Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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18

Springinsröckel, Springinsröckel, haben dir nicht die Ohren geklungen?! Ist es nicht über dich gekommen wie ein artiges Streicheln, wie ein stilles Gedenken, wie das Raunen von dankbaren Stimmen? Springinsröckel, und sind die Worte nicht bei dir gewesen, die da lauten: »Gleichwie du nicht weißt den Weg des Windes und wie die Gebeine im Mutterleibe bereitet werden, also kannst du auch Gottes Werk nicht wissen, das er überall tut . . . aber das weißt du: Wer seinem Nächsten die Hand reicht, ihm die dornigen Wege ebnet und ihn rettet aus dem Sumpfe des Lebens, der wird gewertet im Himmel?« Springinsröckel, hast du nicht diese süße Epistel vernommen? Bist du nicht glücklich darüber? Lächelst du nicht in dem hohen Gedanken, Gutes gewollt und Gutes getan zu haben? und bist du nicht fröhlich im Geiste, die Hand des Herrn auf deinem Scheitel zu wissen? Und wenn du auch Nelleckes Leib nicht besitzen konntest und das Geschick es nicht wollte, mit ihr vereinigt, die Schwingungen einer trunkenen Nacht wie das große Wunder der Offenbarung zu empfangen und weiter zu geben – sind nicht ihre Tränen auf deine Hände gefallen? Weißt du nicht, wie ihr Hauch dich umzittert, ihr Herz dir entgegenschlägt und ihre Erkenntlichkeit in weißen Rosenblättern auf dich herniederschaukelt? Springinsröckel, du erstickst ja unter schneeweißen Rosen. Bist du nicht heiter und fröhlich im Geiste?

Ja, er war heiter und fröhlich im Geiste, und er machte die Bilanz seines Lebens und vergegenwärtigte sich, was er im verflossenen Jahre erduldet und wie das Leid ihn gepackt und durch alle Stationen der Liebe und der Entsagung hindurchgezerrt hatte. Das war jetzt von ihm genommen. In sich geläutert, mit klarer Stirn, nicht mehr hin und her geworfen vom Taumel der Leidenschaft, gingen seine Pulse in gemäßigten Schlägen, wandelten Betrachtungen durch sein Fühlen und Sinnen, die keine Schmerzen mehr kannten; Einblicke und Rückblicke, Wünsche und Ermessungen schwebten emsig und geschäftig durch seine Seele wie silberhelle Tauben, die das Licht des jungen Tages auf ihren Schwingen trugen.

Von seinem Fenster aus sah er in den dritten Sonntag des Advents hinein. Festlich gekleidet, als ginge er zum Tische des Herrn, frohlockte dieser Sonntag durch die altmodischen Straßen, schaute in die Häuser hinein und erzählte schon heimlich von dem seltenen Stern, der über Bethlehem stand, als die Könige aus Morgenland kamen, um den neugeborenen Fürsten der Juden zu suchen . . . und das innere Wesen des Sichwiedergefundenen wurde dabei feiner und sonniger, und es wurde noch froher und größer, als um, die Mittagszeit der Emmericher Bote vorsprach und einen verbindlichen Gruß von Harkopp & Söhne bestellte.

Gleichzeitig übergab er ein versiegeltes Schreiben.

»Von Harkopp & Söhne . . .«

Dann las er, und als er gelesen hatte, legte er die Hände auf den Rücken und schritt nachdenklich durch das kleine Reich seiner Umwelt, betrachtete seine Sammlungen, die Hautflügler und Schnabelkersen, die Sippen der Hasten und Spinnen, das Geschlecht der Papilionen und Federmotten und alles das, was als Tracheenatmer im Garten des ewigen Gottes die Beinchen bewegt, die Fühlerchen gestreckt, gelebt und geliebt hatte . . . und war jedes ein Werk des Unfaßlichen, ein seltsames Spiel der Natur, ein Wunder aus der Hand seines Schöpfers. Vor einem weitbauchigen, mit Linsen, Froschlöffel und Pfeilkraut bestellten Wasserbehälter weilte er lange. Hydrophilus piceus! Wie das ruderte und sich im Kreise drehte! Bereits Ende des verflossenen Sommers war die große Metamorphose vor sich gegangen. Wo, um Himmels willen, waren aber die gierigen Piraten der Tiefe geblieben, die eingekapselten Chrysaliden des moorigen Eilands?! Nichts mehr zu sehen. Statt ihrer glitten ölige, pechschwarze Käfer durch die Wirrnis der grünlichen Algenfäden, um die verzwickten Rosetten der Selaginellen, im steten Kampf mit Wasserflöhen und Schneckchen, schon jetzt der Stunde gewärtig, wo sie sich finden sollten, Männlein und Weiblein, tastend und schmeichelnd, dem Gebote des hohen Lenkers gemäß, um nach einem ewigen Gesetz das Mysterium der Liebe und der Zeugung zu feiern.

»Sub specie æternitatis,« sagte der Aktuarius, »trahit sua quemque voluptas. Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen,« und er trat an die sauber polierte Kommode, woselbst auf einem grünen Papphügel die Villa ›Springinsröckel‹ aufragte und vergnüglich ins Land sah.

Sachte pochte er an.

Der braune Kavalier mit den kräftigen Schenkeln gab durch verständnisinnige Klopflaute Antwort, worauf ihm sein Herr und Gebieter gut zusprach und ihm zu verstehen gab, daß er ihn im kommenden Frühjahr mit nach Millendonk nehmen werde, aber nur unter dem Vorbehalt, sich dort der äußersten Vorsicht zu befleißigen, nicht den Frauenzimmern zu trauen und die Vorschriften des weisen Herrn Fischart aufs peinlichste zu beherzigen; denn die dort ansässigen Weibsbilder, Vieh-, Melk- und Zimmermägde . . .

