Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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5

Da sehn Sie, mein lieber Herr Aktuarius,« sagte der Hausherr, indem er sich niederbückte, den entsprungenen Deckel aufhob und ihn wieder auf den fauchenden Kessel placierte, »die ganze Schose hier ist schon rebellisch geworden. Feuer, Wasser, Punsch und Zitronen – alles schreit nach Ihnen, mein Lieber.

Vier Elemente,
Innig gesellt,
Bilden das Leben,
Bauen die Welt.
Preßt der Zitrone
Saftigen Stern . . .

Dennoch und trotzdem« – und mit strahlendem Gesicht reichte er dem Gastfreund die Hand hin – »seien Sie uns herzlich willkommen . . . herzlich willkommen!«

»Ich muß vielmals um Entschuldigung bitten. Meine Wirbelsinnigkeit . . . mein fahriges Wesen . . . überhaupt so'n Junggesell ohne das erforderliche Steuer und die nötigen Richtlinien . . .«

»Man keine Redensarten, Herr Aktuarius,« erwiderte Moritz, indem er ihm Überzieher und Tröster abnahm und beides mit dem hohen Zylinder hinter den blauen Umhang spedierte, »hat gar nichts zu sagen. Wer lange navigiert, kommt auch in den Hafen. Hier sind wir jetzt gemütlich zusammen, Sie, Terstegen und ich – und dort brummt der Pott – und hier steht die Bowle – und in ein paar Stunden können wir lustig und fidel sein und rufen: Prosit Neujahr! Auf das, was wir lieben!«

»Ich danke, ich danke! Ich bin noch äußerst konfus, noch rein aus dem Häuschen. Ich weiß so recht nicht, wie ich hergekommen bin. Es ist noch alles so seltsam in mir, so verworren und komisch. Möglich – das kleine Gläschen Portwein, das ich mir heute nach dem Mittagessen zu Gemüte führte, hat schuld daran, gewisse Erregungen, Träume und Erinnerungen aus längstvergessenen Tagen wieder ins Klingen zu bringen. Ich schwebe beständig, habe keinen Grund unter den Füßen und schaukle noch immer in meinen Gedanken durch jene Zeiten hindurch, als ich in den Kinderschuhen steckte und mir Fräulein Beiderwand . . .«

Fröstelnd rieb er seine verklammten Hände zusammen.

»Gott, meine Herren! das waren traurige Zeiten und doch wieder Zeiten, die mich ansahen wie glückliche Märchen. Damals hielt meine Jugend ihre selige Weihnacht. Ich durchlebte sie nochmals, vor wenigen Augenblicken, in dieser Stunde – kein Wunder, daß ich verspätet hier eintreffe und jetzt erst Gelegenheit nehme, Ihnen, meine Herren, einen guten und schönen Abend zu bieten. Und daher: Ihnen einen gesegneten Abend, Herr Kapitän, und dito Ihnen, mein hochverehrter Herr Terstegen. Ich freue mich innig, wieder mit Ihnen, in froher Gemeinschaft . . .«

»Merci, merci!« sagte Johannes und reichte ihm die bleiche, fast sandgraue Hand hin. »Es ist das Licht süße und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen. Sie bringen uns die Sonne, Herr Aktuarius.«

»Aber ich bitte submissest . . .«

»Bringen Sie, bringen Sie!« fiel Moritz dazwischen und schob ihm den Arm unter die Linke. »Aber nun Schluß mit der Vornehmheit und den getragenen Worten, denn ich sage noch einmal: Dort brummt der Pott – hier steht die Bowle – und in ein paar Stunden können wir lustig und fidel sein und rufen: Prosit Neujahr! Auf das, was wir lieben!« und damit sah sich Aloys Furtwanger auf den für ihn bereit stehenden Sessel komplimentiert, während der Gastgeber den Kessel vom Feuer hob, ihn zutrug und den kochenden Strudel in die weitbauchige Suppenterrine hineingoß, dabei die Worte zitierend:

