Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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16

Während Ewert und Nellecke Hand in Hand ihren schweren Gang taten, stand Dores van Bommel vor Aloys Furtwanger, um bei diesem Hilfe zu suchen, ganz desperat und ein Raupennest voll wirrer Gedanken im Schädel, denn das unheimliche Ding, das er noch vor wenigen Minuten weggewischt hatte, war wieder zum Vorschein gekommen, in scheußlichen Kreidestrichen und wie von Geisterhand auf die Stubentür des alten Terstegen gezeichnet.

Über das verstörte Gesicht des Kalfakters lief ein ängstliches Zucken, als er die häßliche Tatsache an den Mann gebracht und schüchtern hinzugefügt hatte: »Was soll man hierzu sagen, Herr Aktuarius? Richtig ist's nicht, und ich gedachte schon, mit dem Herrn Dechanten zu sprechen. 'n Vaterunser und 'n Quast mit Weihwasser brächte die Geschichte wieder in Ordnung. Aber so was tut man nicht gerne. Es könnten sich zu viele Mouvements draus ergeben, und das kann keiner auf sein Gewissen nicht nehmen.«

Schweißtropfen rannen ihm von der Stirne.

Aloys lächelte, sprach ihm Mut zu und meinte, es sei lediglich eine kindliche Schrulle von Johannes Terstegen gewesen.

»Niemals, Herr Aktuarius! Das wächst von alleine, das kommt wie'n Pfiff aus hellichtem Himmel: 'n Totenkopp mit zwei Knochens darunter. So was bringen mit dieser Fixigkeit keine menschlichen Hände zuwege . . . und ist gerade so wie beim babylonischen König, wo's durch die schneeweiße Wand kam. Nur mit dem Unterschied: beim babylonischen König war's Feuer und Schwefel, hier bloß einfache Kreide, und was das Verstörendste ist: der Kaptän hängt mit dem ganzen Kasus zusammen.«

»Machen Sie doch keine Geschichten!«

»Natürlich! Warum brüllt er denn immer? oder aber, warum sitzt er zeitweise wie'n Mausetoter im Lehnstuhl, als wenn die Lichtjungfer neben ihm stünde und zöge ihm das letzte Hemd über die Ohren? Und dann sein Gefluche! und wenn's morgen nicht weg ist, kriege ich die ganze Bescherung zu fressen. Ja, Dreck! Ich danke ergebenst! Noch gestern: sein dickster Meerzwiebeltopp krachte hinter mir her, als wäre ich der heilige Stäwe gewesen. So was hält ja kein Mensch mehr aus, und ich möchte Sie bitten, mit dem Alten ein Wörtchen zu reden. Von dem Mirakel will ich gar nicht mal sprechen; aber ich als Kalfakter, ich will meine Ruhe und mein kommodes Leben behaupten, denn ich bin von's Amt angestellt und ein sogenanntes Mitglied der Kirchenverwaltung, und wenn Sie nicht die Courage besitzen, ihm das gehörig zu sagen, dann muß es der Herr Dechant besorgen, und der wird ihm schon mit's Evangelium kommen.«

»Dores, es wird sich schon geben; denn er ist einer der besten Menschen auf Erden.«

»Ist er, ist er! Will's gar nicht abdisputieren; aber wenn er im Tran ist und nörgelig wird – wer kann da gegen ihn bellen? Ich kann's nicht . . . und das mit dem Topp und dem Kopp und dem Hinterkastell mitten im Hausflur, so was nimmt einem ja vor Angst den Stuhl unterm Sitzfleisch weg.«

»Nur keine Aufregung und bei der Stange geblieben. Es geschieht Ihnen gar nichts. Ich werde noch heute . . .«

»Das wäre das beste und würde mir 'ne große Bekömmlichkeit geben.«

»Gut, ich werde mich in Ihrem Interesse verwenden; aber den vermeintlichen Spuk müssen Sie sich aus dem Sinn schlagen. Es ist nichts anderes als eine dumme Marotte des alten Terstegen.«

»Wie Sie meinen, Herr Aktuarius. Jeder hat darin seine besondere Ansicht. Ich für meine Person lasse mir meinen Glauben nicht nehmen. Ich denke dabei an den babylonischen König. Das steht verbrieft in der Bibel, und wo solches passiert ist, warum sollte sich besagtes Mirakel nicht auch in unserm Hause begeben? Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde . . . Doch jedem das Seine. Ich bedanke mich für gütige Zusage,« und wie eine grindige Krähe mit kahlem Schädel stelzte Dores van Bommel sacht aus der Stube.