Den Busen viele offen tragen,
Und tust du dich hinein nur wagen,
Zu sehen, was im Tale steck',
So fangen sie dich auch schon weg.
Das Strumpfband andere locker binden;
Willst du dich dann dazwischen finden.
So ziehen sie dasselbe zu
Und fangen dich in guter Ruh'.
Sind das nicht wunderliche Sachen,
Die Weiberstare fest zu machen?!

Also Vorsicht in Millendonk,

Denn wer Gefährlichkeit tut lieben.
Der wird darinnen aufgerieben,

und somit: »Sapienti sat. Ich habe gesprochen.«

Nochmals las er den eingegangenen Brief durch, während Springinsröckel durch weitere Klopflaute dartat, er befinde sich völlig im Bilde und werde allzeit bestrebt sein, den vernünftigen Lehren Rechnung zu tragen, Maß zu halten und sich von den dortigen Koketten nicht umgarnen zu lassen, schon der Vorsicht halber und um seinem Herrn und Meister Ehre zu machen, ein löblicher Vorsatz, den der Kavalier im schnupftabakfarbigen Leibfrack – leider Gottes sei es geklagt! – nicht in die Tat umzusetzen vermochte. Denn kaum in Millendonk angekommen, ersah er die Zimmermagd, die aus Kranenburg stammte, ein ländliches Wesen wie Milch und Blut, straffen Leibes und voll üppiger Schönheit. Der nun zu Liebe verließ er die Villa, hing sich ihr an und folgte ihr in die einsame Kammer. Hier nun, beim Licht der schwelenden Talgkerze, begann er unter dem grobleinenen Hemde seine Forschungsreisen zu machen, zu zwicken, zu zwacken, etliche Male über ihre stattliche Wölbung zu gleiten und ein Späßchen an das andre zu reihen. Das war zu viel für den duldsamen Sinn des sonst so friedlichen Mädchens. Mordgier durchwühlte ihr Herz. Mit angefeuchtetem Daumen und Zeigefinger griff sie zu, packte den Peripatetiker beim Wams und sprach die geflügelten Worte:

»Weil du mit Kneipen mich beschwert,
Bist du nicht reines Wasser wert;
Muß in ein ander Bad dich schicken,
Wo du vor Hitze sollst ersticken,«

und siehe:

Sie warf den Täter ohn' Bedenken
Ins Nachtgeschirr, ihn zu ertränken.
Hat drauf, nachdem das Bad vollendet,
Dem Bett sich schleunigst zugewendet.
Indessen er in großer Not
Fand anders nichts als bittern Tod.

Er endete qualvoll durch des Weibes Tücke und Arglist, hingemordet durch eine keusche Jungfrau aus Kranenburg, der er leichtfertiger Weise unter Hemd und Fürlatz gefahren, in der Blüte des Daseins, noch unbeweibt und am fünften des Maien, als draußen die Nachtigallen schluchzten und ein silberfingeriges Mondlicht die eben erst aufgesprungenen Kastanienleuchter umschmeichelte. Das war Springinsröckels Schaffen und Wirken, sein Lieben und Leiden und sein unfrohes Sterben. Seine Seele sei eingebunden im Büchlein der Lebendigen. Amen. Sela! – Aber noch atmete er Gottes erquickenden Sauerstoff ein, privatisierte als Junggesell in seiner luftigen Villa und nahm sich vor, im kommenden Frühjahr auf ehrliche Freite zu gehen, ohne sich dabei weitere Gedanken über das Übelwollen und die Rücksichtslosigkeiten des homo sapiens Linnæi zu machen – ein Mann des Augenblickes, des heiteren Genießens und der bukolischen Ruhe, während sein Herr noch immer dabei war, den ihm überkommenen Brief Zeile für Zeile zu prüfen, ihn nochmals zu lesen und hierauf seine demgemäßen Entschlüsse zu fassen.

Endlich war er damit fertig geworden. Sein Vorhaben stand fest. Mit besonderer Umsicht schnipselte er einen neuen Gänsekiel zurecht, setzte sich nieder und begann eifrigst zu schreiben, nicht viel, aber prägnant und von äußerster Tragweite, kuvertierte, siegelte und kritzelte in seiner zierlichen Weise: »Seiner Wohlgeboren dem Herrn Kapitän Moritz van Dornick, wohnhaft dahier, Grabenstraße, Männerasyl, Zimmer 3 im unteren Hausflur,« willens, den ausgeführten Schriftsatz durch Drüke Anstoots besorgen zu lassen.

Schon sah er sich nach der Klingel um, diese in Bewegung zu setzen, als kaum vernehmlich und schüchtern angeklopft wurde.

Gleich darauf trat einer verstört ins Zimmer.

Es war Ewert van Dornick.

* * *

Zwei Stunden später.

Der blaue Mynheer saß in seiner geräumigen Stube – nach vielen Wochen und Tagen zum ersten Male wieder abgeklärter und freier in seiner geräumigen Stube. Der Besuch bei Harkopp & Söhne und die gleich nach seiner Rückkehr mit dem Aktuarius gehabte Aussprache hatten ihm Zentnerlasten von den Schultern genommen. Heute und gestern! Gestern noch hatte er Funken vor Augen, kam er sich vor wie einer, der bei lebendigem Leibe verweste, gerichtet und ehrlos bis in die innersten Knochen. Das tat jetzt nicht mehr not. Heute stellte er den Spaten beiseite, mit dem er seine Schande und Schmach zu begraben im Begriff gewesen war. Das Bedrohliche hatte sich verloren, war kleinlaut geworden, hatte sich wie ein verprügelter Hund aus dem Zimmer geschlichen. Das Gespenst des Häßlichen lauschte nicht mehr draußen im Hausflur. Das Grübeln verdorrte. Freundliche Bilder breiteten sich aus, und die Hoffnung auf bessere Tage versenkte ihre Fühlerchen und Masern wieder in fruchtbaren Boden.

Moritz allein und doch nicht allein.

Seine Kinder waren bei ihm. Ewert mit rotgeweinten Augen und gerüttelt wie ein Baum in der Sturmnacht.

