Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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15

Andern Tages.

Der erste Rauhreif war niedergegangen. Bäume und Sträucher trugen kandierte Wämser. Jedes Zweiglein erstrahlte wie Zucker. Mit seinem Klingen rieselte es von den Ästen herunter.

Der Rhein schwelte. Schwerfällig wie ein baktrisches Kamel schaukelte er sich im Morgennebel an dem alten Emmerich vorüber. Er ließ sich Zeit. Immer noch früh genug kam er nach Holland. Warum da sich eilen? Ein monotones Getute wälzte sich über das langsame Wasser. Es kam von der Werft und den Landungsbrücken. Hier und da der Ruf einer lauten Sirene, das Anschlagen einer Schiffsglocke, das Stampfen der Maschinen in den eisernen Rümpfen, die noch vor Anker lagen. Dann ein Rasseln der Ketten. Der erste Steamer gab Dampf her, drehte ab und fuhr gemächlich rheinaufwärts.

Der klotzige Turm von Sankt Aldegundis streifte sich das dunstige Laken herunter. Sein Helm glänzte im Frühlicht. Das Land klärte auf. Die Häuserzeilen der Stadt wurden sichtbar. Arbeiterkolonnen marschierten dem Hafen zu, verteilten sich ihrem Auftrag gemäß und machten sich fertig.

Der Tag brach an.

Die Arbeit hatte begonnen.

Auch in dem Hause Harkopp & Söhne.

Punkt acht Uhr saßen alle Angestellten vor ihren Pulten und Tischen. Die Federn kritzelten über das blaue Papier, reihten Zeile an Zeile oder malten drei- und vierstellige Zahlen in dickleibige Bücher.

Herr Archibald Pirrwitt, der erste Prokurist, thronte auf seinem gepolsterten Drehbock, eifrigst damit beschäftigt, lange Kolonnen aufzurechnen und das Soll und Haben in Einklang zu bringen.

Plötzlich warf er den Kopf herum und fragte den zweiten Kassierer: »Ist Herr Fleutgen noch immer nicht da?«

»Noch immer nicht,« kam es zurück. Ein verlegenes Schweigen folgte; dann ein eifriges Tuscheln und Raunen.

»Äußerst fatal, aber äußerst,« brummte Herr Pirrwitt, griff zum Rotstift und verdoppelte seine Vorstöße gegen die widerborstigen Ziffern und Zahlen. Allein, wie er auch kalkulieren und nachsinnen mochte – er kam nicht ins reine. Immer wieder grinste ihm ein scheußliches Manko entgegen.

»Wo der Schnitzer nur steckt?« sagte er unwillig und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Also von neuem!« und nochmals ging es auf und ab, rückwärts und vorwärts. Sein Schädel rauchte, aber das Heil wollte nicht kommen.

»Da soll doch ein dreifach destilliertes Elaborat des leibhaftigen Satans . . .«

Er wurde unterbrochen.

Der Chef des Hauses erschien, zugeknöpft, in verdrießlichster Laune, und schritt, ohne seinem Personal den üblichen Gruß zu bieten, gleich seinem Privatkontor zu.

Hier angekommen, warf er seine Ledermappe auf den Schreibtisch, zupfte die Vatermörder zurecht, begab sich ans Fenster, zählte die Maste der vor Anker liegenden Schiffe, trat wieder zurück, überflog die Eingänge, machte etliche Vermerke und legte die Hand schwer auf die Briefschaften.

Ein Klingelzeichen rief den Bürodiener herbei.

»Ich lasse Herrn Pirrwitt bitten.«

Gleich darauf drehte sich der Herr in großgemustertem Buckskin lind und weich über die Schwelle, sichtlich bemüht, die Einschätzung seiner Person auf den bescheidensten Tiefstand zu drücken, heute noch mehr als an den übrigen Tagen.

»Sie haben befohlen . . .«

Die Hände verlegen gegeneinander reibend, war er näher getreten.

»Nun, mein Lieber, sind die Konnossemente erledigt?«

»Erledigt, Herr Harkopp.«

»Und die fünfzehn Zentner Rippchentabak . . .