* * *

Wie ein trübes, unstetes Fünkchen äugelte das ewige Lämpchen aus der Tiefe des Ganges herüber. Dem schritten sie zu, Nellecke und Ewert; sie straffen Körpers und willens, der kommenden Aussprache fest zu begegnen und das noch zu retten, was als Treibholz ans Land schwimmen wollte; er wie ein Gezeichneter, nicht Herr seiner selbst und so, als müßten ihm jeden Augenblick die Knie versagen. Leib und Seele gingen nebeneinander, als wenn sie nicht mehr zusammen gehörten. Seine Besinnung kam erst wieder zurück, als Nellecke ihn anstieß und sagte: »Hier sind wir,« die Knöchel der rechten Hand krümmte, um anzuklopfen.

Noch tat sie es aber nicht.

Ein Rascheln von welken Blättern schreckte sie auf. Es kam aus der Höhe des gipsenen Joseph. Ihre Blicke umgriffen den Bildstock. Unter ihm hatte sie mit Lambert an jenem heiligen Abend gestanden, an jenem heiligen und doch unseligen Abend, der sie verelendete und ihr den jungen Kranz der Freude zerpflückte.

Sie wandte sich ab. Es war eine Flucht vor kommenden, noch wilderen Dingen. Aber diese Flucht währte nicht lange. Alle Herrlichkeiten ihres Innern offenbarten sich restlos. Ungeahnte Kräfte rissen sie hoch. Für sich wollte sie nichts mehr. Sie hatte für ihren Bruder zu kämpfen, für ihn in die Bresche zu springen und den Entgleisten mit ihrem eigenen Leibe zu decken.

Der erhobene Knöchel fiel nieder.

Keine Antwort erfolgte.

Ein abermaliges Klopfen.

Die trostlose Stille hielt an. Dann aber: ein herrisches »Werda?!«

»Ich bin es.«

»Ewert . . .

Gleich darauf: »Angtree!« und die eisernen Arme des Alten streckten sich aus.

»Ewert, mein Junge! Herzlich willkommen! Nach all den traurigen Tagen – endlich ein Lichtblick! Sichtiges Wetter!« aber plötzlich sanken ihm die Arme herunter. Der Mund verstummte, als wäre ihm die Zunge herausgeschält worden.

Ein Blitz aus eingekniffenen Augen sprühte über Nellecke fort.

Der Kapitän trat näher heran. Sie standen von Angesicht zu Angesicht und Atem bei Atem. Dann ein häßliches Knirschen: »Nellecke – du?!«

»Ich bin es.«

»Und weißt doch: ich will von dir und Lambert nichts hören.«

»Ich bin nicht um dessentwillen gekommen. Ich muß nur dabei sein, wenn Ewert . . . Er möchte eine Aussprache haben.«

»Dann um so eher!«

Sein Blick wich dem ihrigen aus und kroch boshaft dem Ausgang zu, als wollte er sagen: »Hier ist deines Bleibens nicht länger.«

Seine Rechte erhob sich, langsam und schwer, als hätte sie Blei in den Knochen, wurde starr wie ein Trumscheit und wies auf die Tür, die er kurz zuvor zugedrückt hatte.

»Dann um so eher. Du sagst es ja selber: er hat mit seinem Vater zu sprechen. Drum bitte!«

»Ich bleibe, denn ich habe vor Ewert zu treten.«

Wie aus Stahl gehämmert, klang es ihm zu.