Die Stunde, die er bei dem Aktuarius verbracht hatte, war die seligste, aber auch die schwerste seines Lebens gewesen, ein Bitt- und Bußgang und doch eine Quelle der Erkenntnis, die ihn stärken sollte von nun an bis in die entferntesten Tage.

Was der einfache, bescheidene Mann da drüben in seiner Liebe und Allbarmherzigkeit der Familie zugesichert, wie er gesorgt und gerungen hatte und die Hand noch verehrte, die ihn von sich gewiesen, das alles hatte Moritz in beredter Weise und mit schluchzender Stimme geschildert.

Nichts blieb den beiden erspart, auch nicht das Geringste.

Ewert fand sich noch immer nicht in seiner neuen Lage zurecht. Nellecke weinte still vor sich hin. Ihr war das Herz zum Zerspringen.

Als der Kapitän geendet, rief eine dünne Glocke herüber.

Sie läutete zur Mittagsandacht.

Da legte sich die Faust des Alten schwer auf den Tisch.

Er wollte sprechen, aber das Wort sperrte sich lange. Sein Gaumen war dürr, seine Kehle vertrocknet.

Endlich zerriß er, was ihn bewegte, und wieder polterte die Hand auf den Tisch.

»Auferstehung!« sagte er mächtig, »Ostern für die Familie Moritz van Dornick! Nach gröbster Finsternis endlich ein Leuchten und Scheinen, und was da zur Kirche ruft, braucht uns nicht weiter zu kümmern. Hier zwischen uns, unter Vater und Kindern, ist der Herr näher denn sonstwo, ist eine größere Andacht und eine tiefere Reue. Was wir zu tun haben, braucht keiner zu wissen. Gott ist allgegenwärtig, auch hier, und weiß, was wir in uns tragen und sprechen. Ja, und er weiß auch: wir haben einem die Hände zu küssen – einem, der sorgte, daß wir unsern ehrlichen Namen behielten.« Und seine Stimme wurde wie die eines Kindes und flüsterte: »Aloys Furtwanger!« und sie straffte sich wieder und nahm einen metallenen Klang an und sagte: »Und weil ich der Älteste bin, will ich auch als erster beginnen, mich dankbar erweisen, der Welt gegenüber und Gott gegenüber, wenn's mir auch schwer fällt, einen gerechten und rechtschaffenen Zorn unter die Füße zu treten. So hört denn. Aus gepreßtem Herzen heraus: ich will Frieden machen mit euch und Frieden mit dem, der Tür an Tür mit mir wohnt, obgleich er mich mit gemalten Totenköppen bedrohte, mir das gebrannte Malör antat und das harte Wort prägte: Es wird Feindschaft sein zwischen dem weißen Mynheer und dem blauen Mynheer, und die Spur ihres Zusammenseins wird nicht mehr gefunden auf Erden . . . und wenn er auch kam, um seinen Standpunkt wieder auf eine bessere Karte zu setzen, so ist das bloß ein verwehtes und oberflächliches Reden gewesen. Ich aber« – und er richtete sich steil in die Höhe – »ich will meinen Stolz und mein Lachen verlieren, will zu ihm hingehn und sagen: Johannes, ich habe meinen Frieden mit den Kindern gemacht und bin nun gekommen, das gleiche mit dir zu betreiben. Wir wollen vergessen – aus Dankbarkeit und Gott gegenüber, sonst ist alles Flick- und Stückwerk. So, das will ich und tu' ich . . .« und er wandte den Kopf und sagte: »Ewert, jetzt bist du an die Reihe gekommen.«

Da umgriff der Angeredete die Tischkante mit beiden Fäusten und stammelte schwer vor sich hin: »Ich darf keine Worte mehr machen. Es wäre unnützes Sprechen, denn ich habe meinen Kredit verloren: bei euch verloren und bei Harkopp & Söhne verloren. Aber Knecht will ich sein, der geringste von allen, bis der letzte Pfennig . . .«

Er konnte nicht weiter.

»Und das kannst du auf deine letzte Wegzehrung nehmen?«

»Ja, Vater, das kann ich.«

»Auferstehung und Ostern im Hause Moritz van Dornick und Frieden den Menschen auf Erden!« und der Alte warf nochmals den Kopf auf die Seite und sah Nellecke an mit Augen, die gütig und lieblich waren und doch wie Schwerter blitzten: »Und Nellecke – du . . .? Jetzt bist du an die Reihe gekommen.«

Schon wollte sie Antwort geben, als es draußen hüstelte, ein Brief durch den Türspalt geschoben wurde und eine ängstliche Stimme ins Zimmer flüsterte: »Soeben eingetroffen; vom Herrn Aktuarius drüben.«

Da nahm Moritz und las, und als er gelesen hatte, da war es ihm so, als wäre einer erschienen, ein Ewiger, ein Strahlender, ein Engel des Lichtes, um ihn mit der Keule des Wohltuns und der Barmherzigkeit niederzuschlagen.