»Mit dem ersten Steamer nach Köln.«

»Schön! und im inneren Betriebe nichts Neues?«

Die Hand des Prokuristen glitt sorglich über die schmalen Sardellen.

»Daß ich nicht wüßte, Herr Harkopp.«

»Und das mit Herrn Fleutgen . . .? Doch später hiervon. Zuvor möchte ich wissen . . . Sie erinnern sich doch noch unserer Unterredung im verflossenen Frühjahr?«

»Gewiß, als wäre sie heute geschehen.«

»Ich ziele dabei auf den jungen van Dornick.«

»Ich verstehe, Herr Harkopp.«

Dem Bürochef kribbelte es heiß durch die Seele.

»Und Sie sind hinsichtlich der von Ihnen gesprochenen Worte noch völlig im Bilde?«

»Völlig, Herr Harkopp.«

»Sie sagten mir damals: Greifen Sie zu. Verpflichten Sie ihn. Nicht lange gefackelt. Seine Neigung zum Pokern und zu kleinen Differenzgeschäften ist nicht hoch zu bewerten. Nur etwas den Daumen ins Auge, und sie wird sich verlieren. Im übrigen, man kann zufrieden sein mit der Lösung der Dinge. So ungefähr war Ihre damalige Ansicht?«

»Genau so, Herr Harkopp.«

»Trefflich! und wie steht es jetzt mit dem Pokern?«

»Leider, leider . . .

»So, so! und das mit den Ultimo- und Differenzgeschäften?«

»Mein Gott! ich hörte davon. Betrüblich, äußerst betrüblich! Aber ich für meine Person . . . Was die Menschenmöglichkeit war, geschah meinerseits, ihn auf sauberer Basis zu halten, zumal da ich annehmen mußte . . . Nur äußerst geringe Beträge . . .«

»Ich werde Sie eines andern belehren.«

Dem bescheidenen Herrn begannen die Knie zu schlottern.

»Herr Harkopp, Sie denken doch nicht . . .

»Ich denke gar nichts, mein Lieber. Sie und ich, wir beide sind solidarisch verpflichtet. Treu und reell bis in die innersten Knochen . . . und wurde da ein Fehler gemacht, so haben wir ihn beide begangen. Irren ist menschlich, und wir irrten uns beide.«

»Äußerst gnädig, aber äußerst, Herr Harkopp.«

Ein tiefer Seufzer rang sich aus der Brust des erleichterten Mannes.

Der Kaufherr fuhr fort: »Vorläufig mit dieser Sache ad acta, denn ich komme jetzt auf Fleutgen zu sprechen. Mit ihm nimmt die Affäre ein kriminelles Gesicht an, schlägt die Karte eine nichtsnutzige Volte. Seit wann haben Sie ihn zur Kasse beordert?«

»Seit Juni, Herr Harkopp.«

»Und die von ihm geführten Bücher – wurden sie Ihrer Revision unterzogen?«

»Ich bin damit beschäftigt . . . seit einigen Tagen . . .«

»Na – und . . .

»Ich muß leider gestehen . . . irgendein Fehler . . . aber bis dato . . . ich bin ihm noch nicht auf die Sprünge gekommen.«

»So so! und wie hoch beläuft sich die fehlende Summe?«

»Auf viertausend Taler; es können auch fünf sein. Indessen: ich bin noch immer der Ansicht, sie werden sich finden.«

»Ich sage Ihnen: sie finden sich nicht mehr. Die fünftausend Taler sind für Harkopp & Söhne verloren.«

Dem Herrn im großgemusterten Buckskin grauste. Er hatte Feuer und Funken vor Augen.

»Aber Herr Harkopp . . .! Mir schwindelt. Da muß man gleich Herrn Fleutgen zitieren. Der Mensch muß her, muß unbedingt her. Muß in die Knie hinein. Er wohnt bei seiner Mutter. Tot oder lebendig, er muß Farbe bekennen. Ich werde selber, Herr Harkopp . . .«

Ein bitteres Lachen.