»Gießet des Wassers
Sprudelnden Schwall!
Wasser umfänget
Ruhig das All.
Tropfen des Geistes
Gießet hinein!
Leben dem Leben
Gibt er allein.«

Ein süßsäuerlicher Hauch entstieg dem geheimnisvollen Behälter – und das waren die Zitronen. Eine wonnige Lieblichkeit paarte sich dem Herben und Strengen – und das war der Zucker. Dann wallte der Geist auf, von Wasserdämpfen umgeben, von bläulichen Flämmchen umzüngelt, ein Geist so mannhaft und doch so einnehmend, als wäre ihm die Kraft gegeben, Störrische gefügig zu machen, Frohäugige gen Himmel zu tragen und den Schwermütigen den Kummer von der Stirne zu streicheln – und das war der Arrak . . . und hinter der mächtigen Amphora, die quirlte und apothekerte wie ein Rauchaltar des Herrn, stand der Kapitän Moritz van Dornick, großartig in seiner Spendierlaune, getragen von dem Bewußtsein, würdige Männer in seiner blauen Stube versammelt zu haben, ein Bild stillen und zuversichtlichen Genießens, mit einem silbernen Löffel die duftige Flüssigkeit so bedachtsam anrührend, als gölte es, auch den letzten Extrakt aus Zucker, Arrak und Zitrone in den heißen Tobel überzuleiten. Als er den Löffel beiseite gelegt und die Mischung für äußerst gediegen und einwandfrei erklärt hatte, begann es abermals in dem altfränkischen Uhrkasten zu näseln. Gleich darauf schlug die Schiffsglocke an.

Moritz zählte die einzelnen Schläge.

»Neun Uhr,« stellte er mit einer gewissen Rührseligkeit fest, eine Rührseligkeit, die möglicherweise auf schwere Gedanken und eine zu erwartende Rede hinwies, füllte die Gläser, präsentierte sie an, tinkte mit dem Rücken eines Messers gegen die Suppenterrine und sagte: »Hochzuverehrender Herr Aktuarius, mein lieber Johannes! So ein Abend wie der heutige ist nur einmal im Jahre, und ich habe ihn durchlebt zu Wasser und zu Lande, im gemütlichen Heim und in der Kajüte meines Lieblingsschiffes ›Maria, sei mit uns‹, in Firma Matthias Stinnes & Söhne, Duisburg-Ruhrort. Meine Herren, ich bin nicht der Mann, großartige Redensarten zu machen und mich selber in den Himmel zu loben, denn ich habe manchmal im Leben Steuerbord gehalten, wo es besser gewesen wäre, Backbord zu nehmen, aber das kann ich wohl sagen: Obgleich ich Kohle gebunkert, Fett- und Magerkohle, und solche im Auftrag meines Hauses nach Holland verschiffte – mein Segelzeug ist immer so honorig wie die Bäffgens eines evangelischen Pasters geblieben. Ja, und dasselbe, meine Herren« – dabei schlug er sich mit der geballten Faust auf sein schweres Düffeljakett, daß es einen dumpfen und verhaltenen Ton gab – »kann ich von das hier behaupten. Das muß vorher festgestellt worden sein, um Verständnis und gewissermaßen den roten Faden in meine Worte zu bringen, denn ohne solches ist alles, um mit meinem Freunde Johannes Terstegen zu sprechen, man bloß ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Herr Aktuarius, damit soll natürlich gar nicht gesagt sein: ich sei von jeher und Zeit meines Lebens ein Tugendbold und ein frischgereinigter Engel gewesen. Das weise ich von mir. Auch ich bin öfters auf den heiligen Berg der Dummheit geflüchtet, habe meine dämlichen Streiche gemacht, genau wie die andern, aber keine, die schlecht und voller Biesternis waren, denn der brave Kerl ist wie'n Proppen immer nach oben gekommen. Dieses wird mir mein treuer und angenehmer Stubennachbar bezeugen, weil wir uns von Jugend auf kennen und er von wegen seiner höheren Jahre alles für voll nehmen konnte.«

»Moritz,« versetzte der Alte, und seine durchscheinenden Lider sanken wie Strohdächer über die verwaschenen Augen, »das unterfertige ich mit meinem Namen Johannes Terstegen.«

Moritz sprach weiter.

