Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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8

Vereinzelte Himmelschlüsselchen, vereinzelte Veilchen! Am Niederrhein wollte es Frühling werden, wenn auch noch tastend, suchend, mit scheuen Fingerchen.

»Herr Fleutgen . . .

Ein sonores Organ rief den Namen, ein Organ wie aus einem leeren Ölfaß gekommen – und dieses Organ gehörte einem hechtgrau gekleideten Herrn, der in seinem Kontor hinter einem altmodischen Schreibtisch aus Mahagoniholz thronte und in seinem selbstbewußten und behäbigen Aussehn an einen Mynheer erinnerte, der es liebte, auf dem van Hogendorps-Plein oder unter den ›Boompjes‹ von Rotterdam seinen täglichen Spaziergang zu machen.

Das Äußere dieses Herrn hinter dem Schreibtisch war gediegen und ehrfurchtgebietend. Kurzverschnittene Haare, silberig wie das feinste Postpapier, ebensolche Koteletten, die um ein weniges die steifen Vatermörder überrragten, gaben dem weinroten, sauber rasierten Antlitz des würdigen Mannes die Prägung des Entschlossenen, Zugreifenden, machten ihn einem Diplomaten ähnlich, obgleich Johann Baptist Harkopp, in Firma Harkopp & Söhne, mit der diplomatischen Laufbahn nicht das Geringste zu tun hatte und nur darauf bedacht war, dem Handel zu dienen, seine merkantilen Interessen zu pflegen und dem Ruf seines Hauses ein immer größeres Ansehn zu geben.

Von seinem Kontorstuhl aus konnte er durch die geöffnete Türe die anschließenden Räume übersehen, wo ein Dutzend Angestellte Briefe kopierte und Eintragungen in die Kasse- und Hauptbücher machte. In dem emsigen Getriebe jedoch, dem Gekritzel der Federn und dem Kommen und Gehen der Ladengehilfen mußte der Anruf des Chefs überhört worden sein, denn es regte sich niemand, was den soliden Herrn veranlaßte, nochmals seine Stimme zu erheben, aber lauter, fetter, dringlicher und nachhaltiger.

»Herr Fleutgen . . .

Und Fleutgen erschien. Er erschien eigentlich nicht, flitzte vielmehr und schoß wie ein Entvogel in das Allerheiligste hinein, wo er sofort seine Absätze gegeneinander klappte, die gebührende Stellung einnahm und die durch die rasche Bewegung ihm über Stirn und Schläfen geglittenen Haare durch ein kurzes Schnicken des Kopfes wieder zurückwarf.

Herr Fleutgen bekleidete die Stelle eines Korrespondenten und rühmte sich, fünf Sprachen völlig zu beherrschen, wozu er neben dem Deutschen, dem Plattdeutschen, dem Englischen und dem Französischen auch das Italienische zählte, obgleich der erste Prokurist, Herr Archibald Pirrwitt, allzeit behauptete, das Englische und Französische wären man schwach, das Plattdeutsche gut, und was das Italienische beträfe, so verstünde er nur den ersten Vers von ›Santa Lucia‹ zu singen, eine Unterstellung, die Herr Fleutgen auch zugab und sich dennoch für berechtigt hielt, das schmalzige Idiom der Zwiebel- und Makkaroniverzehrer seinem Sprachschatz einzuverleiben.

Also Herr Fleutgen warf die Haare durch ein kurzes Schnicken zurück, knallte die Stiefelhacken zusammen und sagte: »Zu Diensten, Herr Harkopp.«

»Ist der junge van Dornick präsent?«

»Daß ich nicht wüßte, Herr Harkopp.«

»Wer kann es denn wissen?«

»Herr Pirrwitt, sollte ich meinen, der hat ihm Auftrag gegeben.«

»Soll kommen.«

»Befehl!« und der Fünfsprachenkundige, obgleich er hinsichtlich des Italienischen nur den ersten Vers von ›Santa Lucia‹ zu singen vermochte, war wieder wie ein Entvogel in den angrenzenden Kontoren verschwunden, einen langen Kometenschweif von Opoponar hinter sich herziehend.