»Unnütze Arbeit. Er ist mit dem Instinkt des Lasters behaftet und befindet sich nicht mehr in Deutschland.«

»Wa . . . wa . . . wa . . . was . . .?!«

Das ganze Kontor drehte sich um den treuen Beamten. Stühle, Tische und Musterschränke waren zu einem Karussell mit kreisenden Spiegeln geworden.

»Nicht auszudenken, die Sache! Nicht möglich! Das wäre doch äußerst, Herr Harkopp!«

»Ich sage Ihnen, er ist nicht mehr in Deutschland.«

Schwer legte sich die Hand des Chefs auf die Ledermappe.

»Hier die Beweise . . . ein Brief seiner Mutter . . . ein volles Geständnis. Außerdem: sie ist selber bei mir gewesen.«

»Jesus Christus . . .

Herr Pirrwitt warf die Hände zur Decke, schüttelte den Kopf und mußte sich setzen.

Gleichzeitig schrillte ein neues Klingelzeichen hinaus.

Der Bürodiener erschien.

»Herr van Dornick soll kommen, aber sofort!« und kaum waren zwei Minuten vergangen, als Ewert bleich und verstört am Türpfosten lehnte.

»Treten Sie näher!«

Wankenden Schrittes geschah es.

»Sie wissen: nur feste und zuverlässige Charaktere kann das Haus Harkopp gebrauchen. In meiner Firma ist kein Raum für unsichere Kantonisten und haltlose Menschen. Sie enttäuschten mich maßlos. Wie weit Ihre Schuld reicht, wird diese Stunde erweisen. Aber bevor ich den Richterspruch fälle, habe ich Fühlung zu nehmen. Sind Sie gewillt, mir nach bestem Wissen und Gewissen Antwort zu geben?«

»Ich will es, Herr Harkopp.«

»So hören Sie zu, aber ich bitte mir aus, die Ohren zu spitzen und sich nicht auf fahlem Pferde erwischen zu lassen. Die erste Unwahrhaftigkeit macht Sie unmöglich, wirft Sie vom Drehstuhl herunter. Sie haben die Wahl, entweder die reine Wahrheit zu sagen oder die ganze Strenge des Gesetzes zu fühlen. Der Amtstisch wartet Ihrer, die Bank ist gespannt, um mich eines Fachausdrucks zu bedienen, und somit zur Sache. Bei Ihrer Bestellung als Kommis meiner Firma versprachen Sie mir in die Hand, mit diesem Termin das Pokern zu lassen. Ja oder nein, junger Mann?«

»Es ist so, Herr Harkopp.«

»Und Sie pokerten weiter?«

»Ich tat es.«

»Mit Fleutgen?«

»Mit Fleutgen, Herr Harkopp.«

»Auch die Ihnen verbotenen Ultimo- und Differenzgeschäfte, obgleich Ihnen noch die kaufmännischen Eierschalen am Hintern klebten, betrieben Sie trotzdem.«

»Ich muß es gestehen.«

»Mit Fleutgen?«

»Mit Fleutgen, Herr Harkopp.«

»Mit Glück oder Unglück?«

»Mit Unglück«

»So! und durch wen wurden die Mankos beglichen?«

»Durch Fleutgen.«

»Mit welchen Mitteln?«

»Aus seinen Mitteln, Herr Harkopp.«

Das weinrote Gesicht des Chefs nahm einen rubinartigen Glanz an und erinnerte an böhmische Granaten.

»Muß ich Sie jetzt schon auf einer Lüge ertappen?«

»Herr Harkopp, auf Ehre . . .

»Ihre Ehre zum Teufel!« trumpfte der Handelsherr auf. »Sie riecht nach altem Hammelfleisch und stammt aus dem Spülicht. Und da wollen Sie mit dieser Ausrede kommen? Aus seinen eigenen Mitteln? Zum Lachen! Ich bin anderer Ansicht. Ihr Sozius und Pokerkollege hat Dreck am Stengel und scheute sich nicht, lange Finger zu machen.«

»Herr Harkopp, mein Freund . . .

»Ist ein Lump übelster Sorte, ein Falschbucher, ein Nepper, wie er im Buch steht, und ist seit gestern Abend flüchtig geworden. Seine eigene Mutter . . . Und das wußten Sie nicht?«

Ewert taumelte rücklings.