»Aloys, Aloys!« schrie er auf und hielt das Schreiben mit beiden Händen zur Decke, um es macht- und kraftlos wieder sinken zu lassen, »mir will der Verstand auseinander! Ja – du, es gibt eine Liebe! Ja, es gibt eine Liebe, die schlimmer ist als Peitschenstriemen, es gibt ein Mühen und Sorgen, das einem den Schädel gegen die Wände stößt, es gibt eine Herzenswärme . . . Aloys, ich bin ihrer nicht würdig, nicht ich, nicht Nellecke, nicht Ewert!« Seine Worte zerbröckelten, wurden zu Asche, bis sie wieder ins Flackern gerieten und aufflammten wie Freudenfeuer. »Mensch, du . . .! Aloys, willst du mich zwingen, deine Schuhe zu küssen?! Simon von Kyrene war nicht besser als du. Willst du mich zwingen, in dir Simon von Kyrene zu finden? Du bist es . . . deine Hand greift nach dem Marterholz . . . du nimmst mir das Kreuz . . . und trägst es . . . und gehst still neben mir her, ohne noch die Blicke zu wenden. Herr, du mein Gott, es gibt eine Liebe!« und er verschluckte die Worte und trat auf Nellecke zu und hielt ihr den Brief hin und sagte: »Ein Vermächtnis von dem, mit dem du am Hechelkreuz standest . . . der Ewert den Strick vom Halse nahm . . . der da kam, um flehentlich dein Jawort zu erbetteln . . . der den Mund noch segnete, der da sagte: Meine Liebe ist heiß wie der Tod, aber sie gilt einem andern. Und seine Antwort darauf? Hier ist sie, hier steht sie geschrieben,« und er las stoßweise und mit keuchendem Atem: »Da Herr Harkopp so freundlich war, die der Witwe Fleutgen zustehenden Gelder an diese in meinem Namen abzuführen, jedoch die Begleichung des ihm selber Veruntreuten zurückwies, so bestimme ich hiermit: Ich bin das Opfer von Illusionen geworden, aber ich weiß es zu tragen und habe den Mut, dieses einzugestehen. Ich bin aus den Wirren heraus. Wohltun bringt Segen, und ich möchte mir diesen Segen erwerben, möchte teilhaftig werden des Glückes einer Beglückten. In ihre Hände lege ich das, was für die Emmericher Firma bestimmt war. Alles das soll ihr als Aussteuer zugebracht werden, und Gott wird ermessen, ob ich in seinem und ihrem Sinn gehandelt habe. So hoffe ich, ihren Hausstand und den ihres Erwählten fest zu begründen, in ihrem Gedenken weiter zu leben. Es kommt von Herzen und es gehe zu Herzen. Dies mein Vermächtnis . . .« und Moritz stöhnte auf und sagte: Ja – du, es gibt eine Liebe!« – Da sah er . . .

Mit der Heftigkeit einer Verzweifelten war Nellecke aus ihrer stumpfen Ruhe gefahren, hatte ihre Hände aufwärts geworfen und dann vor ihr Antlitz geschlagen.

»Nicht möglich!« wimmerte sie, ein hilfloses Geschöpf, und ihres Willens und Denkens beraubt, griff sie in ihre Flechtenkrone hinein, zerrte sie nieder und raffte die Strähnen zusammen. Kreuzweise lagen sie auf der wogenden Brust. Aus dem straffen, goldenen Rahmen stierte ihr Gesicht wie das der Schmerzensmutter, als die Nacht über Golgatha fiel und eine Stimme durch die Finsternis weinte und klagte: »In deine Hände empfehle ich meinen Geist . . .« und dieses Gesicht war wie das einer Toten mit geöffneten Augen, die nicht mehr zufallen wollten.

Moritz war dicht an ihre Seite getreten.

»Nellecke, und jetzt . . . Wie willst du ihm danken?«

Ihre Nasenflügel gerieten ins Zittern. Die Starre ließ nach. Ihr Atem ging schwer.

»Erspar' mir die Antwort,« sagte sie gefaßt und ohne jede Erregung. »Was ich zu tun gedenke, das mußt du schon mir überlassen. Dein Amt ist zu Ende, das meine beginnt. Ich friere hier, und wenn ich sprechen würde, ich müßte meine Gedanken verleugnen und meine Sinne betrügen. Was hab' ich angestellt, um so gepeinigt zu werden? Warum bin ich in diese Zweifel geraten? So war es noch niemals. Ich will Liebe geben und Liebe empfangen. Das ist es. Mein Herz ist leer und doch voller Zuversicht. Das klingt widersinnig. Ist aber richtig. Ich will nicht allein gehen. Ich muß einen noch rufen. Er wird sich dieserhalb freuen, und ihr werdet es mir gedenken im Leben. Ich habe einen Gang zu tun. Es gibt viele Wege, die mich hinführen können. Ich werde den rechten schon finden. Laßt mich nur machen . . .« Und wieder spielte das Zittern von eben um ihre Nasenflügel, das heimliche Weh, als zögen große und schmerzensreiche Bilder an ihrer Seele vorüber.

Der Alte sah sie fassungslos an.

»Mit wem redest du eigentlich?« fragte er mit gerunzelten Brauen.

»Mit mir und meinem Gewissen, und dieses sagt mir, was ich zu tun hab'!«

»Was du zu tun hast . . .«

Er hatte ihre Hände ergriffen.

»So tu', was dein Gewissen dir vorschreibt. Ich habe nichts mehr zu sorgen. Das liegt jetzt bei dir. Nur eins will ich festgelegt wissen. Das mit Lambert. Ich hebe die Hand nicht wider ihn . . . ich fluche ihm nicht . . . ich lege ihm keinen Stein in den Weg. Meine Tür steht ihm offen. Und was du auch vorhast, entweder so oder so, auf meine Person brauchst du keine Rücksicht zu nehmen. Aber es gibt eine Liebe . . .« und er zog die Schluchzende an sich und küßte sie zärtlich, und er trat vor Ewert und nickte ihm zu. Dann ging er, wandte sich aber noch einmal und sah lange und eindringlich auf seine Kinder, die Schulter an Schulter standen und sich wechselseitig umschlungen hielten.

Wie ein silbernes Klingen wisperte es durch das todstille Zimmer.

»Allright!« sprach er in sich hinein, zufrieden und glücklich. Hierauf begab er sich zum weißen Mynheer, um auch mit ihm seinen Frieden zu machen.

