Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Bald darauf, an einem Sonntag, trat Johannes Terstegen aus einem niedrigen Häuschen in der Nähe des Kesseltores. Er war bei Jan Pröll, dem kleinen, spitzbübischen, rothaarigen Schlingel von Schreiber gewesen, der zwölf Kröpfer und einen Taubenschlag hatte.

Unter dem linken Arm trug er eine blaue, fettleibige Tüte, die keineswegs einem kosmetischen Laden entstammte, vielmehr einen langen Schweif hinter sich her zog, dessen Duft an das zarte Arom von faulen Eiern erinnerte.

Die Blicke aufwärts gerichtet, die spitze Nase hoch in der Luft, gleichsam um dem würzigen Mißgeruch mehr oder weniger aus dem Wege zu gehen, stakelte er dem Altmännerhaus zu, verärgert und milzsüchtig und noch immer den alten Haß gegen seinen Nachbar zwischen den Rippen. Drüben in Obermörmter vegetierte sein Einziger wie ein Schwerblessierter, weltabgekehrt, krank vor Liebe, um sein Höchstes und Bestes betrogen. Nellecke ließ sich nicht sehen, der blaue Mynheer war zugeknöpfter denn je, und nun hatte der Aktuarius noch das große Lotterielos gezogen, konnte wie ein Inderfürst leben, täglich Champagner trinken und saure Nieren verzehren. Gut! mochte er sich den Magen verderben, ihn, Johannes Terstegen, wandelte dieserhalb kein Neid an, denn er war ein gläubiger Christ, der alle Fügungen des Himmels respektvollst hinnahm, und zwar von der heiligen Satzung beseelt: »Der Herr hat's gegeben und ihm eine Extrawurst gebraten; der Name des Herrn sei gepriesen von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen.« Allein diese unerhörte Zufalls- und Glücksgeschichte war geeignet, seinem Sohn Lambert den letzten Halt unter den Füßen zu nehmen. Geld ist Macht, befördert den krummsten Karnickelbock zum Liebling der Weiber und den Narren zum König. Der Tanz um das goldene Kalb vollführt die unsinnigsten Zicken und Sprünge. Ein Friedrichsdor wärmt besser das Bett an als die größte Kruke voll glühender Liebe. Kreuzmillionen und Zwieback . . .

Er wollte den Fluch in die Welt hinausschreien, bezähmte sich aber und sagte mit geduldsamer Einfalt: »Lasse deine Kleider immer weiß sein und deinem Haupte an Salbe nicht mangeln. Der Herr ist mein Hirt; er wird uns schon führen und tun, was Moses getan hat: er nahm das aufgerichtete Kalb, verbrannte es mit Feuer, zermalmte es zu Pulver, stäubte es aufs Wasser und gab es den Kindern Israels zu trinken. Also wird es geschehen, so wahr ich vertraue auf Gott, meinen Heiland.«

Johannes Terstegen nickte zufrieden, denn sachdienliche Bibelworte wirkten auf ihn wie Öl auf die Wogen eines aufgepeitschten und entfesselten Meeres.

Als er die Wohnung des Aktuarius passierte, kehrte das alte Unbehagen zurück. Er würgte, als säße ihm ein trockenes Stückchen Werg in der Kehle.

Alle Läden waren vorgelegt. Am Eingang stand Drüke mit untergeschlagenen Armen, selbstgefällig und däftig, eine neumodische Klöppelhaube über Kopf und Schläfen gezogen, im piekfeinen Kleid und ein funkelfrisches Korallenkettchen mit goldener Schließe umgelegt.

Da reckte sich der Achtzigjährige auf wie eine Telegraphenstange.

»Was ist denn hier los?« fragte er mit einer gewissen Beklemmung.

»Wir haben uns verändert, Mynheer,« war die lakonische Antwort.

»Der Herr Aktuarius ist fort?« fragte der Alte.

»Fort,« sagte Drüke.

»Nach Millendonk vielleicht?«

Sie zuckte schmunzelnd die Achseln.

»Kann es nicht sagen, Mynheer.«

»Und er hat nichts hinterlassen?«

»Gar nichts, Mynheer.«

»Wann kann er retour sein?«

»Ich weiß nicht, Mynheer.«

»Kommt er überhaupt nicht retour?«

Die nämliche Antwort.

»Was meinen und glauben Sie denn?«

»Ich meine überhaupt nichts, Mynheer.«

»Da soll ja der leibhaftige Satan . . . Weibsvolk, verfluchtes . . .

»Merci, Mynheer.«

»Hat sich was mit dem ›Merci, Mynheer‹!« und das noch immer gesunde Gebiß des Achtzigjährigen knirschte zusammen, als wenn es grandige Körner zerriebe. Ohne sich weiter um Drüke Anstoots zu kümmern, querte er die Grabenstraße und trat ins Altmännerhaus ein.

Ein dreifach verdiebelter Grimm war ihm unter den Leibrock geschlagen, zumal da er sich sagte: »Natürlich, der Mensch ist nach Millendonk hin, sein unbändiges Glück zu betrachten und das Brautbett aufzumöbeln, während mein Lambert . . . Jesus Christus, mein Lambert . . .