»So wahr mir Gott helfe . . .

»Und Sie wollen auch leugnen, daß die ersten fünftausend Taler, die Ihr sauberes Kompagniegeschäft erforderte, um Ihre faulen Differenzmanipulationen zu decken, meiner Kasse entstammten?«

»Herr Harkopp, ich will hier auf der Stelle versinken . . .«

Der Gepeinigte stieß einen wunden Schrei aus und machte Miene, vor seinem Chef in die Knie zu fallen.

Er wurde verhindert.

»Keine Zeremonien! Lassen wir das! Ich bin kein Freund von rührsamen Szenen, will aber in diesem Falle annehmen, Ihnen zuliebe und Ihrem Vater zuliebe, daß Sie sich in gutem Glauben befanden. Außerdem: die Firma wird Mittel und Wege suchen, den sträflichen Eingriff verschmerzen zu können. Gut also! nehmen wir an. Sie haben in bestem Glauben gehandelt, hielten die fragliche Summe für den rechtlichen Besitz Ihres Freundes. Nehmen wir an, nehmen wir an . . . aber dieses hier werden Sie und die Firma niemals verwinden.«

Er hielt ihm ein Schreiben hin.

»Kennen Sie das?«

Mit stieren Augen sah Ewert auf den zerknitterten Zettel.

»Es ist meine Handschrift, Herr Harkopp.«

Er sprach es, als hätte er Blut auf der Zunge.

»Also noch nicht gänzlich vermorscht und verrottet!« fiel der Kaufherr dazwischen. »Sie gestehen somit: ein Schuldschein zu Gunsten der Frau Elisabeth Fleutgen und von Ihnen ausgestellt . . . elftausend Taler . . . Die Frau war so einfältig, ihr sauer Erspartes, bis auf den letzten kärglichen Groschen, in Ihre versumpften Ultimo- und Differenzgeschäfte zu schmeißen. Unerhört und mir völlig unfaßbar! Kaum glaublich! Erst wurde meine Kasse geplündert, und dann mußte die arme Witwe Hals geben und an diesem elenden Zettel verbluten. Da hilft kein Sichsperren: Letzteres ist auf Ihr Konto zu buchen, denn Sie haben diesen Wisch unterschrieben.«

»Ich tat es.«

»Mit dem Einverständnis Ihres unseligen Freundes?«

»So ist es, Herr Harkopp.«

»Und Sie empfingen die Gelder?«

»Ja,« stammelte Ewert mit vertrockneten Lippen, »aber ich glaubte, durch sie die entstandenen Verluste ausgleichen und das Unternehmen wieder sanieren zu können. Ich wollte ja selber . . . alles sollte auf Heller und Pfennig . . .«

»Mensch, Sie imfamer!«

Herr Johann Baptist war die verkörperte Langmut mit grimmigem Einschlag. Unter seinen weißen Brauen stand ein zuckendes Wetter. Das stieg langsam herauf. Seine Stimme rollte: »Das also ist Ewert van Dornick! Herr, Sie! wenn auch nicht vor dem irdischen Richter – vor Ihrem Gewissen und mir sind Sie ein Entgleister, ein moralischer Lump, ein Bankrottierer, reif und wert, aus meiner Firma geschmissen zu werden. Oder aber: haben Sie Deckung? Können Sie die erschwindelte Summe begleichen? Sind Sie imstande, die Not von der Schwelle des geschädigten Frau zu scheuchen? Sie und ihre verlähmte Tochter stehen vor dem Hunger. Haben nichts mehr zu beißen und nichts mehr zu brechen. Sie nahmen den beiden alles und jedes und sind indirekt haftbar für die kriminelle Schuld des verlorenen Sohnes und Bruders.«