Statt seiner trat Herr Pirrwitt ins Zimmer, ein freundlicher, kurzgedrungener Mann, in einem Anzug von großgemustertem Buckskin, die Stütze des Hauses, nur etwas weichlich und gefühlvoll veranlagt, in Devotion ersterbend, demzufolge er jeden um Entschuldigung bat, daß er Archibald Pirrwitt heiße und genötigt sei, die gleiche Luft wie andere Menschen zu atmen.

»Herr Harkopp haben befohlen,« sagte er leise.

»Ich möchte mit dem jungen van Dornick ein Privatissimum haben.«

»Sofort. Ich habe ihn ins Magazin geschickt, damit er sich dort orientiere. Wichtige Sendungen sind fällig. Er soll fakturieren.«

»Sehr wohl, sehr wohl!« nickte Herr Harkopp, »aber wenn es Ihren Dispositionen entspricht: ich möchte ihn sehen.«

»Wie Sie befehlen,« und der treueste Diener der Firma machte eine umschweifige Verbeugung, um das Weitere zu veranlassen.

»Noch eins,« sagte der Chef und deutete auf einen Sessel, der sich neben dem Schreibtisch befand. »Ich hätte mit Ihnen noch einiges zu besprechen, möchte noch etliche Auskünfte haben, die sich mehr oder weniger auf das persönliche und geschäftliche Verhalten eines meiner Angestellten beziehen. Bitte, nehmen Sie Platz! Wir wollen die Angelegenheit sachlich und in aller Ruhe betreiben.«

»Danke ergebenst,« und der wohlwollende und treuherzige Beamte in großgemustertem Buckskin teilte die Schöße seines Rockes fürsorglich auseinander, ließ sich mit freundlichem Lächeln auf die Stuhlkante nieder und suchte die Sardellen seines bereits stark entwaldeten Schädels noch präziser, als sie schon lagen, vor Augen zu führen.

»Vorher ein kurzes Sondieren, mein Lieber! Wie sind Sie im allgemeinen mit der Führung des mir anvertrauten van Dornick zufrieden?«

»Äußerst, Herr Harkopp; nur etwas windig veranlagt. Wie die heranwachsenden Leute so sind. Hans Dampf in allen Gassen. Trägt die extravagantesten Schlipse. Pokert ein bißchen. Aber das wird sich geben, Herr Harkopp.«

»Ganz meine Ansicht. Und in geschäftlicher Beziehung?«

»Ebenso äußerst, Herr Harkopp. Ja, ich möchte wohl sagen: über alles Erwarten. Briefstil, Buchführung, Ausstellung der Akkreditiven, Kontokorrent- und Zinsenberechnung, Kundenbedienung und Effektenkalkulation – alles prima, Herr Harkopp.«

»Ist mir lieb, solches zu hören. Also anschlägiger Kopf und brauchbar in jeder Hinsicht?«

»In jeder Hinsicht, Herr Harkopp.«

»Schön, und nun eine letzte Frage, mein Lieber.«

«Bitte, Herr Harkopp.«

»Da ist noch so 'ne kleine dumme Geschichte, irgend ein Mankementchen, nennen wir's 'ne minderwertige Lappalie, der ich gern auf den Grund kommen möchte.«

»Wie meinen, Herr Harkopp?«

»Ja, wie soll ich das sagen, um der Begebenheit nicht eine zu große Bedeutung beizulegen, denn ich bin keiner von denen, die immer bereit sind, aus einem etwas verseuchten Strohhalm gleich einen regulären Düngerhaufen zu machen.«

Herr Archibald Pirrwitt geruhte zu schmunzeln und gab die Erklärung ab, daß derartige utopische Dinge dem hochverehrten Prinzipal nicht in seinen kühnsten Träumen einfallen würden.