Er sah Nellecke schon als große Dame gekleidet, in Samt und Seide ausstaffiert und in 'nem pompösen Landauer durch die erheirateten Felder und Wiesen kutschieren, großartig wie 'ne Märchenprinzessin und aufgetakelt wie dem Baron von Moyland seine zweite Gemahlin, die 'ne richtige Gräfin war und mit neun Zacken aufwarten konnte. Dabei stänkerte ihm die mit Taubenmist gefüllte Tüte in die Nase hinein, als hätte ihm der veritable Gottseibeiuns in eigener Person das Rauchfaß geschwungen. Wie einem schönen Bratapfel der Saft, so spritzte ihm die helle Wut aus allen Poren, aus allen Fasern und Masern. Bei seinem Zimmer angekommen, war er nicht mehr Herr seiner selbst. »Dieser infame Kaptän! Er geht über Seelen, wenigstens über solche, die keine tausend Taler Renten besitzen. Oho!« und energisch fuhr er in die Hosentasche hinein, wo bei alten Nägeln, Bindfäden und Pfropfen sich auch ein Stück Kreide vorfand. Das nahm er und setzte es fest gegen die Stubentür an. Mit ungelenker Hand malte er einen Totenkopf hin, zeichnete zwei sich kreuzende Gebeine darunter und kreiste das Ganze mit drei Buchstaben ein – mit einem schiefen lateinischen I, einem krummen M und einem vollgemästeten A, ungefähr so:

Bild

was andeuten sollte: »Moritz und Aloys – selbst über den Tod hinaus: euch hat Johannes das Urteil gesprochen. Fahret ins Elend und ins höllische Feuer!« eine Auslegung, die ihm das innere Gleichgewicht allmählich zurückgab.

»Das für die Kerle, für den hier und den andern da drüben.«

Mit scharfem Gemecker warf er den Kopf in den Nacken. Haß und Unmut sanken ihm dabei wie morscher Zunder vom Leibe. Erhobenen Hauptes betrat er sein Zimmer.

Heiteres Sonnenlicht lag auf den weißgekalkten Wänden, an denen die Leidensstationen Christi in grellilluminierten Öldrucken hingen. Die ganze Einrichtung machte einen nüchternen, fast asketischen Eindruck. Ein einfaches, weißüberzogenes Bett, etliche Tische und Stühle, ein Sofa mit gehäkelten Schonern, ein Bücherbrett mit Schriften strengkatholischen Inhalts und ein Lehnstuhl aus Weidenholz bildeten das Hauptmobiliar der geräumigen Stube, während ein Flachsfink seine einfache Strophe in die glitzernden Sonnenfäden hineinzwitscherte.

Der weiße Mynheer nahm eine blecherne Kanne, schüttete den Inhalt der blauen Tüte hinein und übergoß den Dung mit laulichem Wasser.

Dann trat er ans Fenster.

Hier standen vier kräftige Fuchsienstämmchen auf Reihe, prächtige Bäumchen, deren Kronenzweige sich unter der Blütenfülle senkten.

Das erste Stämmchen trug karminroten Schmuck.

Johannes Terstegen führte ihm eine ordentliche Dusche zu und sagte: »Sei mir gegrüßt, mein lieber Matthäus,« denn auf dem glasierten Topf standen die Worte geschrieben: »Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären.«

Dasselbe geschah mit dem zweiten. Dessen Kelche waren purpurfarbig mit weißen Korollen. Gierig sog die Erde die fruchtbare Feuchtigkeit ein, während der Alte die Worte murmelte: »Markus, gedeihe,« denn die Inschrift auf der Scherbe erzählte: »Ich bin nicht würdig, die Riemen deiner Schuhe zu lösen.«

Das dritte Bäumchen wurde bewässert. Hier hingen die Blüten so dicht nebeneinander wie die Würste im Rauchfang. Jede einzelne hatte sich ein knallrotes Kamisol mit 'nem violetten Höschen zugelegt, und über sie hin sprach er mit Salbung und Kernhaftigkeit: »Lukas, ich danke dir herzlichst. Du bist fleißig gewesen,« und wer genauer zusah, konnte auf dem mastigen Topf die Worte entziffern: »Du bist gebenedeit unter den Weibern.«

Der letzte Guß plätscherte nieder.

»Fuchsia gracilis,« sagte der weiße Mynheer, und sein Auge glitt mit Wohlgefallen über die zierlichen Gehänge, die wie rosige Flöckchen sich über- und untereinander drängten. »Johannes, mein Liebling!« und er fügte leise hinzu: »Im Anfang war das Wort,« und das mit Recht, denn solches stand wirklich und wahrhaft auf dem gebrannten Tongeschirr verzeichnet . . . und er redete weiter und sagte: »Und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. In ihm wohnt das Leben, und das Leben geht als Licht zu den Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsternis; allein die Finsternisse haben es nicht begriffen. Ich aber begreife, und ich harre des Lichtes und harre des Tages.«

Er hatte sich alle Zweifel und Ängste vom Herzen geredet. Er stellte den überschüssigen Dung beiseite, brannte sich eine Kalkpfeife an, ließ sich in den Weidenstuhl nieder und betrachtete seine Lieblinge, die vier Evangelisten, wie er sie nannte, mit glücklichen Augen, als wenn er etwas Heiliges sähe. Der kräftige Ammoniakgeruch, der den Töpfen entströmte, wandelte sich für ihn in den Hauch von Myrrhenhügeln und Balsamstauden – ein Duft, der ihn in die gesegneten Gefilde des gelobten Landes versetzte.