»Herr Aktuarius, nachdem dieses festgestellt ist, nehme ich erst den richtigen Kurs auf und hoffe mit Gottes Hilfe und Beistand und bei sichtigem Wetter mein Ziel zu erreichen. Um die Geschichte kurz zu machen – die Sache ist diese. Als auf der Talfahrt das Unglück passierte und ich so recht nicht mehr konnte, da mußte ich mir die Frage vorlegen: Himmel, was wird nun? Haus oder Schiff? Land oder Wasser? Entweder so oder so. Es ging nicht mehr anders. Ich ließ die Planken- und Wasserratte schwimmen und habe mich nach schweren Molesten in 'ne Haus- und Mauerratte verwandelt und wohne seit der trübseligen Stunde in diesen vier Wänden, in ein und der nämlichen Stube, wo wir in diesem Momang uns befinden, obgleich ich mir sagte: Moritz, du hast dir 'ne andere Ankerstelle gewunschen, 'ne Ankerstelle mit 'nem veritablen Goldgrund . . . aber Gott hat's so wollen.«

»Und sein Name sei gepriesen in alle Ewigkeit,« echote Johannes Terstegen.

»Ja, er sei gepriesen, mein lieber Johannes, und nun hausiere ich Ihnen schräg gegenüber, mein hochverehrter Herr Aktuarius – und Gottes Sonne scheint in dieselbe Straße hinein – und dieselben Bäumchens begrüßen uns immer, im Winter und Sommer, im Frühling, wenn sie ihre grünen Spitzen ansetzen, im Herbst, wenn sie ihre Blätter verlieren – und wir beide haben Freundschaft geschlossen, sind gute Bekannte geworden. Ja, und Sie haben uns hinausgeführt, mich und Johannes Terstegen, und haben uns gelehrt, wie die Rohrdrossel ihr Nest baut, was die Regenwürmer betreiben und wie die Schnecken sich wechselseitig ihre Liebe bezeigen. Und ferner zu melden: an langen Winterabenden sind Sie zu uns gekommen und haben uns aus dem pläsierlichen Buche vorgelesen, das sich die ›Flohhatz‹ betitelt, haben uns bekannt gemacht mit dem, was in den Dielenritzen herumvagabundiert und die zusammengetragenen Fichtennadelhaufen bevölkert. Aber das war auch alles; näher sind wir uns im eigentlichen Sinn des Wortes niemals getreten. Freundschaft, Estimierung war da; wir Ihnen gegenüber und Sie uns gegenüber, aber das Herzhafte und Kernige fehlte, und da sollte ich meinen . . . Goddam! da sollte ich meinen . . . Herr Aktuarius« – und Moritz gab sich einen kräftigen Anstoß – »Herr Aktuarius, da sollten wir uns mehr kommoder und intimer benehmen. Ich meine . . . Johannes, ich glaube auch in deinem Sinne zu sprechen . . . ich denke, wo jetzt das frische Jahr vor der Tür steht, das alte abdampft, um dem neuen freie Kielbahn zu geben, wo bald alle Glocken rufen und singen: Hier bin ich, hier bin ich! – da müßte unser gegenseitiges Verhältnis einen Umschwung bekommen. Gewiß, Sie sind ein Jüngling uns gegenüber, haben studiert und zählen zu den Gelehrten im Kreise. Aber trotzdem und dennoch, wie wär' es, Herr Aktuarius, wenn wir uns heute in dieser glorreichen und erhabenen Stunde, wenn wir uns da mit du und du titulierten? Blexem und Donnder! wie's reilt und seilt. Das wär' doch 'ne Sache und 'ne Herzensfreude für mich und Johannes.«

»Bravo, bravissimo!« lächelte Terstegen und versuchte es, seinen gespensterhaften Händen ein zustimmendes Klatschen zu entlocken.