Ein trockenes Lachen: »Du hier, um vor den da zu treten?«

Ihre Blicke mieden sich nicht mehr, versenkten sich gegenseitig wie scharfgeschliffene Messer, versuchten es, bis auf den Grund ihrer Gedanken zu stoßen. Etwas Verstecktes lauerte auf, wurde drohend, drängte sich herausfordernd zwischen Vater und Tochter.

»Du vor Ewert . . .

Es saß ihm wie eine Faust an der Kehle.

»Unsinn – verfluchter! Du meinst wohl: 'ne Judennase ist auch 'ne Nase.«

»Nein,« sagte sie fest und bestimmt, »du irrst dich. Ich stehe hier, um ihm die Stunde leichter zu machen.«

Fassungslos sah er sie an.

»Ich verstehe so recht nicht.«

Das Wort klebte ihm an den Lippen. Was war das nur? Wollte da irgendein Unglück . . . Lag es bereits auf dem Bordstein, um auf sein Geheiß ins Zimmer zu stolpern?

Seine Gestalt reckte sich auf. Wie aus Erz gegossen stand er vor Nellecke.

»Dann heraus mit der Sprache!«

»Vater . . .!« stammelte Ewert.

Bleich und entsetzt lehnte er neben der Anrichte.

Der Alte flammte ihn an: »Kein Wort jetzt! In diesem Momang habe ich mit deiner Schwester zu reden. Sie ist mit brennendem Licht in die Scheune getreten, hat den Span in die Sparren geworfen; drum mag sie auch zusehen, wie das Feuer gelöscht wird. Sonst schlage ein Schwerebrett und kein Ende . . .«

Er warf den Kopf wieder herum.

»Du hast mir schon die besten Planken vom Leibe gerissen. Das mit dem Aktuarius und das mit dem verfluchtigen Lehrer geht mir ans Leben. Treib's weiter so. Blasen im Sumpf! Sturm will in die Takelage hinein. Habe den Mut noch, mich selber von der Bordwand zu stoßen. Ich warte. Oder willst du sagen, daß etwas passiert ist . . . bei Harkopp & Söhne passiert ist . . . daß Ewert . . .?!«

»Ewert, so sprich doch!«

Sie hatte ihm die Arme um den Nacken geworfen.

»Vater!« schrie dieser, qualvoll, wie ein gepeinigtes Tier, »ich habe dir ein Geständnis zu machen.«

»Mir ein Geständnis?!«

»Ja,« nickte Ewert.

»Von wegen Harkopp & Söhne?«

»Ja, von wegen Harkopp & Söhne.«

»Äh . . .

Der Kapitän wischte sich den Schweiß von der Stirne, taumelte rücklings, trat in den blauen Schein der Hängelampe, der wie ein kaltes, eisiges Nordlicht über ihn herfiel.

Er kannte eine Geschichte.

Die vom verlorenen Sohn.

Er hatte sie zuletzt als kleiner Junge in der Christenlehre gehört und gelesen.

Dann nicht mehr.

Er hatte andere gelesen. Solche vom Kapitän Marryat und solche vom Kapitän James Roß, der mit ›Erebus‹ und ›Terror‹ unter Mars- und Focksegeln losging, um den Südpol zu finden.

Das waren Geschichten! und die Vulkane von Victorialand flammten dazwischen wie Riesenflambeaus . . . feuerspeiende Berge mitten im Eismeer . . .! Ja, das waren Geschichten! atemstockende, nervenaufpeitschende . . . aber der vom verlorenen Sohn hatte er nie Geschmack abgewinnen können. Sie kam ihm schal vor, alltäglich, nichtssagend. Er hatte sie beiseite geschoben wie eine nichtige Sache. Wie ein Ding ohne Inhalt. So was konnte ihm niemals passieren. Und jetzt mußte er sehen: sie bekam Leben und Blut. Sie schlug die Augen auf, die rotunterlaufenen Augen, kroch näher heran und klopfte mit ihrem geringelten Schwanz auf die Dielen. Er sah sie ganz deutlich, er fühlte sie deutlich. Sie brannte heißer als die feuerspeienden Ungetüme im Eismeer. Diese Bestie! Sie saß ihm wie eine graue, schmierige Ratte am Halse.