»Mein Gott, ich will ja alles aufbieten . . .«

»Schweigen Sie gütigst!« gebot der Chef mit zermalmender Ruhe. »Jedes Wort würde die böse Affäre verschlimmern, sie noch trauriger und häßlicher machen. Ihr gottsträflicher Leichtsinn schreit durch die Wolken. Nicht für Sie, aber für Ihren trefflichen Vater hege ich ein tiefes Bedauern. Ich, für meine Person, habe ein Interesse daran, das tragische Begebnis nicht auf die Gasse zu bringen. Desgleichen die Handlung. Indessen erfordert mein eigener Belang, entsprechende Maßnahmen zu treffen. Längeres Parlamentieren lehne ich ab. Ob und wie ich weiter über Sie zu disponieren gedenke, werden die nächsten Wochen erbringen. Das braucht seine Besinnung. Aber ich will: mit Ihrem Vater haben Sie sich sofort ins Einvernehmen zu setzen, ihm alles zu beichten und nichts zu verschweigen. Suchen Sie Ihren moralischen und geldlichen Kredit wieder zu heben. Arrangieren Sie sich, obgleich ich fürchte: es ist nichts mehr zu machen. In acht Tagen erwarte ich Antwort. Bis dahin haben Sie Urlaub. Denken Sie nach über die stolze Reinheit der geschäftlichen Ehre. Sie haben es nötig. Ihrem Busenfreund ist nicht mehr zu helfen. Den erreicht sein Schicksal. Sie waren nahe daran, demselben Geschick zu verfallen. Gehen Sie in sich. Und nun . . .«

Der Prinzipal hob die Hand und zeigte zur Türe. Mehr tot als lebendig taumelte Ewert aus dem Kontor seines Herrn, wie ein Hund, den man sich vom Leibe geschüttelt hat.

Herr Johann Baptist Harkopp warf sich schwer in den Sessel. Mit gerunzelten Brauen pfiff er die ersten Takte des ›Alten Dessauers‹ über die grüne Tischplatte fort.

»Was sagen Sie hierzu?« fragte er endlich, indem er ein Lineal ergriff und sich darauf beschränkte, den ›Alten Dessauer‹ nur noch zu trommeln, statt zu pfeifen.

Herr Pirrwitt, der während der peinlichen Auseinandersetzung zu ersticken gedroht hatte, kam wieder ins Leben zurück, rang die Hände und ließ sie mit einem wehen Seufzer auf die Schenkel fallen.

»Was soll ich sagen, Herr Harkopp? Nichts kann ich sagen. Mir ist so, als gingen Treu und Glauben in zerlumpten und zerrissenen Kleidern. Es ist alles so traurig, aber äußerst, Herr Harkopp. Dieser Fleutgen und dann noch der andere! Mein Latein ist zu Ende. Ich weiß keinen Rat mehr.«

»Aber ich!« rief der Chef und pfefferte das Lineal auf den Schreibtisch. »Verdammich! vom properen Deck des Hauses Harkopp & Söhne ging ein Mann über Bord. Gut, mag er schwimmen! Er war nicht honorig veranlagt. Ein zweiter hängt noch im Tauwerk. Möglich, er kommt wieder auf die Beine zu stehen, möglich auch nicht. Bei ihm müssen wir warten. Mal sehen, was wird. Wird's nicht, mag er fliegen. Nur der alte van Dornick – der drückt mir das Herz ab. Da muß man zu helfen versuchen. Und dann noch, mein Lieber: Fleutgens Mutter bezieht bis auf weiteres das Salär ihres Jungen. Das wäre wohl alles.«

»Nobel, äußerst nobel, Herr Harkopp. Soll mir 'ne Freude sein, die Sache zu buchen.«

»Fertig! Streu' Sand drauf.«

Der alte warmblütige Herr erhob sich mit der Kraft eines Jünglings.

»Ihre Hand, mein Getreuer. Was – feuchte Augen? Das wäre noch besser! Nur nicht das heulende Elend. Gewiß: man könnte schon über die verlotterte Jugend etliche Tränen vergießen. Blödsinniges Draufgängertum ohne Einsicht und Ehre. Keine stabilen Grundsätze mehr. Aber was fruchtet's, den Prediger in der Wüste zu spielen? Hier kann 'ne Tatze nur helfen und 'n steifer Nordost um Nase und Ohren. Ein Rezept vom alten van Dornick. Mag er dieses Rezept auch seinem Sohn in die Visage knallen. Vielleicht hat er Glück mit dem Doktor Eisenbart-Mittel. Mich sollte es freuen, schon im Interesse der Firma. 'ne prächtige Kur: Nordost um die Nase. Das gilt auch für uns. Und dann noch ein zweites: Kopf oben behalten! In diesem Sinne . . . und jetzt an die Arbeit.«

»Ja, Kopf oben behalten!«

Der Herr in großgemustertem Buckskin wiederholte es mit glänzenden Augen.