Matthäus, Markus, Lukas und Johannes . . .! Welche Namen! Welche Geistesheroen! Welche Schild- und Schwertträger des Menschensohnes, des Predigers, des Gegeißelten, des ans Kreuz Geschlagenen, der gen Himmel fuhr, um dort sein Königtum wieder aufzunehmen! Und nun standen sie vor ihm, diese Helden, wenn auch nur als Fuchsienstämmchen; aber sie grünten und blühten und verkörperten ihm die Überlieferer und Träger der Lebens- und Leidensgeschichte des überirdischen Fürsten, machten ihm die Sinne heiter und die Seele vergnüglich.

Wären nur nicht die verschlossenen Läden da drüben gewesen! Sie gemahnten ihn aufs neue an Nellecke und Lambert, an seine Widersacher, an Millendonk und das tiefsinnige Gleichnis, das besagte: »Ein Friedrichsdor wärmt besser das Bett an als die größte Kruke voll glühender Liebe . . .« und so beschloß er denn, eine geharnischte Epistel an Lambert zu schreiben und ihn zu veranlassen, endlich das Schweigen zu brechen, Stellung zu nehmen und das befreiende Wort in die ungewisse und dunkle Liebesgeschichte zu tragen.

»Kreuzmillionen und Zwieback . . .!« aber was er auch anzuordnen und zu beschließen gedachte – die Fenster an dem kleinen Häuschen da drüben hellten nicht auf, waren verrammelt und blieben es den lieben langen Sommer hindurch und die Tage hindurch, wo bereits die Kartoffelfeuer auf den Feldern schwelten, die Krammetsvögel in den Ebereschen lärmten und die Hasen ihre Löffel anlegten, um ungefährdet durch das Gesirre der infamen Schrote zu gleiten. –

Um Aloys Furtwanger und die jüngsten Begebenheiten spann sich ein Netz von Legenden. Der rothaarige Schlingel von Schreiber, der Besitzer der vier Evangelisten, der Herr Sekretarius Tibus und andere sorgten eifrigst dafür, diesen Legendenkranz noch blühender und komplizierter zu machen. Die gewagtesten und widersinnigsten Behauptungen stellten sich auf, gleich italienischen Pappeln, und die kühnsten von ihnen wagten es sogar, mit ihren Nasenspitzen gegen den blanken Turmhahn von Sankt Nikolai zu stoßen.

Die plötzliche Abreise des vielbesprochenen Mannes machte das Rätsel noch verzwickter und tiefer. Mitten auf dem Markt lag die niederrheinische Sphinx, peitschte mit ihrem Schweif Blätter und Äste von der großen Linde herunter und warf immer neue Mirakel und harte Nüsse zwischen die verstörten Menschen, aber niemand wagte es, die Lösung zu finden und die Nüsse zu knacken, aus Furcht, von dem breithingelagerten Untier verschlungen zu werden. Nur Röschen Jungklaas . . . aber sie hatte mit der niederrheinischen Sphinx nicht das geringste zu schaffen, sondern der Aktuarius selber . . .

Am Tage seines geheimnisvollen Verschwindens hatte sie von ihm in seiner zierlichen und verschnörkelten Schreibweise ein Briefchen folgenden Inhalts empfangen:

»Liebwertes Fräulein! Sie wissen es ja: die hiesigen Menschen sind wie Espen. Der geringste Windhauch bringt sie ins Plaudern und Plappern. Ich möchte mich diesem Geflüster entziehen, denn nichts ist unerträglicher für mich als ein stetiges Tuscheln und Säuseln. Nach all den Tagen seelischer Aufregungen bin ich der Ruhe bedürftig und kann kein Espenzittern vertragen. So gehe ich denn, bis sich die Schwatzsüchtigen genug mit meiner Person beschäftigt haben und sich ein neuer Stoff in ihre lispelnden Zungen hineindrängt. Ich rechne mit etlichen Monden. Dann wird sich für mich die ersehnte Sabbatfeier wohl einstellen, eine gesegnete und beschauliche Feier, die ich von Herzen herbei wünsche. So ums Blätterfallen herum . . . bis dahin kann's dauern. Leben Sie wohl, Fräulein Röschen. Möglich: unsere Sechsundsechzig-Spielchen und Teestündchen dürften dann nach all den seltsamen und verstörenden Dingen noch angenehmer und freier, noch trauter und heimlicher werden. Und damit: Gott befohlen für heute! Getreulichst der Ihre.

