blieb sie noch einmal stehen: »Ich habe ein hohes Werk zu vollbringen, aber dieses Vollbringen beraubt mich des Glückes und der irdischen Freude. Leb' wohl!«

Dann ging sie und zog die Spitzen ihres Schultertuches enger zusammen.

Er stierte ins Nichts, als wenn er in die Ewigkeit blickte. Dann . . . wie ein gefällter Baum brach er in sich zusammen. Als er ihr nachstürzte, um nach ihr zu sehen, war sie spurlos verschwunden.

* * *


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