»Und dennoch sehe ich mich genötigt, der Angelegenheit näher zu treten und ihr ein etwa anhaftendes Anhängsel vom Leibe zu schneiden. Sie und ich, wir beide, sind noch aus der alten Schule, Herr Pirrwitt. Strenge Reellität, solide Anschauungen, Geschäftsverkehr nur auf gesundester Basis – das sind unsere Leitmotive von jeher gewesen,« eine Behauptung, die dem ersten Buchhalter und Prokuristen der Firma abermals Gelegenheit bot, zu erklären, daß er sich mit seinem Chef solidarisch verpflichtet fühle und nicht verhehlen wolle, daß er, der Inhaber des Hauses Harkopp & Söhne, es auch in diesem Falle verstanden habe, den Nagel sofort auf das Köpfchen zu treffen. »Nur auf gesundester Basis, Herr Harkopp. So und nicht anders, während die jüngere Generation . . .«

»Das ist es, worauf ich hinaus will,« unterbrach ihn der Gentleman mit den gepflegten Bartkoteletten und dem weinroten Antlitz. »Darin liegt eben der Kernpunkt der Sache. Sie sprachen soeben, und zwar in Beziehung auf Ewert van Dornick, vom Pokern, und ich möchte Sie fragen, ob vielleicht noch ähnliche Dinge . . . Mir ist nämlich von einwandfreier Seite zu Ohren gekommen, daß er in dieser Hinsicht etwas leichtsinnig wäre und den donquixotischen Mut hätte, Termin- und Differenzgeschäfte zu entrieren, selbstverständlich in jungenhafter und bescheidenster Weise. Das gibt mir zu denken, und ich möchte daher nicht unterlassen, Sie, mein lieber Herr Pirrwitt, um eine runde Antwort zu bitten, ob vielleicht dieselben Gerüchte . . .«

Der zutunliche und gewissenhafte Angestellte in großgemustertem Buckskin machte eine entsetzte Bewegung, und wären in diesem Augenblick sämtliche Zuckerhüte des Hauses Harkopp & Söhne als Mitglieder der Bruderschaft ›Miserikordia‹ ins Zimmer getreten, hätten ihm den furchtbaren Gesang des Thomas von Celano, das ›Dies iræ, dies illa‹ gesungen, Herr Archibald Pirrwitt hätte nicht bestürzter und verstörter sein können als unter der Zwangslage dieser ihn gänzlich vernichtenden Darlegung.

Mit wehem Augenaufschlag hob er beide Hände zur Decke, um sie langsam über seine präzisen Sardellen gleiten zu lassen.

»Herr Harkopp, das wäre doch äußerst!« sagte er tonlos. »Allerdings: leichtfertig ist die Jugend mit dem Wort, so sagt ja wohl irgendwo ein bedeutender Dichter; daß sie aber solche gewagten Manipulationen betreiben sollte, die einen gewiegten und mit allen Hunden gehetzten Spezialisten erfordern . . . Nein, Herr Harkopp, ich kann's mir nicht denken, überhaupt nicht vorstellen. So etwas ist mir niemals zu Ohren gekommen. Pokern! gewiß. Er pokert mit Fleutgen. Aber das ist auch alles, was ich herausbringen konnte . . . es sei denn . . . Später vielleicht, da mag er sich mit den schwierigsten Spekulationen und Geschäftskniffen befassen, denn er hat das Zeug in sich, draufgängerisch und wagemutig zu handeln.«

»Und das ist Ihre innerste und vollste Überzeugung?«

»Meine vollste, Herr Harkopp.«

»Gut!« sagte der Chef, legte sich im Kontorstuhl zurück und beschäftigte sich eine Weile damit, seiner Berlocke eine pendelnde Bewegung zu geben. »Lassen wir vor der Hand die Ultimo- und Differenzgeschäfte des jungen Kommerzienrates ruhen,« eine Redewendung, die Herrn Pirrwitt in ein herzliches und aufrichtiges Lächeln versetzte, »ich werde nicht verfehlen, ihm noch persönlich den Puls zu verhören. Was Sie mir über seine Befähigung und sein Können mitgeteilt haben, genügt mir, meine Dispositionen für die Zukunft zu treffen. Ich komme daher auf den eigentlichen Zweck meiner Unterredung. Sie wissen: mit dem alten Kapitän habe ich seit Jahren in geschäftlicher Verbindung gestanden, denn im Einverständnis der Firma Matthias Stinnes & Söhne gelang es ihm, wichtige Tabak- und Zuckertransporte, die auf gewöhnliche Weise nicht schnell genug zu translozieren waren, in promptester Art nach Holland und umgekehrt weiter rheinaufwärts zu schaffen. Große Verdienste konnten somit der Handlung gutgeschrieben werden, und so was verpflichtet.«