Gleich darauf thronte er wieder auf seinem gepolsterten Drehbock, bolzengerade und mit einem frischen Trieb in der Seele.

Durch alle Kontore und Magazine pulste das gewöhnliche Leben, als wäre gar nichts geschehen. Fässer wurden gerollt, eingegangene Waren besichtigt und mächtige Ballen verfrachtet. Händler und Agenten gingen ab und zu. Geräusche, die keine Geräusche waren, Anordnungen und Befehle, die mit dem samtartigen Gang einer Präzisionsmaschine liefen, bildeten den Untertakt des weitverzweigten Betriebes. Keine Aufregung. Keine Überhastung. Nur lautloses Schaffen. Die Firma gefiel sich in den Manieren eines feinsinnigen Gentlemans. Bis zum Rheinwerft duftete es nach Zucker, Kaffee und Tabak.

Mit dem stumpfen Phlegma eines baktrischen Kamels schaukelte sich der Strom durch die Niederung dahin. Neue Schiffe machten klar zur Abfahrt. Es roch nach Teer und Taukränzen. Abermalige Glockenzeichen ertönten. Kommandorufe! – und der zweite Steamer schaufelte langsam rheinaufwärts.

* * *

Schon drei Tage hindurch hielt sich der blaue Mynheer in seinem Zimmer verrammelt, wie ein vergrämter Dachs in seinem Bau unter Tag.

Niemand fand Eintritt bei ihm. Jedes Anklopfen überhörte er in der hartnäckigen Art eines eingewinterten Siebenschläfers. Nur Dores van Bommel, der Kalfakter des Altmännerhauses, durfte es von Zeit zu Zeit wagen, den in Zorn und Bitternis getränkten Raum zu betreten. Er sorgte für die tägliche Notdurft, brachte Brot und Speck zu, nebst dem hierzu gehörenden Rumdeputat, um den freiwillig Eingekäfigten nicht verdursten zu lassen.

Jede Unterredung vermied er, ging dem alten Rheinbären scheu aus dem Wege, aus Furcht, irgendein flugfertiges Ding oder die Tatze des grauen Sohlengängers zwischen Kopf und Nacken zu spüren.

Endlich fand er Gelegenheit, Rede und Antwort zu stehen.

»Rindvieh, infames! spektakelt das verfluchtige Machwerk noch immer an der Tür vom alten Terstegen?«

»Noch immer, Mynheer.«

»Blexem! ich dächte doch, du wärst Kalfakter im Hause!«

»Bin ich, aber was soll ich machen, Mynheer? Wisch' ich's weg – über kurz oder lang wächst das schauderöse Ding wieder durch die Planken hindurch. Das geht schon wochenlang so weiter. Ich kann mir nicht helfen: hier ist ein Mirakel im Spiel.«

»Dores!« – und Moritz verstreute feurige Funken – »ich sage dir, Dores: ist die dämliche Sache, und zwar in zwei Tagen, von heut' an gerechnet, nicht spurlos verschwunden, dann frißt du den Totenkopp mit Haut und Haaren herunter – den Kürbis durch die Bretter und das Hinterkastell mitten im Hausflur. Verstanden?«

Ja, Dores hatte verstanden. Mit begründeter Geschwindigkeit drückte er sich durch die Zimmermannsöffnung, gefolgt von einem Meerzwiebeltopf, der mit dem Getöse eines abgepulverten Böllers gegen die Stubentür krachte.