Aloys Furtwanger.«

Das war es. Immer wieder las sie die schlichte und einfache Nachricht, spielte zwischendurch die anmutigen ›Klosterglocken‹ und harrte geduldig auf den ungewissen Termin des Blätterfallens, während Christine Jordans nachdenklich die Kunden bediente, dem Haushalt vorstand und sich zu ihrem größten Leidwesen gezwungen sah, die klüglich ausgeheckten Heiratsmöglichkeiten immer tiefer zu hängen.

»Mein Gott!« sagte sie öfters, »nu zerkrümelt mir allens. Früher – natürlich, bei seiner etwas einfachen Lage, da war noch 'ne gewisse Hoffnung vorhanden. Jetzt aberst und besonders aufzuwarten in seinem opulenten Verhältnis, mit Millendonk und die Glücksgaloschen als Gummischuh' übergezogen – da muß einer schon aus der Balancierung gelangen und das Schlimmste erwarten; denn wie kann er da noch auf Röschen verfallen?« und sie schüttelte traurig den Kopf und bedauerte die Mamsell aus tiefstem Grund ihres Herzens.

Auch der blaue Mynheer fühlte sich ungemütlich in seiner menschlichen Schwarte. Dieses spurlose Abwandern vor Tau und Tag durfte nicht kommen, war gegen Sitte und Anstand. Denn er, Moritz van Dornick, in seiner Eigenschaft als Schwiegervater in spe, hatte doch Anwartschaft darauf, ins Vertrauen gezogen zu werden, um wenigstens für seine Person 'ne besondere Estimierung zu haben. Aber kein Sterbenswörtchen, keine Silbe, nicht der leiseste Hinweis . . . und als er dann noch den Totenkopf gewahrte, seine Bestimmung erriet und trotzdem seinem Stubennachbar nichts anhaben konnte, lärmte er durch den langen Flur wie ein Tambourmajor, schlug die Tür hinter sich zu, riegelte ab und legte sich einen steifen, dreitägigen Rausch zu, worin er das Vergessen suchte und dennoch außer stande war, das Vergessen zu finden.

So vergingen die Tage, die Wochen, die Monde.

Die fetten Äcker hatten ihre goldenen Wellen verloren. Stoppel bei Stoppel, dazwischen ungebrochene Felder und frischbebaute Parzellen. Die Bäume warfen ihr spärliches Laub als Bettelwerk ab, fingen die Rheinschwaden auf und standen abends in gespensterhaften Nebelkapuzen. Es ging mächtig ins Frösteln hinein. Die Herbst- und Winternot, aber auch die Herbst- und Winterfreude pochte bereits an die Türen, erzählte kalte und traurige Geschichten, aber auch solche, die sich mit Sinter Klaas, dem Stern von Bethlehem und delikaten Bratäpfeln beschäftigten. Die Tage waren meistens grau und verhangen, die Nächte ohne blinkendes Sternenfeuer. Keine Vogelstimmen mehr. Nur dunkle Krähengeschwader flogen mit heiserem Lamentieren den westlichen Himmel an, begleitet von dem ebenmäßigen Rhythmus der Dreschflegel, die auf allen Tennen der weiten Umgebung tackten und tockten. Und da eines Morgens . . .

Das Häuschen, in dem der Herr Aktuarius wohnte, legte die Läden beiseite und zeigte sich wieder im Schmuck seiner hellen Gardinen. Der Aktuarius jedoch . . .

Straffen Ganges, mit sich selber völlig im klaren, schnurgerade aufrecht schritt er auf das Altmännerhaus los, trat über die abgewetzten Klinker, nickte dem heiligen Joseph zu, dessen dürres Kränzchen im scharfen Luftzug raschelte, und klopfte beim blauen Mynheer an.

»Immer man 'rin in die Koje!« donnerte Moritz, und als der Aktuarius eintrat . . .

Zwei derbe Arme packten ihn, zogen ihn an sich und betteten ihn fürsorglich in eine Sofaecke hinein. Dann polterte er los: »Ein Kalb sollte man schlachten und 'n Ferkel abstechen, um diesen Tag zu begehen. Menschenskind, einem solche Molesten zu machen! Ich dachte schon, das Schiff sei versoffen, mit Mann und Maus versoffen, mit Wanten und Planken und bis zur letzten Ratze hinunter. Menschenskind!« – und mit einem kräftigen Schwung setzte er sich ihm dicht an die Seite, stemmte die Handknöchel ein und musterte den verlorenen Sohn mit traurigen Augen – »wir als die besten zwei Freunde . . . um dann heimlicherweise aufzukreuzen und durch Nacht und Nebel zu schlingern . . .! Das hält der Stärkste nicht aus, macht ihn marode, wirft ihn auf Sand und bringt Heck und Back unter Wasser. Aloys, und wir haben uns doch vergangenen Silvester Freundschaft zugeschworen, auf Leben und Sterben, wie's reilt und seilt und auf Brüdergemeinschaft. Und nun macht Terstegen noch die dummen Geschichten . . . die dummen Geschichten!« und seine Worte wurden dünnfadig, zwirnten langsam auseinander, um schließlich ganz zu zerspleißen.