Als er damit fertig geworden, meinte Johannes: »Das wäre besorgt; aber was soll aus Nellecke und Lambert jetzt werden?«

»Du, was ich Nellecke sagte, das sag' ich auch dir, ohne ein Wort dran zu ändern. Und Nellecke hab' ich gesagt: Ich hebe die Hand nicht wider ihn . . . ich fluche ihm nicht . . . ich lege ihm keinen Stein in den Weg. Meine Tür steht ihm offen. Und was du auch vorhast, entweder so oder so, auf meine Person brauchst du keine Rücksicht zu nehmen. Aber es gibt eine Liebe . . .«

»Ja, es gibt eine Liebe,« erwiderte der Alte, und in seinen ausgebleichten Augen begann es phosphorisch zu leuchten. »Moritz, ich sehe: dein Kleid ist weiß wie der Schnee da draußen geworden, und deinem Haupte fehlt es nicht mehr an Salbe. Das alte Jahr geht zu Ende. Nur noch wenige Tage – und die heilige Weihnacht ist da . . . und dann kommt Silvester. Moritz, im verflossenen Jahr haben wir bei dir und in dem blauen Zimmer gefeiert, und es sollte mir wohl tun, wenn wir diesmal den Abend in der weißen Stube begingen. Es wäre mir eine bekömmliche Freude, denn wir, die Terstegens, haben auch unsere Ehre.«

»Bong!« sagte der Kapitän, »das soll denn ein Wort sein, und ich kann dir hierzu den Doppelpunsch von Stäwe Pastores rekommandieren.«

»Warum nicht?« schmunzelte Terstegen, »denn ich möchte alles wie'n Prinz von Oranien haben und mit 'nem doppelten Einschlag. Und nun ein Pfeifchen gefällig? As't üh belieft: Oldenkott Rippchentobak und 'ne ganz besondere Nummer!«

»Soll mir angenehm sein,« und alsbald saßen die beiden mit übergeschlagenen Beinen zusammen, sprachen von alten Zeiten und wölkten ein Friedenskringelchen nach dem andern zur Decke empor, während die vier Evangelisten auf dem Fensterbrett standen und nur den einen Wunsch hatten, bald zu grünen und in Knospen zu schießen.

Drüben, hinter den weißen Dächern, blühte das Abendrot in leuchtenden Farben, lieblich anzusehen und wie ein Gruß aus dem Himmelreich. –

Und dieses Abendlicht – es stand wie eine große Verheißung im tiefen Westen, vergoldete die kalte Erde und warf auch ein freundliches Blinken über den Spieltisch, an dem Röschen Jungklaas und der Aktuarius ihr Sechsundsechzig-Partiechen wieder aufgenommen hatten.

Vom Mittagstisch in der ›Goldenen Kugel‹ hatte er sich gleich zu Röschen begeben, völlig abgeklärt und die Welt wieder mit heiteren Sinnen umarmend.

Und wie Röschen heute aussah! Genau wie damals, an ihrem Geburtstag. Auch heute trug sie ihr Resedafarbiges, ihr Seidenes, das so neckisch knisterte und so graziös unter der Krinoline sich bauschte, ein Kleid wie geschaffen, das schmucke Persönchen aufs beste in Form und Fassung zu setzen. Allerdings – die winzigen Krähenfüßchen um Mundecken und Näschen waren noch immer vorhanden, aber sie taten der ganzen Erscheinung nicht den geringsten Abbruch, erhöhten vielmehr das Pikante an ihr und den stillen Glanz, der ihre Augen verschönte. Alles so ohne Arg und so ganz ohne Fehle! Und wie die rosigen Finger es verstanden, die Karten zu mischen, die Stiche zu nehmen und sie zierlich zu häufeln, wobei die Honiglocken sich leise bewegten und die Lippen sich kräuselten, als wenn sie sagen wollten: »Primula veris!« Und das bronzene Stutzührchen tickte dazu, der Kanarienvogel flötete seine feinste Wasserrolle durchs Zimmer, und das Diplom, das dem wohlachtbaren Herrn Franz August Kasimir Jungklaas in Anbetracht seiner großen Verdienste um Staat und Vaterland, unter Verleihung des Königlichen Roten-Adler-Ordens vierter Klasse, ausgestellt worden war, grüßte dabei gravitätisch von der Tapete herunter.

Dem Aktuarius war seltsam zumute. Im gewöhnlichen Leben ein gewiegter und feiner Sechsundsechzigspieler, war er heute nicht so recht bei der Sache. Immer wieder machte er Exkursionen und leichte Ausflüge in das Reich der Betrachtung, hörte auf das trauliche Summen und Knistern im Ofen und ließ sich von dem zarten Duft der schaukelnden Löckchen umwölken.

Und dann diese Pfötchen! ihr Drehen und Wenden, ihr Nehmen und Geben! Mit sichtlichem Vergnügen beobachtete er das agile Treiben, um heimlich das scheinbar hingehauchte ›Primula veris‹ von keuschen Lippen zu nehmen.

»Aber mein Lieber,« schmunzelte Röschen, wendete die Trumpfkarte um, was dem Weiternehmen ein vorzeitiges Ende bereitete, meldete Vierzig und zählte die Stiche, »Sie scheinen nicht folgen zu können.«

»Doch, doch!« versicherte der Aktuarius und mischte die Karten aufs neue.

Das Partiechen ging weiter.

Ab und zu trat Christine Jordans ins Zimmer, sah nach dem plaudernden Teekessel, musterte die Spielenden mit einem vielsagenden Blick, räusperte sich und füllte, wo es nötig war, die zierlichen Täßchen. Bei dieser Gelegenheit machte sie sich auch in auffallender Weise an dem Myrtenstöckchen zu schaffen, das sie selber zugebracht hatte und das jetzt in der Fensternische so fröhlich gedieh und grünte, als wäre ihm von einem lieben Geist der Auftrag geworden, einen seligen Frühling mit Himmelschlüsselchen, Gamander und Ehrenpreis in Röschens Stube zu tragen.

»Das wird immer pompöser und inniger, Mamsell,« sagte sie bedeutungsvoll über die Schulter, wobei sie sich in ihren Sonntagsspenzer legte, daß die Perlenkantillen in ein herausfordendes Klingen gerieten.

»Was denn, Christine?«

»Na, unser Stöckchen.«

Verlegen sah die Angerufene in ihre Karten und gab keine Antwort.