»Herr Kapitän . . .

Gleich dem braunen Kavalier aus der Villa ›Springinsröckel‹, ebenso hurtig war Aloys Furtwanger von seinem Stuhl in die Höhe gefahren, jetzt wenigstens um zehn Jahre jünger und nicht mehr das verängstigte und verdrückte Männchen von früher. Seinem Auge wohnte ein Leuchten inne, das die Seelen erfreute. Alles Putzige, Steife, worüber sonst viele Menschen zu schmunzeln beliebten, war von ihm genommen. Die Hasenpfötchen saßen akkurat auf den glattrasierten Wangen, seine Haltung imponierte, jedes und alles an ihm schien gestriegelt zu sein, als wäre es eben erst aus der Plätterei von Röschen Jungklaas bezogen. Die Linke in der Hosentasche, die Rechte mit dem schwerkarätigen Siegelring auf die Tafel gestemmt, machte er den Eindruck eines Mannes, dessen Herz überwallte und der darauf ausging, den Anwesenden etwas Liebes und Gutes zu sagen.

»Herr Kapitän!« also begann er mit erhobener und zuversichtlicher Stimme. »Hier in diesem Raum zu verkehren, ist mir von jeher eine traute, insichgekehrte und trotzdem eine große und seligmachende Freude gewesen. Die glücklichsten Abschnitte meines sonst vereinsamten und nicht gerade erhebenden Daseins gefielen sich offenbar darin, sich hier zu erneuern. Erinnerungen und Spiegelbilder! Schöner und wehmütiger, anheimelnder und trauter sind sie mir niemals erschienen. Herr Kapitän, bevor ich nun auf Ihre gütigen Worte zurückkomme, möchte ich bei diesen Erinnerungen und Spiegelbildern etwas verweilen. Warum ich das möchte? Ich habe keine Gründe dafür. Werde auch schwerlich welche finden, denn der Gedanke flog mir zu wie die Täubin dem Tauber, wenn mir auch schon lange der Zwang inne wohnte, Ihnen, meine Herren, gegenüber Zeugnis abzulegen und den Schild zu halten für die, die mir das Leben gegeben.«

»Auf daß sie ruhen möge in Frieden,« responsierte Johannes.

»Ich quittiere ergebenst,« sagte Aloys Furtwanger, hob die Hand und drückte sie wieder sanft auf die Tischplatte, »denn viele wähnen, ich hätte in dieser Beziehung etwas zu verschleiern, etwas auf den Kirchhof zu fahren; aber ich sage Ihnen: Ich für meine Person habe nichts zu verbergen und nichts zu verhehlen. Eine Jugendfehle war da, allein diese Fehle ist menschlich gewesen, das traurige Geschick, das seine Flore über das geliebte Wesen spreitete, hat alle Schuld von der Toten genommen. Ich habe meine Mutter niemals gekannt, und ich kenne sie doch, als wenn sie noch unter den Lebenden weilte. Fräulein Beiderwand, die Gott segnen möge im Grabe, war Mittlerin und Fürsprecherin. Ihr hab' ich's zu danken, daß ich meine Mutter niemals verlor, damals nicht, als ich kaum zu lallen vermochte; auch jetzt nicht, wo die Zeit hinter mir steht und mir ins Ohr raunt: Du bist einundvierzig Jahre geworden. Durch liebevolles Erzählen, durch einen unscheinbaren Schattenriß und ein winziges Kästchen, das sich im Nachlaß der Verstorbenen vorfand, brachte sie mir die Heimgegangene immer näher und näher, bis sie für mich eine Heilige wurde. Vornehmlich das winzige Kästchen! Als ich noch jung war, wähnte ich in ihm die kostbare Truhe einer schönen Königin zu sehen, dann später . . . doch alles muß ich Ihnen in einer anderen Weise erzählen, viel schlichter und zarter . . .«