Nein, mit dem Kapitän Moritz van Dornick war es nicht rätlich, in jetziger Zeit Kastanien zu rösten und die braunen Schalen mit ihm gemeinschaftlich zu lösen. Er schnappte jeden Augenblick zu wie ein bemooster Althecht in 'ner überschwemmten Mergelkuhle – ihm gleich, was es war, ob Holz oder silberne Löffel, nur darauf bedacht, alles und jedes, was ihn anöden wollte, aus dem mit Wut geschwängerten Bereich seiner blauen Stube zu beißen. Seine gescheiterten Pläne, die Erkenntnis, sein Lieblingsbäumchen ohne Erfolg geschüttelt zu haben, die Halsstarrigkeiten seiner einzigen Tochter, die erschütterte Stellung seinem Freund gegenüber und die Sucht, all die Irrungen und Wirrungen lediglich auf Nelleckes Schultern zu bürden, brachten den sonst so ruhigen Menschen um Haltung und Umsicht. Er kam sich vor wie ein treibendes Wrack in wilder Schlagsee. Er wollte keinen mehr hören und keinen mehr sehen. Die Welt war für ihn mit Aschensäcken verhangen, sein Leben verfehlt und keinen Schuß Pulver mehr wert, und wenn Nellecke mit scheuem Finger anpochte, um sich zu rechtfertigen und ihm Ewerts Verschulden nachsichtig an die Seele zu legen, stieß er mit seiner tiefausholenden Stimme wie ein Nebelhorn durch den schwelenden Tabaksqualm und brüllte: »Scher' dich in drei Teufels Namen zum Henker! Du hast dein Mädchentum zu geil werden lassen und dich auf den Falschen geworfen. Drum allons zu ihm hin, um dir bei deinem Magister Rat und Hoffnung zu holen. Ich kann dir nicht helfen . . .« und dann knurrte er ihr nach wie ein Hund, der in seine Hütte zurückkroch.

Da wurde sie weiß vor Angst und Qual und dachte daran, nach Obermörmter zu gehen, um sich in ihrer wilden Not Lambert in die Arme zu werfen. Aber wie sollte sie können? wie es wagen, den Zorn ihres Vaters noch mehr in die Höhe zu geißeln? Sie erinnerte sich des unseligen Drei Königen-Tages und all der Kränkungen und Schrecken, die sich für sie und Lambert mit diesem Tage verknüpften. Nein, sie durfte und konnte nicht hingehen. Das Unglück wäre noch entsetzlicher, noch größer geworden. Und Ewert erst . . . Ewert . . .! Der Name machte sie schwindeln, jagte ihr das Blut in die Schläfen, ließ sie an Gott und Menschen verzweifeln . . . und so klopfte sie denn bei Röschen Jungklaas an, um doch jemand zu haben, wo sie sich ausweinen konnte.

Am vierten Tage seiner freiwilligen Haft klärte es beim blauen Mynheer auf, obgleich der Himmel sich grau umzog und die ersten Schneesternchen fielen.

Ein Brief war mit der Morgenpost eingegangen, ein kurzes Schreiben von Ewert, worin er mitteilte, daß er im Laufe des Tages vorsprechen würde.

Der Alte fuhr auf.

»Schwerebrett und kein Ende! wie war das nur mit dem Hydrophilus piceus gewesen? Ich meine das in der ›Goldenen Kugel‹ . . . mit der Rede von Ewert? Ja, so! Ich werde mir Mühe geben, diesem Käfer nachzueifern, werde bestrebt sein, gleich diesem wasser- und flügeltüchtig zu werden, Faktoreien zu gründen, mich als Grossist zu bewähren und dem Namen van Dornick als großzügiger Kaufmann Respekt zu erzwingen. Sollte da etwa . . . sollte da bereits die erste Staffel dieses stolzen Programms . . .? Was will er denn sonst? Himmel Verdammich! man kann immer nicht wissen . . .« und unter der Nachhilfe eines steifen Grogs, bei dem er seiner halsstarrigen Tochter ein ›Pereat‹ brachte, feierte er seinen hoffnungsvollen Sprößling mit einem brausenden ›Hurra‹.

Fünf Stunden später, als es bereits schummerig wurde und die Schneeflocken schon emsiger herniederrieselten, schlich ein müder Schatten durch das weiße Schleiern.

Dieser Schatten war Ewert.

Er ging dem Altmännerhaus zu und trat in den Flur ein.

Nellecke, seine Schwester, war bei ihm.

* * *


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