Es war ihm so, als bräche unter ihm alles zusammen, was er zeit seines Lebens aufgebaut hatte. Er fiel langsam zurück, auf einen Stuhl, der neben dem Tisch stand. Den rechten Arm auf der Platte, den Kopf auf die Hand gestützt, stierte er durch blutrote Schwaden, und durch diese Schwaden hindurch hörte er Ewerts Geständnis . . . Wort für Wort, Satz um Satz . . . dann Nelleckes Stimme, die begütigend einfiel, um die gestammelte Beichte des Bruders weniger trostlos und verfahren zu machen.

Dann nichts mehr. Er starrte nur noch in das erdige Gesicht seines Sohnes, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Der Alte blieb ruhig, rückte und regte sich nicht, saß da wie ein gestrandeter Eisblock. Nur über seiner Nasenwurzel stellte sich eine kantige Falte, wie mit einem scharfen Eisen in die Stirne gemeißelt.

Hierauf begann er zu sprechen . . . ohne Glanz und Klang . . . einzelne Sätze . . . wirr und kraus durcheinander . . . abgehackt . . . leise, um dann wieder Sätze zu schmieden, als sollten sie zu einem langen Bandeisen werden, Sätze, zäh wie Stahldraht, und solche, die wie in einem Irrenhaus saßen und ihr Elend durch die Traillenfenster hinauslachten, während Ewert und Nellecke vor ihm standen, eng nebeneinander, zwei Herzen und doch nur ein einziger Pulsschlag.

»Ich, Moritz van Dornick,« röhrte er schwer aus der Brust heraus, »nicht ohne Mankos im Leben, vom binnersten Kern aus aber blank und gescheuert wie 'ne Kombüse auf 'nem Ostindienfahrer – ich glaube an meinen Gott und Erlöser . . . an meinen angestammten König und Herrn . . . an das Geschlecht der Zollern . . . und ich glaubte an euch, wie ich an eure selige Mutter glaubte, allzeit und so lang ich sie hatte. Mutter ist tot, und ich habe meinen Glauben verloren.«

Sein schwerer Körper sackte zusammen, und wieder begann er: »Ich will nichts von denen sagen, die sich als Volksbeglücker erachten. Mögen sie's tun auf ihr eigenes Risiko hin. Aber es sind unter ihnen Wölfe im Schafpelz, Heuchler und Gleißner, die die Dummen heimsuchen, Frauen und Töchter beschwatzen und sie auf Abwege führen. Gott sei gedankt! so weit ich es konnte, habe ich diese Sorte hinausgefenstert und mir vom Leibe gehalten; denn mein Tabernakel muß rein sein. – Ich glaube an meinen Gott und Erlöser . . . an meinen angestammten König und Herrn . . . an das Geschlecht der Zollern. Aber da sind noch schlimmere Wühler, die schleichen sich an die jungen Leute heran und sagen: Was tust du mit den preußischen Farben, mit dem erbärmlichen Fetzen, der schwarz-weiß im Winde herumwirbelt? Es gibt bessere Fahnen, stolzere Fahnen, die Fahne der Freiheit, das Banner der Aufklärung, die Flagge des Auslebens und des persönlichen Ichs. Jeder von euch hat die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, auf seine Manier selig zu werden, sein Teil zu nehmen und sich auszuamüsieren nach bestem Ermessen. Natürlich! das kann er unter den preußischen Kulören nicht haben. Das will das Königtum nicht . . . das Geschlecht der Zollern nicht . . . Die wollen straffe Ordnung und Zucht und ein einfaches soldatisches Leben, Arbeit und Kasteiung des Leibes. Aber diese Demagogen sind anderer Ansicht. Sie gehen umher wie blökende Lämmer, wie Sämänner im Sämannstuch und streuen das Korn aus. Aber was sie ausstreuen sind Disteln und Hederich, Schierling und vergifteter Weizen . . . und siehe: die Jugend greift zu . . . und erntet das Gift . . . und geht damit in die unselige Freiheit . . . in den Taumel . . . und stolpert schließlich in Habgier und Gesetzwidrigkeit dem Abgrund entgegen. Und solch ein Widerchrist hat sich auch an meine Familie geworfen, an mein Höchstes und Bestes . . . Ewert, und du –« und seine Wut polterte auf wie der Ruf des Herrn im Gewitter – »hast du gewußt um die gemausten Gelder, um die langen Finger von Fleutgen?!«