»Unser Myrtenstöckchen, Mamsell!« erläuterte Christine mit besonderem Nachdruck.

»Myrtus communis,« sagte der Aktuarius und setzte den Trumpfkönig vor, »ein immergrünes und gewürzhaftes Sträuchlein, lieblich anzuschauen und mit achselständigen Blütenständen versehen.«

»Schon richtig, Herr Aktuarius; aberst immer man weiter.«

»Seine Heimat sind die Gestade des Mittelländischen Meeres und der blaue Propontis.«

»Pardon, Herr Aktuarius, was ist das ›Propontis‹, oder wie Sie das Ding da benennen?«

»Das heutige Marmarameer; nur wurde der nördliche Teil der Dardanellen, der sogenannte Hellespont, im Altertum mit zur Propontis gerechnet.«

»Besonders aufzuwarten, das ist auch meine Erfahrung; aberst immer man weiter.«

Der freundliche Herr legte die Karten zusammen.

»Sieh einer mal an! Sie scheinen ein gewisses Interesse für diese Pflanzengattung zu haben.«

»Habe ich immer besessen, und ich möchte gern wissen, was Extraordinäres noch dran ist.«

»So hören Sie weiter. Ihre bitterlich zusammenziehenden und aromatisch schmeckenden Blätter und Beeren dienten ehedem als Heilmittel und wurden in dieser Hinsicht vielfach bewertet.«

»Das ist weniger mein Gusto,« versetzte die Dicke.

»Aber dieses vielleicht,« und der Aktuarius dozierte mit getragener Stimme: »Ihre vortrefflichen Eigenschaften gewannen ihr die Herzen der Menschen, und so kam es denn auch, daß sie im ganzen Abendlande in hoher Kultur steht.«

Jungfer Christine ließ ihre Kantillen herzhafter klimpern.

»Ganz meine Ansicht. Besonders die Myrtchens von Grades Jansen am Leikamp. Der pflegte sie mit Liebe und Mistus. Ich habe das Stöckchen von ihm selber bezogen, und nun lebt es bei uns als ein leibhaftiger Amor. Das muß man sich merken.«

Röschen erbleichte.

»Aber Christine . . .

»Warum nicht, Mamsell?«

Die Alte machte herausfordernde Augen.

»Christine hat recht,« sagte Aloys mit leichtem Erröten, »denn schon in den klassischen Zeiten Griechenlands war die Myrte ein Symbol der Tugend und Schönheit, der Göttin der Liebe geweiht, und blieb es bis heute.«

»Ganz mein Fall,« versetzte Christine, während ihre Büste den seidenen Spenzer auf und nieder bewegte. »Da sind die alten Griechen doch sinngemäße und nachdenkliche Leute gewesen, die meine Estimierung besitzen, und es wäre gar nicht so ohne, wenn auch heutigen Tages . . . denn das mit die Myrtenbäumchens – da steckt doch 'n delikater Momang und 'n gewisser lieblicher Schwung in die Sache. Indessen jedoch und besonders aufzuwarten: nu kann ich die Lampe wohl bringen, denn es ist so'n bißchen schummrig geworden. Oder aberst« – und sie neigte still den Kopf auf die Seite und legte mit einer rührenden Einfalt die Hände zusammen – »wenn's nicht pressiert und kommoder ist, noch so'n Stündchen im Dunkeln zu sitzen: ich kann auch noch warten. So was braucht nicht mit Schnellpost zu fahren. Allens will seine Genüglichkeit haben, was es auch sei, denn mit's Heftige kann man keine Vögelchens fangen. Es hat daher wohl noch Zeit mit die Lampe?«

»In 'ner Viertelstunde vielleicht,« sagte Röschen, »wir können noch sehen.«

»Das ist denn doch 'ne reelle und vernünftige Auskunft,« konstatierte die würdige Dame. »Also bis gleich denn.«

Auf weichen Pirmasensern glitt sie lautlos von dannen.

Das anheimelnde Rot, das sich alle erdenkliche Mühe gab, die letzten Augenblicke des Adventtages mit blühenden Kränzen zu schmücken und ihm das Hinschwinden leichter zu machen, war langsam zerfasert. Nur ein winziges, kaum wahrnehmbares Leuchten stand über den Dächern. Traumhaft war alles. Schneeblau sah der Abend ins Zimmer; aber man konnte noch spielen. Nur in den Ecken lag ein Düstern und Dunkeln, und aus diesem Düstern und Dunkeln heraus tickte das bronzene Stutzührchen mit seinem zirpenden Stimmchen, als wenn ein possierliches Mäuschen dem andern zuriefe, zu einem heimlichen Stelldichein zu kommen, um sich in Liebe zu finden.

»Fünf Uhr,« sagte Röschen.

Abermals legte sie die Trumpfkarte um, meldete Vierzig und warf das letzte Atout hin.

Der Aktuarius hatte wieder verloren. Mit einer leichten Neigung des Kopfes schob er den Einsatz beiseite.

»Das Glück will nicht kommen,« sagte er leise.

»Nur zu natürlich,« entgegnete Röschen, und ihre warme, schmale Hand legte sich still auf die seine, »denn Ihre Gedanken sind wie Feldflüchter. Sie finden nicht Ruhe. Ach! und Sie sind doch so sehr der Ruhe bedürftig – nach all dem Schmerzlichen und dem ewigen Grübeln. Da wird selbst die maßvollste Seele aus dem Gleichgewicht gehoben. Habe ich recht, lieber Freund?«

Sie umfaßte seine Linke in begütigender Weise.

»Schon möglich.«

Er nickte ihr zu und erwiderte den Druck ihrer zärtlichen Finger.

»Aber wie sollte ich anders? Es ist eine Zeit, die einen nicht losläßt. Viel Menschliches. Aber auch dieses will eingerenkt werden. Einkehr ist nötig, nur darf man diese Einkehr nicht mit stetiger Kasteiung verquicken. Wir alle sind Sünder und haben unsere bedenklichen Schwächen.«

»Sie denken an Moritz van Dornick.«

»An ihn weniger, denn er ist ein gerader und aufrechter Mann, wenn auch mit Jähzorn geschlagen . . . aber an Ewert. Da war viel Not um seinetwillen.«

»Und nun?« fragte sie ängstlich.