Dann rief er mit Tränen in der Stimme: »Die Puppenspieler-Marie!« und begann hierauf zu sprechen:

»Ach, meine herzliebe Mutter
Besaß einen kostbaren Schrein;
Drin ruhten auf seidenem Futter
Viel Perlen und Edelgestein.

Ich wähnte Kronen zu schauen,
Zu Hunderten hingemäht,
Und goldene Triften und Auen,
Mit Diamanten besät.

Bei seinem Anblick erstrahlte
Mir alles und jedes im Haus,
Und meine Seele malte
Die Mutter als Königin aus.

Doch als ich wieder nach Jahren
Die kostbare Truhe besah.
Ihr Lieben, ich habe erfahren,
Was mir noch niemals geschah.

Denn siehe, sie war nur ein Kästchen,
Ein unscheinbares Ding,
An dem noch ein ärmliches Restchen
Von Silberplattierung hing.

Und was ich einst tat schauen,
Was ich als Kronen gerühmt.
Die goldenen Triften und Auen,
Mit Diamanten geblümt,

Und all die köstlichen Dinge,
Die mich als Kind entzückt –
Es waren zwei schlichte Ringe,
Ein Kettlein mit Perlen geschmückt.

Da nahm ich mit lächelndem Munde
Das winzige Kästchen hin . . .
Die Mutter aber zur Stunde
Blieb doch eine Königin.«

Aloys Furtwanger hielt für einen kurzen Augenblick inne. Mit feuchten Augen sah er den feinen Duftwölkchen nach, die sich um den Lampenschirm drehten und zur Decke stiegen.

Da unterbrach Terstegen das feierliche Schweigen und sagte: »Selig sind die, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«

»Werden sie,« konstatierte Moritz und fügte in ernster Weise hinzu: »Ein stilles Glas Ihrer Mutter – der Königin!«

Und alle erhoben sich und stießen an und tranken und setzten sich wieder.

Nur der Herr Aktuarius blieb stehen.

»Meine Herren,« begann er aufs neue, »das mußte mir vom Herzen herunter, denn ich fühle es schon geraume Zeit hindurch: hier bei Ihnen war der liebe Geist in guter Gesellschaft, konnte denen die Hände geben, die kein Pharisäertum unter der Weste trugen, konnte sich mit denen ergehen, die das Menschliche im Menschen nicht in die Wüste verscheuchen. Für Sie ist die Verblichene stets eine ehrliche Frau und Mutter gewesen, wenn ihr auch der Segen der Kirche gefehlt hat. Niemals ist ein Wort darüber gefallen, aber ich hab's in Ihren Blicken gelesen – und das danke ich Ihnen. Und nun kommen Sie noch . . . nun sind Sie, mein hochverehrter Kapitän, noch so human und freundlich . . . nun, wo die Silvesterglocken bald rufen und das neue Jahr bereits den Klopfer hebt, um über den Hausflur zu treten . . . jetzt, in dieser geweihten Stunde, in diesem Augenblick der glücklichen Erinnerungen und Spiegelbilder, da kommen Sie noch, bodenständig und kameradschaftlich, und bieten mir das Wechselseitige ›du‹ an. Ja, meine Herren, wenn Sie denn wollen, wenn Sie den vergrämelten, eigenbrödelnden und einsamen Menschen für würdig erachten . . .«