»Mutter . . .! Mutter . . .

Ein wehes Schluchzen rang sich aus der Brust des Verzweifelten, es war wie das Klagen eines, der eine Kugel empfangen.

Der Alte zuckte zurück und nickte etliche Male.

»Also – nein! Glaub' dir's, glaub' dir's, weil du an Mutter gedacht hast. Das wäre auch prächtig wenn der Sohn von Moritz van Dornick ein Kassenzwicker und Buchfälscher wäre! sonst: ich hätte dich wie'n tollen Hund niedergestochen. Aber das Weitere . . .« und er verfiel wieder in sein wirres Reden und Denken, in sein dumpfes Brüten und Grübeln und sagte: »Von den Helden, die nichts darin finden, schwache Weiber um ihre Reinheit zu prellen, will ich jetzt nicht mehr reden, denn ich hoffe zu Gott: sie sind meinem Hause noch nicht zu nahe gekommen, denn das nötige Blut hierzu konnten sie unter meinen Sparren nicht finden. Aber die andere Blase, die die männliche Jugend beschwatzt, sie ehrlos macht und auf Abwege leitet . . . Blexem! mir ist so, als müßte ich nach Duisburg retour, müßte vor den alten Herrn Stinnes treten und müßte ihm sagen: Exküsieren Sie, bitte, Herr Stinnes, aber wenn's Ihnen nicht unkommod wird, möchte ich noch einmal die alte ›Maria, sei mit uns‹ ins Niederland bringen. – Wie Sie befinden, oller Seeräuber. – Merci, Herr Stinnes. – Allright! ich fahr' denn auch los . . . und schwarz ist das Schiff und weiß die Takelage von oben bis unten: die preußischen Farben . . . und als ich nach Emmerich komme, da denke ich mir: Willst mal deinen alten Freund, den Herrn Harkopp, besuchen. Na, das tu' ich denn auch; doch wie ich bei ihm anrufe und mich schon darauf freue, mit ihm 'ne Bouteille Rotspon auszustechen, da weist er mich ab und knittert aus seinen Vatermördern heraus: Schlecht Wetter, Kaptän. Die Politur ist herunter. Sein Sohn ist keinen Schuß Pulver nicht wert nicht. – Herr, in drei Teufelsnamen! das heißt ja . . . Da lacht er mich an und sagt dann ganz heiser: Bitte, sich zu der Mutter von meinem früheren Korrespondenten Fleutgen begeben zu wollen.«

»Vater, ich kann's nicht mehr hören!«

Nelleckes Augen standen in Tränen.

Ewert taumelte.

Der Alte sprach weiter: »Bong! ich geh' denn auch hin und muß da erfahren: elftausend Taler hat ein Lump ihr genommen – elftausend Taler, die eine arme Witwe sich gespart hatte – elftausend harte, preußische Taler – ihr ein und ihr alles . . . und ist nichts mehr vorhanden als Jammer und Elend . . .«

Moritz stemmte sich hoch und knirschte zwischen den Zähnen: »Nur Jammer und Elend! – Was soll einer da machen, wenn er so 'nen Lumpen als Sohn hat? – Da ist gar nichts zu machen . . . nur eins noch . . . Ich also wieder an Bord, lege mir 'nen Strang um den Hals und grinse vom Fockmast über die Stadt hin. Das ist noch schauderöser als die feuerspeienden Berge mitten im Eismeer. Ultima ratio! Die einzige Rettung. Ah! du Verfluchter, da hängt er, da hängt Moritz van Dornick . . .«

Ein mattes Entsetzen kroch durch die Stube.