»Aber äußerst, Herr Harkopp.«

»Sie wissen ferner, mein Lieber: der alte Kapitän ist nicht auf Rosen gebettet. Ein flotter Mann, wie er war, hat er nicht viel auf die hohe Kante gestapelt, und da sollte ich meinen, eine Auffrischung, wenn auch nur eine indirekte, seiner etwas derangierten Verhältnisse würde ihm wohl tun.«

»Kann es verstehen.«

»Am verflossenen Silvesterabend nun hatte ich Gelegenheit, den Sohn näher aufs Korn zu nehmen, ihn zu beobachten und seine Eigenschaften als Mensch zu tarieren, und da muß ich allerdings sagen: er hat mir gefallen.«

»Einverstanden, Herr Harkopp.«

»Demgemäß bin ich nun zu folgender Erwägung gekommen. Die Firma verlangt mindestens eine dreijährige Lehrzeit. Diese Bedingung dürfte für den jungen van Dornick erst Oktober des laufenden Jahres perfekt werden. In Anbetracht der obigen Umstände jedoch bin ich gesonnen, ihn schon jetzt zum salarierten Kommis zu ernennen, um hierdurch seinem Vater und ihm eine helle und klingende Freude zu machen. Selbstverständlich: vorher Ihre Meinung. Sie sind Prokurist, mit der Firma verwachsen und eine Säule des Hauses, und es ist dieserhalb meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, zuvor Ihre maßgebende Ansicht zu hören.«

Herr Pirrwitt krümmte sich bei diesen Worten wie ein glücklicher Mehlwurm, dem es gelungen war, sich in eine Kiste mit frischer Roggenkleie zu schlängeln.

»Aber ich bitte! Äußerst gnädig, Herr Harkopp! Mehr als äußerst, und wenn es mir denn vergönnt sein soll, meine Meinung zu äußern, so möchte ich sagen: Greifen Sie zu. Verpflichten Sie Ewert van Dornick. Seine Neigung, zu pokern und kleine Differenzgeschäfte zu machen . . . Nur etwas den Daumen ins Auge, und sie wird sich verlieren. Im übrigen, man kann zufrieden sein mit der Lösung der Dinge. Äußerst zufrieden.«

»Gut! dann lassen Sie den jungen Mann sofort hier erscheinen.«

»Soll geschehn. Noch sonst was, Herr Harkopp?«

»Vorläufiges Schweigen geboten.«

»Pst!« sagte Herr Pirrwitt, erhob sich und legte die Hand gegen die Lippen. »Gehorsamster Diener, Herr Harkopp!« und der treuherzige und selbstlose Beamte in großgemustertem Buckskin empfahl sich auf Zehenspitzen.

Der Chef trat ans Fenster und trommelte gegen die angelaufenen Scheiben. –

Seit den etwas stürmischen Ereignissen im Altmännerhause waren drei Monde verflossen. Versonnenen Blickes und in tiefen Gedanken sind wir etliche Meilen weiter talabwärts nach dem benachbarten Emmerich gepilgert, wo das Handelshaus Harkopp & Söhne sich mit seiner breiten Front, seinen Lagerschuppen und Läden bis dicht an das Ufer des majestätischen Stromes heranschob.