»Das Schlimmste ist aus dem Wege geräumt und die Ehre sauber geblieben. Mir liegt es nicht ob, den gestrengen Richter zu spielen. Warum auch? Jeder schlage an die eigene Brust und bekenne sich schuldig. Ein junger Stamm läßt sich biegen. Es ist ein guter Kern in dem Jungen. Das hat er vom Alten . . . und so bin ich denn des sicheren Glaubens: aus echter Reue wird die Wiederauferstehung geboren. So auch bei ihm. Heute ist ein ernster Festtag bei Moritz van Dornick. Der verlorene Sohn wurde gefunden.«

»Wie mich das freut!« schluchzte Röschen. »Und er . . . ich meine, wie soll ich das sagen . . . ich denke, die alte Firma hat ihn doch nicht aufgegeben?«

»Keineswegs; er bleibt bei Harkopp & Söhne. Noch vor Nacht wird er dort sein. Meine besten Wünsche begleiten ihn. Stirb und werde! Das Alte ist gestorben in ihm, das Neue im Werden begriffen. Qualen und herbe Ereignisse verjüngen den Menschen, läutern ihn, machen ihn aufs neue zu einem brauchbaren Glied einer festumschriebenen Ordnung. Erhobenen Hauptes mag er sich an die Arbeit begeben. Labor omnia vincit improbus. Wer so wie er durch ein leichtfertiges Leben hindurch ging, aber auch so bereute wie er, hat einen Anspruch darauf, das Heil zu erwarten.«

»Und das mit Nellecke und dem jungen Terstegen – haben Sie auch dieses geregelt?«

Er zuckte zusammen.

»Es ist nicht mein Verdienst,« sagte er fahrig und mit einem schmerzlichen Unterton in den gesprochenen Worten. »Im Gegenteil: ich bin in dieser Hinsicht nicht der gute Sachwalter gewesen, den Sie in mir vermuten. Ich ließ mich vielmehr von Sonderzwecken beherrschen. Das will ich nicht leugnen und darf es nicht leugnen. Aber wo ich fehlte – ich tat es ohne böse Nebengedanken. Ich irrte mich eben, und Irren ist verzeihlich. Erlösen kann nur die wahrhaftige Liebe. Darüber bin ich mit mir völlig im klaren. Nun beginnt es zu tagen, und die Hauptsache ist: da drüben ist Sabbatfeier, auch für Lambert Terstegen. Alle Pfade sind nunmehr geebnet.«

»Durch Sie,« sagte Röschen.

»Wieso das?«

Er hatte sich plötzlich erhoben.

»Weil ich weiß, Sie gaben Ihr Herz hin, um andere glücklich zu machen.«

Ihr seidenes Kleid knisterte dicht an seiner Seite. Ihr Odem war bei ihm. Er spürte den Hauch ihres Körpers, den sanften Druck ihrer Hände.

»Sie, der da kommen mußte« – und sie berührte ihn mit scheuen Fingern – »Sie tun alles aus Ihrer großen Menschenwürde heraus und stellen sich blind, um ihr Wohltun nicht vor Augen zu haben. Sie geben aus dem Vollen heraus und wenden sich ab, um keinen Dank zu empfangen. Ach, Sie . . .«

Ihr Antlitz stand dicht vor dem seinen.

»Fräulein Röschen, hören Sie auf!«

»Nein, nein, nein!« sagte sie innig. »Sie sind für alle ein Samariter der Seele geworden. Altäre richten Sie auf, und wo da Wunden sind, Sie lindern die Schmerzen, und wo da Trauer ist, Sie wandeln diese Trauer in Freude. Was soll aus uns werden, wenn Sie erst nach Millendonk ziehen! Da gehen Sie über Ihre Wiesen und Felder . . . und sprechen mit sich . . . und reden mit Gott und allem, was er geschaffen . . . und bleiben der Treue und Gute . . . und sind freundlich wie immer. Wir aber sitzen dann still und allein und sind nicht die Künstler, uns ein neues Leben zu zimmern. Ich denke mit Wehmut daran. Ach! und die Stunde muß kommen, die Stunde muß kommen.«

Ihre Stimme war schwer von Tränen geworden.

»Wenn ich nach Millendonk gehe . . .«

Er sprach es, wie man etwas Heiliges ausspricht. Die bange Erwartung des Geschehens kam über ihn. Er fühlte die Nähe des Weibes, und dieses Weib war keusch und rein. Er atmete ihr duftiges Haar, und dieser Duft ging über ihn fort wie eine trunkene Welle.

Es war mittlerweile so dunkel geworden, daß sie sich kaum noch zu sehen vermochten. Um so inniger drängten ihre Körper zusammen . . . sie an ihn gelehnt, er den Arm um ihre Schulter geschlungen: zwei Menschen, bereit, sich zu finden, und dennoch zwei Menschen, die den Mut nicht hatten, ihr Herz zu entdecken. Wie ein Frühlingserwachen war es durch ihre Seelen gegangen . . . ein Auferstehen . . . ein scheues Wecken . . . ein Rufen fern über dem Walde, das anhebt, sich leise verstärkt, um dann wieder sanft zu verklingen wie ein einsames Grüßen in der Sommernacht.

»Röschen, und wenn ich nach Millendonk gehe, weshalb sollten Sie, meine Freundin . . . Ich meine, es ist doch etwas Schönes und Liebes . . .«

Ein greller Schein fiel plötzlich über sie her und schreckte sie auseinander, als wären ihre Gedanken durch ein unreines Land gezogen.

Mit behäbigem Schmunzeln stellte Christine das Licht auf den Spieltisch.