»Da hängt er!«

Die Faust fiel hart auf den Tisch. Ein Ruck lief durch den Leib des gepeinigten Mannes. Seine Augen waren blutunterlaufen.

»Platz da,« brüllte er auf, »für 'nen Kaptän, der aus der Schlinge herauskam! Platz da für den Kommodore van Dornick! Der Gehenkerte ist wieder lebendig geworden. Hier steht er! Die Gewalt des Richters ist ihm in die Knochen gefahren. Er will was, er schafft was. Kreuzmillionen, Sackerment und Himmel verdammich . . .

»Tu' ihm nichts, Vater!«

Es war schon zu spät.

Zwei Fäuste streckten sich aus, zwei Fäuste wie Taustricke.

Die legten sich um eine röchelnde Kehle.

Das Gesicht des Wahnwitzigen stand hart vor dem seines Sohnes, und seine Stimme tobte: »Meine Ehre, meine heilige Ehre! Mensch, du infamer, du Bankrutter und Spieler! wie kannst du das Ansehn des Hauses Harkopp & Söhne zertöppern? Wie kannst du? Wie kannst du mit Fleutgen solche Geschäfte betreiben? Wie kannst du ein armes Weib und ein verlähmtes Geschöpf um seine letzten Groschen betrügen? Herr Jeses, ich ersticke im Elend! Wie kannst du es wagen? Verrecke! Verrecke!«

Die Taustricke schnürten fester und wilder.

»Erbarme dich unser! Denke an Mutter!«

Nellecke hatte sich zwischen die beiden geworfen, riß die starren Klammern vom Halse des Bruders und hing sich schwer an den Nacken des Vaters.

»Die Schande!« stöhnte der Alte und ließ die Fäuste herunter.

Mit einem Fluch streifte er Nellecke ab, die schirmend vor Ewert getreten, taumelte rücklings, fiel in den Sessel zurück und streckte die Beine.

Im Zimmer des blauen Mynheers war es wie in einer Sterbekapelle. Verwesung und Stille. Nur das Schluchzen der beiden Kinder drang aus einer verlorenen Ecke heraus wie die wehen Laute von Totenbeterinnen.

Der Kapitän lag mit geschlossenen Augen, den Kopf vornüber, verkrüppelt wie einer, dem man das Rückgrat gebrochen. Und die Stille hielt an, als wäre der Tod von Basel durch die Stube gegangen.

»Vater . . .

Er zuckte schmerzlich zusammen, faltete die Hände und suchte seine Gedanken zu ordnen. Große Tropfen sickerten vor und begannen langsam zu fließen.

Endlich hatte er Tränen gefunden, er, der stichelhaarige Mann, der rücksichtslose Gebieter auf Deck, als er sein braves Schiff noch befehligte, er, der immer kühl und besonnen gewesen. Das Geschick hatte ganze Arbeit gemacht und ihn in die Pfanne gehauen . . . und das, was er soeben gesagt hatte, sprach er noch einmal, aber verweht und mit der Zunge eines lallenden Menschen.

»Ich, Moritz van Dornick,« also redete er bang vor sich hin, »nicht ohne Mankos im Leben, vom binnersten Kern aus aber blank und gescheuert wie 'ne Kombüse auf 'nem Ostindienfahrer, muß solches erleiden! Warum das? Weshalb mußte gerade mir dies passieren? Ich bin doch kein Hundsfott . . . kein Gottesleugner . . . kein Mensch mit einer verrosteten Seele. Jesus Christus! ich glaube doch innig. Ich glaube an meinen Schöpfer und Heiland . . . an meinen König und Herrn . . . an das Geschlecht der Zollern . . . und ich glaubte an euch, wie ich an eure selige Mutter glaubte, allzeit und so lang ich sie hatte. Mutter ist tot, und nun habe ich auch meinen Glauben verloren.«

Dickfadig träufelten ihm die Worte von den Lippen herunter.