Die Schneeschmelze hatte schon seit geraumer Zeit mit aller Macht eingesetzt. Trübe Wolken unterflogen den Himmel, nur einzelne lichte Reflexe belebten die Landschaft, während der Rhein seine breiten und lehmiggefärbten Wassermassen in aller Ruhe und Bequemlichkeit den Niederlanden und dem ewigen Weltmeer zuwälzte. Die alte graue Stadt dampfte im Qualm des aufsteigenden Wasserbrodems. Der klotzige Turm der ehrwürdigen Sankt Aldegundiskirche stieg dunstig ins Leere. Dohlengeschwader flogen ab und zu, vollführten ein ohrenbetäubendes Lärmen, um schließlich in die gegenüberliegenden Wiesen und Weidenbestände zu fallen.

Das Handelshaus selbst war ein Unternehmen alten und vornehmen Schlages, das sich auswärts und bis tief ins Binnenland hinein eines wohlverdienten Ansehns erfreute. Weitläufige Magazine, zu denen man durch eine große Einfahrt gelangte, Speicher und Remisen, in denen sich Raffinaden, Kaffeesäcke, Zichorien und alle Tabaksorten bis zu den Dachsparren anhäuften, umgaben den hintern Packhof, auf dem sich tagtäglich eine Anzahl Enakssöhne damit beschäftigte, die eingegangenen Waren aus ihrer Emballage zu schälen, die abgehenden in Tonnen und Kisten zu verstauen, sie mit Stricken und eisernen Bändern zu gurten und auf die vor Anker liegenden Kähne zu schleppen. Frachtwagen fuhren ab und zu, hielten den Verkehr zwischen dem Rhein und den umliegenden Ortschaften aufrecht. In einem Seitenflügel befand sich das Detailgeschäft, ein geräumiger Laden mit breitem Auslagefenster, hinter dessen Scheiben sich die knallrote Büste eines Kardinals breit machte, ein markanter Kopf mit Stielaugen und energischen Zügen. Mit sichtlichem Behagen schmauchte er seine Gaudaer Pfeife. Zwei mächtige Zuckerhüte flankierten Seine Eminenz, Tabakrollen und sorglich etikettierte Päckchen, angefüllt mit den verschiedensten Sorten des edlen Rauchkrautes, stellten sich hinter ihm auf, während ein prahlerisches Arom nach Kaffee und Gewürznelken sich alle Mühe gab, die Büste des Kirchenfürsten in gebührender Weise unter Weihrauch zu setzen.

Herr Fleutgen, der Korrespondent des Hauses, hatte im Nebenamt für die sinngemäße Ausschmückung der Auslage zu sorgen. Er tat es, mit künstlerischer Hingebung und denkerischen Sinnes, denn er war kirchlich veranlagt und machte sich eine besondere Ehre daraus, dem hohen Stande des Kardinals in möglichst vornehmer Art gerecht zu werden und entgegenzukommen. Aller vier Wochen fand er eine neue Nüance, hatte er einen überraschenden Einfall, so daß die Leute an jedem Ersten des Monats stehen blieben, sich über alle Maßen verwunderten und einstimmig bekundeten: »Das macht ihm keiner nach von seinen Kollegen!«

Herr Johann Baptist stand noch immer am Fenster.

Es war um die, Zeit, wo die Schatten schon lange Gesichter bekamen und die Kontorstunden ihr Ende erreichten, denn die Firma arbeitete nach englischem Muster.

Regen Auges verfolgte er das Leben und Treiben ringsum. Zu Berg und zu Tal fahrende Schiffe glitten vorüber: einfache Prahme, Zweimaster und stampfende Schleppboote, die sich keuchend vorwärts schaufelten, mit den Ketten klirrten und schwarzbraune Rauchfahnen hinter sich ließen. Sie legten sich breit auf das schäumige Wasser oder zergingen in den steigenden Dämpfen. Das jenseitige Ufer schleierte ein. Nur ein schmaler Strich gelblichen Staubes ließ sich erkennen. Er rührte von den zahllosen Weiden her, die in der Niederung standen und bereits die Blütensporen ihrer Kätzchen verstreuten.

»Es will Frühling werden,« sagte Herr Harkopp und trommelte weiter.