»Moritz, verstehe mich richtig, nimm meine Reise so auf, wie sie aus der Natur der Dinge herauswuchs. Nach all dem Erduldeten und all dem Zerquälten – ich konnte nicht anders. Wäre ich hier geblieben, ich hätte ja in 'ner Gesellschaft von fürwitzigen Heideläufern und Besenbindern gesessen. Das durfte nicht sein, denn siehe: das ewige Gefrage mußte erst abflauen und langsam versacken. Solches können scheue Menschen und Tote nicht hören. Außerdem: ich wollte mich auf mich selber besinnen, das vergangene Leben überdenken und das heraufziehende näher veranschlagen. Dazu hatte ich die Einsamkeit nötig. So bin ich denn unauffällig ins Weite gezogen. Erst nach dem Landgericht hin, wo sie mich anforderten, das unter Akt und Siegel Gebrachte noch in gesetzlicher Form zu verbriefen; dann auf Millendonk zu. Dort blieb ich fünf Wochen, sah nach dem Rechten, ließ mich belehren und versprach, im kommenden Frühjahr endgültig überzusiedeln. Von hier zog ich weiter, ganz einsam, den Rhein hinauf, den Neckar entlang, bis ich zum Württembergischen Filder gelangte. Du weißt ja« – und seine Stimme flatterte am Boden, hin wie ein zerknitterter Strohhalm – »von dort stammte sie her . . . aus Nürtingen . . . von kleinen, aber ehrlichen Leuten. Ich wollte ihre ersten Spuren suchen und sie restlos aufdecken. Aber ich fand nichts. Nur das Grab ihrer Mutter . . .« und mit jäh aufsteigender Hast setzte er eiligst hinzu: »Alle sind tot, nur ich bin übrig geblieben. Und jetzt« . . . und mit dem festen Entschluß, klare Bahn zu schaffen, seiner Zweifel Herr zu werden und allen Eventualitäten straff zu begegnen, riß er sich auf und sagte mit schöner und heller Betonung: »Mein erster Ausgang ist hier dieser gewesen, und dir gegenüber habe ich eine Erklärung zu machen. So höre denn. Der Mensch kann 'ne gehörige Portion Dunkel vertragen. Aber immer nur Ungewißheit und Schatten – das geht nicht. Endlich muß er doch wissen, wohin seine Fahrt geht. Ganz gleich, wie sie ausfällt, und daher: ich bitte mir deine Ermächtigung aus, mit Nellecke unter vier Augen sprechen zu dürfen.«

Der Alte erhob sich. Seine Augen glänzten wie Kobalt. Mit beiden Fäusten zupfte er seine Weste herunter.

»Mit Nellecke? Völlig mein Standpunkt. Ist es immer gewesen. Im diesigen Wetter ist schlecht navigieren. Sichtiges Licht muß man haben. Ganz meine Ansicht. Ich wollte nur bemerken: seit dem Drei Königen-Tag hat sich 'ne Kluft zwischen Vater und Tochter geschoben, und die Herren Terstegen sind munter dabei, diese Kluft zu erweitern. Mir ganz egal, was diese Menschen betreiben, aber es schmerzt doch, so was erleben zu müssen. Seit gestern indes ist das besser geworden. Mit dem weißen Mynheer nicht – aber mit Nellecke besser geworden, denn sie ist bei mir gewesen, ganz zutraulich und nicht wieder zu kennen. Sie fragte nach diesem und jenem, sprach von der Zukunft und ob ich größere Ersparnisse hätte. Alles recht verständig und so, als wenn sie es einem andern zuwenden möchte, dabei hatte sie ein klares Wasser in den Augen und konnte oft vor Rührung nicht sprechen, und da dachte ich mir: möglicherweise . . .«

Der Kapitän brach ab und sah dem Aktuarius stramm in die Augen.

»Und deine Ermächtigung, Moritz?«

»Selbstverständlich: die hast du.«

»Dann will ich noch heute . . .«

»Schwer das mit heute. Sie ist nach Emmerich hin, um dort, wie sie sagte, mit Ewert zu plaudern. Ich glaube, sie will mit ihm in 'ner wichtigen Angelegenheit reden, seinen Rat vielleicht haben . . .«

»Moritz, ich kann nicht mehr warten. Es drückt mir das Herz ab.«

»Dann geh' ihr entgegen. Ums Abendläuten wird sie retour sein. Am Hechelkreuz kannst du sie treffen. Dann aber auf's Ganze. Nicht lange gefackelt; denn alles was van Dornicksches Blut hat, will mit Munterkeit angepackt sein und mit feurigen Armen.«

»Moritz . . .

Dem also Angeredeten stieg es heiß in die Kehle.