Ein unterdrückter Schrei . . .

Nellecke hatte sich von ihrem Bruder gelöst, war schluchzend etliche Schritte weiter ins Zimmer getreten.

Ihre Arme hoben sich; dann stürmte sie vor.

»Vater, glaube an uns! Glaube an mich und glaube an Ewert!« und mit der Allgewalt leidvoller Liebe warf sie sich dem Alten zu Füßen, umschlang seine Knie und drückte ihren Mund auf seine gefalteten Hände.

»Vater, vergib uns! Weis' uns nicht von dir! Mich nicht und Ewert nicht. Es ist ja nur ein Leben auf Erden. Nachher ist alles vorüber und nichts mehr. Vergib uns, vergib uns! Mache deinen Frieden mit ihm, bevor es zu spät ist. Er wird sich schon bessern. Er ist durch Sünde gegangen, aber nicht durch 'ne schlechte und erbärmliche Sünde.«

Ihre Finger krochen empor, tasteten sich weiter, umschlangen den Nacken des Vaters.

»Vergib uns, wie der Herr uns vergibt und alles Böse hinwegnimmt in der Stunde unseres Todes.«

Auch Ewert . . . nein, er vermochte kein Glied mehr zu rühren. Die Not hatte ihn an den Boden genagelt.

Was war das nur?

Ging das Trauerspiel seinem Ende entgegen? Verloschen die Lichter? Wollte die Gardine herunter? Gedachten die Menschen still auseinander zu gehen, um über das Gehörte ihre traurigen Gedanken zu haben. – Nein, sie durften noch nicht. Die Gardine blieb, wo sie war, senkte sich nicht, ließ die Szene offen, und die Lichter brannten noch immer, denn siehe: ohne Geräusch, von keinem bemerkt, war jemand ins Zimmer getreten. Lautlos gekommen, erhob er sich lautlos. Vom Hauch des Gespensterhaften umwittert, gestreckt, die Bibel zwischen den mageren Fingern und die Augen von dunstigen Ringen umgeben, in deren Tiefen matte Feuerchen glommen, stand der weiße Mynheer dicht neben dem Türpfosten.

»Moritz!«

»Mein Gott und mein Himmel! nun muß auch dieser Mensch noch erscheinen.«

Der Kapitän rang nach Atem.

»Ist denn heute alles verludert? Will mir der Verstand auseinander?!«

»Moritz, man Ruhe, und ihr beiden da – auch man Ruhe gehalten. Ein Sprichwort besagt: Alles will wieder erlebt sein, oder Gottes Wort ist erlogen. Ich habe mein bestimmtes Programm, und dieses Programm ist ausgespielt worden, und ich komme man bloß, um euch hierüber Rapport zu erstatten.«

»Du kommst im Namen des Satans!«

»Moritz, das stimmt nicht. Das sind dämliche Worte, und solche Worte soll ein aufrechter Mann nicht gebrauchen. Du willst wenigstens zu den Aufrechten zählen, aber ich kann diese Ansicht bis zur Stunde nicht zu der meinigen machen. Der Herr ist gegen dich, denn geschrieben steht: Lasse deine Kleider immer weiß sein und deinem Haupte an Salbe nicht mangeln. Du aber – du hast es nicht verstanden, deine Kleider weiß zu erhalten und deinem Haupte Salbe zu geben. Geschlagen bist du durch die eigenen Kinder und durch die Rute des wahrhaftigen und lebendigen Gottes.«

»Kreuzgewitter und Himmel verdammich . . .

Der Kapitän versuchte es, sich aus dem Lehnstuhl zu heben . . .