Und da stand nun der emeritierte Herr Aktuarius Aloys Furtwanger, seinen Heiland vor Augen und seine große und heilige Liebe im Herzen, seine stille und versonnene Liebe, die dort in effigie und im Bann der Suppenterrine . . . ja, da stand nun der Mann, den sie in der kleinen niederrheinischen Stadt verehrten und priesen und ihm dennoch, seiner kuriosen Launen wegen, den Namen ›Springinsröckel‹ beigelegt hatten, hielt die Arme gebreitet und sah bald auf den blauen, bald auf den weißen Mynheer und sagte verlegen, aber glücklich und vor tiefer Erregung ganz auseinander: »Ja, meine Herren, wenn Sie denn wollen . . .«

»Her zu mir, Aloys!« und zwei kräftige Fäuste rissen das zierliche Männchen an ein derbes Tuchkamisol, wobei eine verrostete Kommandostimme ertönte: »Ich, Moritz van Dornick, pensionierter Kaptän von dem Kohlenschiff ›Maria, sei mit uns‹, in Firma Matthias Stinnes & Söhne, domiziliert in hiesigem Kirchspiel, schwöre dir ewige und unverbrüchliche Freundschaft, wie's reilt und seilt und mit allen Finessen.«

»Ich desgleichen!« und Johannes Terstegen legte ihm seine steifen Gelenke um Hals und Nacken und sagte: »Befiehl dem Herrn deine Werke, so werden deine Anschläge fortgehen und sich weiter verzweigen. Aloys, in diesem Sinne für immer und ewig!«

»Und des zum Zeichen,« rief Moritz, »wollen wir den Inhalt unserer Gläser verzehren und aufs neue sie füllen! Aloys, auf das, was wir lieben!«

Und da stießen sie an und tranken und setzten sich wieder, und sie merkten es nicht, wie beim Austausch ihrer Gedanken, ihrer kleinen Leiden und Freuden, ihrer Alltäglichkeiten und Festlichkeiten die Zeit vorrückte und mit ihren Fußspitzen bereits die Schwelle des neuen Jahres berührte . . . und als die Standuhr wieder zu rumoren begann, elf Schläge durch die wohlige Stube zitterten, traf der Kapitän seine Vorbereitungen, den Hauptteil des Abends so gediegen wie nur möglich herzurichten. Ein frisches Arrakfläschchen wurde entstöpselt, ein paar Zitronen bereitgestellt, das von den Broten und Schweinsknöchelchen befreite Tellerkonsortium beiseite gebracht und der mit frischem Wasser gefüllte Kessel wieder auf das prasselnde Feuer geschoben. Wie das knackte und plauderte, knisterte und mit lauten Züngelchen spielte! So heimelig und anregend wie heute war es in dem Zimmer des blauen Mynheers noch niemals gewesen, und dazu gab der Herr Aktuarius alles zum besten, was er im verflossenen Sommer und Herbst auf seinen stillen Erkundungsfahrten durch Wald und Flur, an den Altwassern des Rheins und den Ravelinen des Binnenlandes endeckt und in sich aufgenommen hatte. Er erzählte von dem geheimnisvollen Werden des Mariengarns, den geschäftigen Weberinnen dieser merkwürdigen Fäden. »Ja, meine Herren,« fuhr er aufatmend fort, »obgleich der Prophet Jesaias verkündet: Ihr Spinnweb taugt nicht zu Kleidern, so ist diese Behauptung des alttestamentlichen Sehers der heutigen Wissenschaft und meinen Beobachtungen gegenüber nicht mehr zu halten; denn es steht einwandfrei fest: ihr Einschuß überragt an Festigkeit den der Seidenraupe um ein Vielfaches, wenn auch neunzig Spinnfäden erforderlich sind, um die Stärke eines solchen des Maulbeerblattfressers zu erreichen, und achtzehntausend, um die eines starken Zwirns in den Schatten zu stellen. Aber die Möglichkeit ist doch immer gegeben, aus dem Produkt ihrer mühseligen Arbeit ein Kleid zu verfertigen. Und ihr Schnäbeln erst, ihr Minnen und Werben! Höchst wunderbar und in seinen Tiefen und erschütternden Begebenheiten noch nicht genügend erforscht, um eine befriedigende Lösung zu bieten; denn es muß leider gesagt werden, daß der männliche Teil hierbei zu kurz kommt und sich in den meisten Fällen in die Lage versetzt sieht, von der Liebes- und Lebensbrücke zu stolpern, ein Schicksal, das der erregte und die Eleusinischen Mysterien suchende Spinnerich mit manchem Jüngling gemein hat, wenn es erlaubt ist, ein solches Beispiel in Erwägung zu ziehen.«