Er hielt plötzlich inne.

Hinter ihm war ein verhaltenes Räuspern.

Er wandte sich langsam um. Ein junger Mann tauchte auf, der die Familienähnlichkeit mit Nellecke keineswegs ableugnen konnte. Dieselben Augen, das lichte Haar, die Entschlossenheit zwischen den Schläfen, das Offene und Freie seiner äußeren Haltung – alles das ließ jeden Zweifel verstummen. Ohne Furcht und Tadel begegnete er dem scharfen Blick des Handelsherrn.

»Schließen Sie die Türe und treten Sie näher!«

Ewert van Dornick gehorchte.

Als er seinem Chef gegenüber stand, knöpfte dieser feierlichst den Rock zu und sagte: »Wie lange sind Sie bereits als Lehrling beschäftigt?«

»Am ersten Oktober dieses Jahres werden's drei Jahre, Herr Harkopp.«

»Und haben sich wohl befunden im Hause?«

»Vortrefflich, Herr Harkopp.«

»Und haben den Wunsch, auch weiter in meiner Firma zu bleiben?«

»Wenn ich könnte und dürfte – es wäre mir eine herzerquickende Freude.«

»Genehmigt; aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre, Herr Harkopp?«

In seinen Augen begann es zu blitzen.

»Treten Sie in die Fußstapfen Ihres biederen Vaters. Freilich, da sind auch Schatten vorhanden, aber, du lieber Gott, wer hätte in seinem Leben keine Schatten gezeitigt! nur – die Schatten dürfen dem warmen Sonnenlicht nicht wehtun. Ich selber . . . allein, das ist schon lange vorüber, und bei Ihrem Vater leuchtete die Sonne so herrlich, daß es einem schön und wohlig ums Herz wurde, an seiner Seite zu schreiten. Ich weiß das. Viele Jahre hindurch verbanden uns gemeinsame Interessen, und ich kann wohl sagen, wenn er einem auf Treu und Glauben die Hand gab, so war das so pfündig und brav, als hätte ein instrumentierender Notar diesen Handschlag unter Pakt und Siegel bestätigt. Solche Männer kann man gebrauchen im Leben. Sie werten und verbürgen eine sichere Zukunft. Ehrlich bis in die Zehenspitzen hinein! unter dieser Flagge ist stets Ihr Vater gesegelt, wenn er auch nicht in der Lage war, Güter zu sammeln. Aber die Flagge war gut, stand überall im berechtigten Kurs. Hut ab vor dem Kommodore van Dornick! Junger Mann, das ist es, was ich von Ihnen verlange. Ihre Flagge muß rein sein und tadellos bleiben.«

»Ich werde mir Mühe geben, Herr Harkopp.«

»Nur Mühe geben?«

»Ja so: meine Flagge soll rein und tadellos bleiben wie die meines Vaters.«

»Und Sie versprechen mir nicht das Blaue vom Himmel herunter?«

»Nein, Herr Harkopp. Es ist mein heiligster Wille, Ihren Wunsch zu erfüllen und ein brauchbares Mitglied des Hauses Harkopp zu werden.«

Herr Johann Baptist nickte und knöpfte wieder den hechtgrauen Rock auf.

»Hm, hm!« sagte er hierauf, »im allgemeinen bin ich mit Ihren kaufmännischen Leistungen, mit Ihrem Benehmen in- und außerhalb der Handlung zufrieden gewesen. Auch Herr Pirrwitt äußerte sich in ähnlichem Sinne, eine Auskunft, die meine Entschlüsse und Erwägungen merklich der Reife näher führte. Indessen, mein Freundchen, da sind noch Bedenken. Sie pokern.«

Diese wie ein Blitz aus heiterm Himmel niederzüngelnden Worte brachten den Beflissenen des merkantilen Gewerbes rein aus dem Gleichgewicht. Er war wie zerzaust, wie verschüttet. Stühle und Tische, die Wände, die Berlocke seines Gönners begannen eine ausgelassene Polka Masurka zu tanzen. Seine gute Haltung verlor sich, und er fand keine Worte.