»Natürlich, mein Junge! Du willst doch?«

»Ich will.«

»Endlich!« rief der blaue Mynheer und legte seinen Arm in den seines Freundes. »Schwerebrett und kein Ende! wer den Mut und die Einsicht besitzt, die Faust ans Ruder zu legen, hat schon halber gewonnen. Na also – mit Gott denn! Ganz partie egal, ob es von Lee oder Luv bläst. Topps hoch und alle Segel im Wind! Dann kann's nicht verschlagen . . . und wenn du hinausziehst – Junge, Junge, Junge! ich steh' auf Deck, in voller Montur, den Südwester übergezogen, und halt' dir den Daumen. Vorwärts denn und fröhliche Ausfahrt!«

Und als es dann Abend wurde . . .

* * *

Und es war Abend geworden, aber ein Abend mit harten Lichtern und festen Konturen. Ein nadelfeiner Wind, der seit einigen Stunden von Norden her wehte, hatte die grauen Wolken beiseite geschoben. Eine chromgelbe Wand, die den ganzen Westen bedeckte, deutete auf herzhafte Tage. Auf dieser Goldfolie ruhten die kahlen Bäume mit einem verzwirnten Netzwerk von silhouettierten Ästen und Zweigen. Es hing wie Frost in der Luft, wie das Nahen von scharfen Kristallen. Am Hechelkreuz, wo ausgedehnte Schilf- und Rohrbestände weit ins Binnenland rückten, war ein emsiges Flüstern und Rascheln, das nicht aufhören wollte.

Hier machte der Dreifaltigkeitsdeich eine mächtige Krümmung, um dann, an stillen Gehöften und Dörfern vorbei, in schnurgerader Richtung nach Emmerich zu laufen und Verbindung mit dem sich am linken Ufer hinziehenden Rheindamm zu halten.

Das Hechelkreuz beherrschte die Gegend.

Von hier ließ sich das ganze Land verfolgen, so weit es das spärliche Licht des Abends erlaubte. Man konnte Wissel und Till sehen und all die reichen Bauernschaften, die in der Ebene lagen. Nur auf der Deichkrone selber und ungefähr dort, wo sich die Biegung verlor, bildeten aufgehäufelte Faschinen und Weidenhürden einen toten Punkt in der Fernsicht, das einzige Hindernis, das sich hier dem Auge bot . . . und doch, wie alles so zartmaschig war, so sichtig und wie mit Glas übersponnen, obgleich allmählich die Stunde heraufzog, wo die ersten weißen Pünktchen am Himmel aufglimmen mußten! eine große Verheißung, die Medaillen und Rosenkränze des ewigen Vaters!

Die chromgelbe Wand verblaßte und nahm einen grünlichen Ton an, und von diesem grünlichen Ton umleuchtet, stand Aloys Furtwanger schon seit einer kleinen Stunde auf Posten, in Schlapphut und Lodenrock, von einem festen und zuversichtlichen Willen getragen. Als Froher hoffte er heimzukehren, sein erkämpftes Glück im Arm, sein höchstes Sehnen erfüllt und geborgen – und trotzdem: in seiner Brust war ein Stürmen und Drängen. Sein Blut arbeitete. Er fühlte den Pulsschlag bis in die Schläfen hinein. Sein Herz tat ihm weh, und der schmerzliche Gedanke bedrückte ihn: »Darfst du es wagen? Bist du Manns genug, ein junges Leben an das deine zu ketten und ihm die Freude zu geben, die es beanspruchen darf vor Gott und den Menschen, seinem Wesen und seiner Veranlagung nach, um nicht eines Tages mit leeren Händen dazustehen und sich fragen zu müssen: Die du an dich gefesselt, war krank vor Liebe, ist es bis heute noch, und du bist nicht imstande gewesen, ihr diese Liebe zu geben?« Er biß die Zähne zusammen und krampfte die Fäuste, daß die Fingernägel sich eingruben. »Warum dieses Grübeln? Diese ewigen Zweifel? War er schlechter, minderwertiger als die übrigen Menschen?« Er lachte bitter auf. Recht für jeden, Freiheit für alle. Ja, er konnte die Verantwortung auf sich nehmen. Er fühlte sich wert und würdig, die Gunst eines jungen Weibes zu kosten und sich ihres schönen Leibes zu erfreuen. Also – warum nicht? und er suchte wieder die Deichkrone ab, die spurfeine Linie, die schon in der Ferne begann wie auf einem silbernen Nebel zu schwimmen.

Seine Blicke gingen nicht fehl. Das war Nellecke van Dornick. Er konnte nicht irren. Ihre rasche und feste Gestalt war ihm unauslöschlich in die Seele geschrieben.

Jetzt tauchte sie unter. Sie mußte den Faschinenaufbau umgehen, um gleich darauf aufs neue ins Freie zu treten.

Aber sie kam nicht wieder zum Vorschein. Es war so, als sei sie von der Umgebung eingeschluckt worden.

Da riß es ihn fort wie mit Sturmesschwingen. Zwei Minuten später sah er sie auf einem Strauchbündel sitzen, im Schatten des Stapels, ein Tuch um die weichen Schultern geschlagen, vornübergebeugt und die Stirn auf den Knien – regungslos, wie aus Stein gemetzt und in der Haltung eines verstörten Wesens.