»Besonders aufzuwarten, hier wäre die Lampe; oder aberst, wenn's noch zu frühzeitig ist . . . es pressiert absolut nicht . . . ich kann ja mit's Licht wieder gehen.«

Mit dem Ausdruck unsagbarer Teilnahme, die Hände langsam umeinander drehend, lehnte sie ihren Oberkörper zurück, um die Wirkung des Gesagten besser in sich aufnehmen und verdauen zu können.

»Na und . . . darf man schon heute . . .

Da sah sie: es war höchste Eile geboten, die eingefädelte Sache nicht aus dem Nadelöhr gleiten zu lassen. Sofortiges Handeln war nötig, und mit einer Fixigkeit, die man der kompletten Dame nicht zugetraut hätte, ergriff sie das Myrtenstöckchen, stellte es in die beste Beleuchtung und sagte: »Herr Aktuarius, wenn Sie das hier mit nach Millendonk nähmen und ihm dort Luft und gute Gewohnheit vergönnten – es wäre schon der lieblichste und vergnüglichste Ausweg, denn Sie sagten ja selber . . .«

Röschen verfärbte sich bis in die blonden Härchen hinein. Mit einem unterdrückten Schrei fuhr sie auf.

»Christine, was unterfangen Sie sich?! Was behaupten Sie da?!«

»Ganz einfach, Mamsell. Ich sage man das, was ich für richtig befinde, denn ich vertrete den Standpunkt: immer schnurgeradeaus wie'n ehrliches Postpferd, ohne dabei linkwärts oder rechtwärts zu kucken, und weil ich das tue, bin ich auch der offenherzigen Meinung: das hier muß nach Millendonk zu. Nicht auf 'ne andere Stelle. Sonst muß ich es dem Herrn Dechanten vermelden.«

»Mein Himmel, Christine!« entsetzte sich Röschen, raffte ihr Seidenes zusammen und verschwand ins Nebenzimmer, die Tür hinter sich zuwerfend.

Die Dicke erstarrte zu Eis.

»Nanu!« sagte sie endlich und stierte der Flüchtigen nach, als wäre ein gespenstisches Wesen von ihr gegangen. »Hat's so 'ne Eile?«

Dann wandte sie sich.

Fester zog sie den Spenzer zusammen.

Die Kantillen klimperten.

Ihr Blick fiel auf den Aktuarius. Fassungslos sah sie ihn an.

Dann ging sie gegen ihn vor: »Ich dächte doch, Sie hätten bereits die erfreuliche Totalität gefunden; denn ich habe doch lange genug mit die Lampe gewartet – und nu stehen Sie da, als wären Pfingsten und Ostern auf ein und den nämlichen Sonntag gefallen.«

Ihre Worte kamen wie von einem Schleifstein herunter.

»Es ist alles so plötzlich gekommen, Jungfer Christine.«

Verlegen glitt er mit den Fingern an seinen Knöpfen herunter. Er sah in ein Brodeln und Strudeln, in ein unendliches Chaos, noch immer das zierliche Persönchen vor Augen und das neckische Knistern der Seide im Ohr. Er schwebte wie ein Schemen zwischen Himmel und Erde, ein Zustand von längerer Dauer, hätte ihn Christine Jordans nicht wieder auf festen Grund und Boden verschlagen.

»Ach was . . . es ist alles so plötzlich gekommen!« fuhr sie ihn an. »Das gibt's nicht. Über Ihnen aberst auch, mein Verehrter! Ich hätte nur Sie sein sollen und mit männlichen Hosen bekleidet. Was da zu verfertigen war, das war in 'ner Viertelstunde zu machen, und ich bin wenigstens 'ne halbe draußen geblieben. Das ist nu alle geworden, totaliter alle. Aberst nur ja nicht mit die Flinte ins Kornfeld. Immer piano,« und ihre Stimme nahm einen versöhnlicheren Ton an, während ihr fetter Zeigefinger sich auf und nieder bewegte: »Sie müssen nämlich wissen, mein Lieber, Ihnen mankiert 'ne gewisse Alertheit. Wie die Frösche Junge beziehen und alles Getier in Sumpf und Morast sich amüsiert und seine Flitterwochen betreibt, drin sind Sie firm und primissima Klasse wie unser Ami mit's Mäusefangen, aberst mit dem göttlichen Amor befinden Sie sich man auf 'nem schwächlichen Standpunkt. In dieser Beziehung sind Ihnen die alten Griechen doch bedeutsam über gewesen, und Sie haben doch so schön von's Myrtenstöckchen und der Göttin der Liebe gesprochen. So sind die Gelehrten. Natürlich« – und ihr duldsames Haupt geriet in ein bedenkliches Schaukeln – »heute ist nichts mehr zu machen. Was verpaßt ist, ist nu einmal verpaßt. Jede weibliche Dame hat die Dekoration zu bewahren. Ich kenn' die Mamsell. Die kommt nicht mehr retour, wenigstens jetzt nicht. Desungeachtet« – und die behäbige Jungfer machte ein Gesicht, als stünden auf ihren Lippen die Worte Heines geschrieben:

»Rhamsenit, von Gottes Gnaden,
König zu und in Egypten,
Wir entbieten Gruß und Freundschaft
Unsern Vielgetreu'n und Liebden.«

als habe sie die Schätze und Geheimnisse der Pyramiden zu hüten und brauche nur zuzugreifen, um den Herrn Aktuarius und die ganze Welt zu beglücken – »desungeachtet: das mit's Myrtenstöckchen läßt sich schon einrichten. Nach Millendonk kommt's. Da kaviere ich für, oder ich will mich nicht Christine Jordans benennen. Nur – man muß den passenden Apropo und die neueste Saison in Aussicht nehmen. Das Weitere wird sich dann finden. Stille, kein Wort mehr, sonst kommt sie in's Weinen,« und ohne noch eine Antwort abzuwarten, nahm sie die Lampe, klinkte geräuschlos die Tür auf und leuchtete den Besuch mit gütigem Lächeln die Treppe hinunter.

* * *


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