»O, o, o!« unterbrach ihn Terstegen, und die weitaufgerissenen Augen des Alten hingen mit einer gewissen Bekümmernis und Trauer an den Lippen des stillen und dozierenden Mannes. Dabei flochten sich seine bleichen Finger erregt ineinander, tippten die Spitzen zusammen, verkrampften sich innig, um sich unter einem wehen Seufzer wieder zu lösen.

»Johannes, was hast du?« fragte der Kapitän und klatschte ihm begütigend die Hand auf die Knie.

»Moritz, ich kann mir nicht helfen . . . Das von so eben . . . das, was unser gemeinsamer Freund von den Spinnen gesagt hat . . . ihr Liebesleben und so . . . und daß ähnliche Dinge sich auch bei denkenden Wesen abspielen können . . . Moritz, das sorgt mich und schafft böse Gedanken.«

»Johannes, es ist doch vollständig wurschtig, was diese Tiere betreiben, und wenn solche Männchen, wie Aloys behauptet, manches Mal von der Liebesbrücke purzeln, oder, mit anderen Worten gesagt, sich im Magen der Herzallerliebsten wiederfinden, so ist das doch höchstens aus der animalischen Naturgeschichte genommen und vergnüglich zu hören.«

»Aber das mit den Menschen!«

»Wieso mit den Menschen?«

»Daß solche Exempel auch in unserm Leben vorkommen können. Christus!« – und seine Stimme flackerte auf wie eine Kerzenflamme, die schon auslöschen wollte – »das ist ein Gleichnis wie aus der Bibel bezogen, das dient mir als Warnung und macht mir die Stunden, die ich bei dir genüglich zu verplaudern gedachte, zu peinlichen Stunden; denn jetzt muß ich immerzu an Lambert und Nellecke denken und darüber nachsimulieren: was soll aus den beiden nur werden? Er ist mein Einziger, hat was gelernt und ist bei einiger Sparsamkeit gewißlich imstande . . .«

»Himmel, Herrgott und Tauende!« rief Moritz, »kommst du mir wieder mit dieser verfluchten Pistole?!«

»Was – verfluchte Pistole?! Mensch! die heiligen Sprüche besagen: Eine gelinde Antwort stillet den Zorn, aber ein hartes Wort regt den Grimm an. Können wir die Sache denn nicht in Ruhe bereden?«

»Können wir, können wir, aber warum diese jüdische Eile?«

»Moritz, meine Sache ist dringlich.«

»Pressiert's so? Ich habe immer den Standpunkt vertreten: schnelle Segler sind nicht immer die besten.«

»Das mag bei Schiffern der Brauch sein, wenn sie solches bedenken. Wir Leinweber indessen . . .«

»Stopp, du alter Krakeeler! Wir trinken jetzt Punsch, wollen fidel sein und den Silvesterabend in kommoder Weise beschließen. Schwere Überlegungen und Gedanken kann ich jetzt nicht gebrauchen.«

»Aber ich,« versetzte Terstegen, und sein hagerer Hals wurde lang in der schwarzen Binde. »Ich muß Klarheit besitzen und flinkes Garn in das Schiffchen hineintun, denn der Prediger verkündet: Wer auf den Wind achtet, der säet nicht, und wer auf die Wolken siehet, der erntet nicht. Ich will säen und ernten. Alles, was dir von Händen kommt zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hineinführest, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch Weisheit . . . und im vorliegenden Falle: mein Lambert . . .«