Da zerrann ihm aller Mut wie Sand unter den Fingern.

»Mein Gott!« sagte er schmerzlich, »hier muß was passiert sein,« und trat auf die Verlassene zu und berührte sie, wie ein Priester die geweihte Hostie berührt.

»Nellecke!« rief er sie an.

Da flog sie auf, zog ihr Schultertuch fester zusammen und stierte ihn an mit den Augen des Grauens und des Entsetzens.

Ihr Antlitz war bleich wie das einer Toten.

»Sie wissen doch nichts?« fragte sie heftig.

»Was soll ich denn wissen?«

»Was mit Ewert passiert ist . . . in Emmerich . . . bei Harkopp & Söhne . . .

»Was ist denn geschehen?«

»Nichts, nichts, nichts!« schrie sie auf. »Gar nichts ist mit Ewert geschehen. Aber Vater . . . Vater . . . dem dreht sich das Gesicht in den Nacken. Mein Gott! und ich kann selber nicht weiter.«

Ihre Sinne schwanden. Sie griff in die Luft und drohte niederzusinken. Da legte er den Arm um sie her und bettete ihre heißen Schläfen an seine Brust und redete ihr zu und sagte in seiner zutunlichen und freundlichen Weise: »Nellecke, es wird sich alles schon geben. Auch das mit Ewert . . . und was da immer passiert ist: das braucht niemand zu wissen, das geht keinen was an, denn die meisten, auch die, die ehrlichen Herzens sind und es gut mit uns meinen, sind ungeschickt wie tapsige Bären und machen ein Unglück, das sie abzuwenden gedenken, nur noch weher und tiefer. Da muß schon ein Gottesbote kommen, ein Gesandter des Herrn, um die Falten des Kummers auseinander zu legen und Balsam in die Wunden zu gießen. Ich bin kein Gottesbote und kein Abgesandter des Herrn, aber Nellecke« – und zum ersten Male kam ihm das vertrauliche ›du‹ über die Lippen – »du mußt mich anhören und alles so hinnehmen, wie es gemeint ist. Nein, ich bin kein Abgesandter des Herrn, zähle aber auch nicht zu den tapsigen Bären. Geschehenes ist nicht ungeschehen zu machen. Das kann nur der Himmel. Aber, Nellecke, sieh mal: ich bin ein Freund deines Hauses. Ich kenne dich . . . und kenne den Vater . . . und kenne auch Ewert . . . und für alle lege ich die Hände ins Feuer. Auch für Ewert? Ja, auch für Ewert . . . und wenn er in den Leichtsinn hineinging, so ist das eitel Leichtsinn gewesen . . . nichts Böses . . . nichts Schlechtes . . . und weil ich eben schon sagte: Ich bin ein Freund deines Hauses, so sei mir auch die Frage verstattet: Nellecke, kann ich nicht helfen?«

Sie gab keine Antwort, aber er fühlte: sie war stiller und gefaßter geworden. Ihr wilder Herzschlag schwächte ab, das Zittern ließ nach, und ihre erregte Brust, die noch kurz zuvor gepocht und gestürmt hatte, als wäre sie aufgepeitscht worden, nahm einen ebenmäßigen Gang an, klopfte ganz heimlich, war wie das sanfte Spielen eines Blütenbaumes, und da fragte er wieder: »Nellecke, kann ich nicht helfen?«

Da warf sie den Kopf in den Nacken.

Der letzte Abendglanz verklärte ihr Antlitz.

Ein Gedanke flog in ihr hoch, wurde zur Flamme, zu einem strahlenden Scheiter, der ihr den Weg der Hilfe in der Finsternis zeigte. Wie sie aufstieg, diese züngelnde Flamme, wie sie alles erhellte, wo Nacht war, und wie sie ihre Seele erfreute! Sie brauchte nur durch diese hohe Flamme zu schreiten, um die Erlösung zu finden.

»Du . . .!« schrie sie auf.

Auch ihr war das vertrauliche Wort auf die Zunge getreten. Auch sie empfand: in seiner Nähe ist Ruhe . . . und ihr Leib straffte sich, wurde hart wie Stahl, drängte sich an ihn, offenbarte ihm die Schönheit und Reinheit des Weibes, das größte und heiligste Wunder auf Erden, um dann wieder matt und hinfällig in seinen Armen zu werden.

Der befreiende Gedanke hatte sein Fliegen vergessen und die Flamme ihr Leuchten. Das Weib im Weibe wollte sein Recht, seine wahre Bestimmung, wollte nicht abirren, nicht geben, was es nicht zu geben vermochte, und da sagte sie traurig und mit mutloser Stimme: »Nein, du kannst mir nicht beistehn. Siehe: ein Brief kam von Ewert . . . und in diesem Briefe schrie er mich an: Hilf mir! und als ich zu ihm kam, fand ich alles so leer und traurig wie in einer verödeten Kirche. In diese Kirche darf niemand hinein. Auch du nicht. Nur wir, die van Dornicks, sonst keiner. Und was ich hörte . . . nichts Rohes, nichts Erbärmliches; nur eine sträfliche Verfehlung . . . aber die Kirche wurde dennoch entheiligt, so wie man unsere Ehre entweihte. Ein Fähnlein ist leicht niedergeholt, aber schwer wieder an die Stange gebunden. Das können nur wir tun, nicht andere. Wenigstens jetzt nicht, zurzeit nicht. Ich muß erst mit Vater . . . Ach, wenn ich das erst hinter mir hätte!« und sie griff nach seinen Händen, drückte sie innig und sagte: »Nein, du kannst mir nicht helfen. Du nicht. Ich weise es von mir. Gerade die Hilfe von dir . . . ich will nicht . . . ich darf nicht . . . ich käme mir schlecht vor . . .«