Endlich gelang's ihm.

»Sie wissen, Herr Harkopp?« sagte er kleinlaut. »Allerdings . . . natürlich . . . ich habe gepokert.«

»Mit Fleutgen?«

»Ja, mit Fleutgen, Herr Harkopp.«

Dann nahm er wieder Form und Fassung an und meinte: »Aber nur etliche Male.«

»Auch das ist vom Übel,« versetzte der Chef mit gerunzelten Brauen. »Der Teufel soll den frikassieren, der als Angestellter der Firma sich auf andermanns Kosten bereichert oder zum Schaden seiner eigenen Tasche den Dummen zu spielen hat. Denken Sie an Ihren Vater, mein Söhnchen. Pokern?! zum Lachen oder zum Weinen, je, wie man's nimmt, 'ne Lauseerfindung! Auch Ihrem trefflichen Lehrmeister Fleutgen werde ich ein Laternchen aufstecken, das ihm ins Himmelreich leuchtet. Pokern?!« rief er zum andern und mit erhobener Stimme, »Pokern?! Wird hiermit gestrichen, für alle Fälle gestrichen. In meinem Hause gibt es kein Pokern – überhaupt nicht, unter keiner Bedingung . . . und weiter, mein Söhnchen . . .« und Johann Baptist Harkopp, der Mann mit den tadellosen Koteletten und dem blütenweißen Haar auf dem Kopf, knöpfte sich abermals den hechtgrauen Rock zu, »über kurz oder lang kommt doch alles zutage.«

Er räusperte sich. Ruckweise ging er in Paradestellung wie ein Spontonträger unter dem Zepter des glorreichen Soldatenkönigs und sagte: »Herr Ewert van Dornick, Sohn eines von mir hochgeachteten Mannes, das wäre nicht das Fatalste gewesen, was mir von der Leber herunter mußte. Da ist noch eine bösere Sache, die mir Veranlassung gibt, Ihnen gegenüber mein größtes Befremden zu äußern. Aus lauterster und zuverlässigster Quelle . . . Doch das geht Sie nichts an, aber ich hörte: Sie sollen als Lehrling schon die Kühnheit, sogar den herostratischen Wahnwitz besitzen, in Ultimo- und Differenzgeschäften zu machen. Alle Achtung vor diesen kaufmännischen Husarengalöppchen . . . aber Sie in Ihrem Alter . . . mit Ihrer geringen Erfahrung . . . Herr, sind Sie denn von Gott und allen guten Geistern verlassen?!«

»Herr Harkopp . . .

»Trotz Ihrer Jugend – Ultimo- und Differenzgeschäfte! und das bei einem kleinen Makler in Kleve . . .?! Wie steht es damit? Heraus mit der Sprache! Auch hier nur offene Karten. Kein Wenn und kein Aber.«

Ewert drohte ins Nichts, in eine purpurblaue Leere zu taumeln . . . und in dieser bodenlosen, schwindelnden und entsetzlichen Leere stand das Haupt des entrüsteten Chefs wie der Kopf des Racheengels am Tage des Zornes.

»Also, wie ist es damit?« ,

»Ja, Herr Harkopp . . . ich . . . tat . . . es.«

Seine Stimme war der eines Ertrinkenden ähnlich.

Da legte sich ihm eine wohlwollende Hand auf die Schulter, und ein gütiges Wort tönte ihm gleich einem Osterglöckchen entgegen: »Auch das wird mit dem heutigen Tage gestrichen. Verstehen Sie: völlig gestrichen. Ja oder nein, junger Mann?«

»Es soll sein, wie Sie sagen, Herr Harkopp.«

»Sehn Sie mich an!«

Ewert tat es.