»Du . . . du . . . du . . .! Hundekanaille, wer bist du?! Was willst du überhaupt in meiner Kajüte – du Totenkoppmaler?!«

Mit blaurotem Gesicht sank er zurück, haltlos und kraftlos, um wieder mit halbgeschlossenen Augen auf die Worte Terstegens zu hören.

»Moritz, das mit dem ›Totenkopfmaler‹ . . . Mit dem heutigen Tage habe ich mich dessen begeben. Das Bild ist weggewischt worden . . . das Bild ist verschwunden . . . das Bild kommt nicht wieder. Das wollte ich dir als Rapport überbringen. Warum das – das sollst du später erfahren. Moritz, du weißt noch . . . am Silvesterabend . . . ich sagte dir damals: Es wird Feindschaft sein zwischen dem blauen Mynheer und dem weißen Mynheer, und die Spur ihres Zusammenseins wird nicht mehr gefunden werden auf Erden. Moritz, mit dem heutigen Tage ist dieses ein Ding ohne Inhalt, ein Wort mit Wurmstich behaftet, eine geborstene Glocke. Ein Höherer hat die Sache in Arbeit genommen, ist mir beigesprungen, hat gerächt und gerichtet. Und daher: ich brauche keine Totenköpfe mehr mit Kreide zu zeichnen, nicht mehr auf Posten zu stehen, nicht mehr in der dir zugeschworenen Feindschaft zu bleiben. Alles mit Muße und alles mit Andacht. Dem überirdischen Arm soll man nicht in die Parade fahren; denn sein ist die Rache – und sein ist die Kraft – und sein ist die Herrlichkeit. Wer so in der äußersten Not sitzt, wie du dich jetzt im Jammer befindest, dem tut man nicht mehr weh, den haßt man nicht mehr, dem reicht man die Hand hin – die Hand der Versöhnung. Ja, ich verzeihe dir alles – auch das von wegen der ›Hundekanaille‹, denn du hast es im Unmut gesprochen – auch das von wegen Lambert und Nellecke; ich nörgle nicht dran herum, wie es die Besserwisser gewöhnlich betreiben, denn es ist aus dem Trüben heraus und ohne Besinnung geschehen. Nimm diesen Rapport hin, wie ich ihn bringe. Unser Vater im Himmel erleuchtete mich und sagte mir heimlich: Gehe zu Moritz und rede mit ihm und suche ihm das Leben wieder erträglich zu machen. So gebot er mir eben, und ich tat, was er sagte; denn sein ist die Kraft – und sein ist die Macht – und sein ist die Herrlichkeit, von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen.«

Ein Schluchzen war um ihn, ein Weinen und Klagen.

Moritz van Dornick stierte vor sich hin.

Der weiße Mynheer aber stand noch immer wie ein Prophet, wie ein Mahner und Pfadfinder, aufgepflanzt in unerschütterlicher Würde und Hoheit.

Da legte sich ein sanfter Arm in den seinen.

»Du hast genug geredet, Johannes; drum geh' still auf dein Zimmer und suche die Uneigennützigkeit und suche die Nächstenliebe. Du wirst sie dort finden. Ihr aber, Ewert und Nellecke, ihr sollt zu Röschen Jungklaas kommen. Sie erwartet euch beide. Jetzt geht nur. Es ist keine Zeit zu verlieren. Laßt mich allein mit meinem Freund, dem Kapitän. Ich habe mit Moritz van Dornick zu sprechen.«

»Aloys – du . . .?!«

Der Prediger hob die Bibel zur Decke.

»Warum bist du gekommen?«

»Kein langes Gefrage!« drängte der Aktuarius. »Meine Sache ist eilig,« und da verließen alle die Stube, auch Johannes Terstegen. Dessen Psalmodieren aber ertönte noch weiter auf dem hallenden Hausflur: »In meines Herrn Tempel sind viele Wohnungen bereitet; doch nur die werden dort eintriumphieren, die ihm dienen mit Mund und Händen, in Gedanken und Werken, bis sie berührt der dunkle Fittich des Todes.«

* * *


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