»Nellecke!« und wieder hatte er sie an sich gezogen, suchte nach Worten und fand sie in stammelnden Lauten: »Ja, ich möchte so gerne. Ich möchte . . . Dein Geheimnis sei mein Geheimnis, dein Leid das meine. Siehe: zeit meines Lebens bin ich wie ein armes Kerzlein am Allerseelentage gewesen. Nichts blühte um mich, nichts grünte um mich. Jetzt aber: ich möchte grünen und leuchten, möchte durch ein Märchenland gehen, immer weiter und weiter, bis dorthin, wo ich dich finde, um dir ein Sonnenkrönchen um die Schläfen zu legen.« Und mit scheuer Hand glitt er über ihr Haar, über ihre weichen Schultern, über das keusche Wunder ihres jungen Leibes. »Nellecke, ein Sonnenkrönchen aus lauterem Golde . . . Und dein Herz möchte ich nehmen . . . es aufheben, wie man ein Heiligtum aufhebt . . . es aller Welt zeigen . . . und aller Welt zurufen: Seht euch dies Herz an! Es ist mein geworden für ewig und immer,« und er beugte ihren Kopf zurück, schaute sie an und sagte: »Habe mich lieb – du!«

Sie stand wie gebannt. Ihre Glieder erstarrten. Sie wähnte: das weite Land stünde in feuriger Glut. Eine blutrote Lohe lag um sie, rückte näher, hüllte sie ein . . . und aus dieser blutroten Lohe flehte es nochmals: »Habe mich lieb – du!«

Da warf sie beide Arme aufwärts.

»Wenn ich nur könnte, wenn ich nur dürfte! Du Rechtschaffener, du Treuer! So rein und so voller Menschenfreude und Güte! Wie soll ich dir danken, wie mein Schicksal ertragen? Ja – du, ich liebe dich innig, aber ich habe einen andern noch lieber.«

Es schrie in ihr auf.

»Ich gab ihm mein Jawort. Ich kann nicht mehr anders. Vergiß mich. Mache mich nicht unselig – dich nicht und mich nicht. Es ist schon das Beste. Aber kommen sollst du . . .« und sie warf ihm ihre Arme um den Nacken und preßte sich an ihn und drückte ihren heißen Mund auf den seinen, und sie küßte ihn lange.

»So wollen wir scheiden,« und sie machte sich frei und ging über den Deich hin, der nahegelegenen Stadt zu.

Und Aloys Springinsröckel?! Fassungslos sah er ihr nach, ganz durcheinander und von Schauern durchrüttelt . . . trotz seiner irdischen Güter: der Ärmsten einer auf Erden.

Mit verlähmter Hand fuhr er sich über die Augen und blickte in das matte Glänzen der Mondsichel, die silbrig aufstieg am tiefen Horizont, am Horizont, der grenzenlos war, ewig, unermeßlich, ohne Anfang und Ende . . . und ein dunkler, großer Vogel glitt über ihn fort, strebte langsamen Fluges dem Westen zu, um dort zu versinken. –

Als der Aktuarius nach Hause kam, fand er den Kapitän bei brennender Lampe vor, hochroten Kopfes und voller Erwartung.

»Na – und . . .?« fragte er mit aufgerissenen Augen.

»Moritz, ich habe keine gute Stunde gefunden.«

»Was nicht gefunden? Himmel Verdammich! keine gute Stunde gefunden? Da soll ja dem Weibsbild . . .«

Er hatte einen wilden Fluch auf den Lippen.

»Fluche nicht, Moritz! Du sollst nicht verfluchen. Dein Fluch träfe eine Heilige. Ich weiß, was mir Not tut. Einkehr und Einsicht. Du und ich – wir sind nicht würdig, ihr die Riemen der Schuhe zu lösen.«

Der Alte stieß einen tierischen Laut aus.

»Das muß ich erleben, ich, der Kaptän von ›Maria, sei mit uns‹?!«

Er streckte die Faust aus.

»Moritz, sei ruhig! Sie wird dir alles erzählen.«

»Mag sie kommen, aber heute nicht mehr. Ich will sie nicht sehen . . . überhaupt nicht mehr sehen . . .«

Damit hatte er das Zimmer verlassen, schleppte sich stur und steif durch die Straße und suchte das Licht auf, das die ›Goldene Kugel‹ über den Marktplatz verstreute.

* * *


 << zurück weiter >>