»Gut so! – und jetzt Ihre Hand drauf.«

»Hier . . . meine . . . Hand.«

»Dann sind wir einig geworden. Fermons la caisse! Sie können sich von jetzt ab als Kommis im Hause Harkopp & Söhne betrachten. Gratuliere. Vom Ersten folgenden Monats an pro Anno fünfhundert Taler Salär. Das Weitere müssen wir Ihrer Einsicht und dem Geschick überlassen. Mit Gott denn! und ferner: zwei Tage Urlaub, um die freudige Botschaft Ihrem Vater zu melden.«

Ein spiegelblankes Wasser lief über die Wangen des Glücklichen.

»Herr Harkopp . . .

»Nichts zu danken. Sie können jetzt gehn.«

Da taumelte der Beseligte ins Nebenzimmer, zu seinen Kollegen, wo die Federn noch immer eifrigst über die blauen Papierbogen glitten und die angezündeten Lampen bereits eine angenehme Helle verstreuten.

* * *

Zwei Stunden später sahen sich die Kontorangestellten der Firma an einem sauberen Tisch im ›Gebackenen Maifisch‹, einer einfachen, aber soliden Kneipe im Innern der Stadt, fröhlich versammelt.

Herr Archibald Pirrwitt hatte sich die Ehre gegeben und das ihm unterstellte Personal zur Feier des Tages zu einem Glase Dünnbier geladen. In längerer Rede hieß er den neuen Kommis herzlich willkommen, pries ihn nach Gebühr und ermahnte ihn und Herrn Fleutgen, dem noch der Kopf von der ihm widerfahrenen Maßregelung durch den hohen Chef wie ein aufgestöberter Bienenkorb brummte, von nun an das infernalische Pokern zu lassen.

Ein allgemeines »Bravo!«, eine frenetische Klatschsalve belohnte den Sprecher.

Ewert dankte in geziemenden Worten, die in einem begeisterten Hoch auf Herrn Johann Baptist Harkopp und Herrn Archibald Pirrwitt, den sinnigen Veranstalter des gemütlichen Festes, ihren Ausklang fanden, was die Korona ihrerseits veranlaßte, den Helden des Tages auf die Schultern zu nehmen und ihn unter Absingung des Liedes ›Bruder, hier steht Bier statt Wein‹ durch alle Räume, Flure und Gemächer, die der ›Gebackene Maifisch‹ aufweisen konnte, zu tragen und ihn nach vollbrachtem Rundgang wieder auf seinen bekränzten Stuhl am Stammtisch zu setzen.

Ewert strahlte.

Fleutgen hingegen ließ noch immer die Ohren hängen, bekriegte sich aber, voltigierte pulverfix und mit einem kühnen Satz auf die Tafel, wehte seinen Kollegen etliche Kußhändchen zu und sang mit schöner und getragener Stimme:

»Sul mare luccica
L'astro d'argento,
Placida è l'onda,
Prospero il vento;
Venite all' agile
Barchetta mia!
Santa Lucia, santa Lucia!
«

»Hurra, Fleutgen! Fleutgen soll leben!« klang's ihm von allen Seiten entgegen, nachdem er in den höchsten Tönen das Lied der neapolitanischen Makkaroni- und Zwiebelverzehrer beendet und wieder reguläre Dielen unter den Füßen hatte. »Großartig! Prachtvoll!« Selbst die behäbige Wirtin vom ›Gebackenen Maifisch‹ hatte während des Gesanges ihre Bänderfladuse durch den Türspalt geschoben und den Fünfsprachenkundigen gebührend und geziemend bewundert.

Nur der untersetzte Herr im großgemusterten Buckskin war anderer Ansicht, schüttelte bedenklich den Kopf und sagte, indem er seine Sardellen sorgfältig kämmte: »Französisch und Englisch man schwach, Plattdeutsch gut, und was das Italienische betrifft, so versteht er nur den ersten Vers von ›Santa Lucia‹ zu singen.«

Aber dieses Urteil tat der allgemeinen Begeisterung keinen weiteren Abbruch.

Erst spät in der Nacht trennte man sich.

Der ›Gebackene Maifisch‹ machte die Augen zu und ging auch seinerseits schlafen.

Am frühen Morgen war Ewert bereits auf dem Wege zum Altmännerhaus in seiner Heimatstadt.

* * *


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