»Der sitzt nun beim hochwürdigen Herrn in Obermörmter,« fiel Moritz dazwischen, »trinkt seinen Punsch und ist vergnügt wie 'ne Made im Holländer Käse. Wollen's ihm gleich tun. Fort mit den Grillen und Sorgen! Johannes, in die Kanne gestiegen! Aloys, auf 'ne angenehme und prächtige Zukunft! Ein liebliches Pröstchen für uns all' miteinander!«

Die Gläser stießen zusammen.

»O, o, o!« seufzte Terstegen und lehnte sich in den Sessel zurück. Er gab das Rennen auf, denn er fühlte zu seinem größten Leidwesen: mit Moritz war nichts mehr aufzustellen. Der hatte Augenblicke, wo er, wie einst bei hartem und gefährlichem Wetter, den Südwester in den Nacken drückte, den Ölmantel überzog und dann zugeknöpft war von oben bis unten. Nein, heute war nichts mehr zu machen. Er mußte sich fügen, obgleich er vor Jahresschluß noch zu gerne eine bindende Entscheidung herbeigeführt hätte. Immer mehr kroch er in sich zusammen. Das helle Licht unter dem blauen Lampenschirm schien trüber zu brennen. Es wurde ihm schwer, Einzelheiten des Zimmers wahrzunehmen – ein Zustand, der sich mit jeder verrinnenden Minute verstärkte. Er hatte die Empfindung, als wenn er verwaist sei, als sähe er sich von allen Eidgenossen verraten. Auch merkte er nicht, daß das Wasser wieder zu sirren begann, der Kapitän sich erhob, die Zitronen zerteilte und frische Essenz in die Suppenterrine hineintat. Seine Seele hatte das blaue Zimmer verlassen und war nach Obermörmter gepilgert.

»Da sitzt nun mein Lambert bei Hochwürden,« sagte er mit trauriger Geste, »feiert den heutigen Abend und ist dennoch verödet, ganz allein und verödet, denn der geistliche Herr kann ihm das Beste nicht geben . . . und da möchte ich mit dem Prediger sprechen: Da lobe ich die Toten, die schon gestorben sind, mehr denn die Lebendigen, die das Leben noch haben . . . Mein Lambert, so ganz allein und verödet . . .«

»Warum dieses Grübeln?«

Aloys hatte seinen Stuhl dicht an die Seite des Alten geschoben.

»Ich weiß nicht, was hier vorgeht,« meinte er schüchtern, »und kann es nicht wissen. Aber das mit Lambert . . . warum dieses Klagen? Daß er am heutigen Tage das väterliche Dach vermissen wird, kann ich begreifen, möchte jedoch hinzufügen: Auch bei geistlichen Herren ist Wohlsein. Sie verstehen zu leben, und ihre Neujahrsbowlen, so habe ich mir erzählen lassen, gehören zu denen, die nicht nach Weihwasser schmecken.«

»Wahrhaftig in Gott nicht,« pflichtete Moritz ihm bei, der sich gerade anschickte, den Inhalt des heißen Kessels über den Arrak zu gießen.

»Ja, und was soll ich da erst sagen,« tröstete Aloys weiter. »Den größten Teil meines Daseins bin ich wie auf einem Eiland gewesen. Niemand sorgte für mich, niemand bangte um mich. Ich war fremd unter Fremden. Keine freundliche Hand brachte mir den heiligen Christ in meine vier Pfähle. Nur Schatten waren bei mir, und Schatten können nur Trostloses reden. Und wenn die liebe Sonne zu mir kam, so blieb sie nicht lange, hatte es eilig, denn die Schatten waren mächtiger als sie und geboten ihr, mein Haus zu verlassen. So vergingen die Wochen, die Monde, die Jahre. Sie folgten sich wie die Seiten in einem Sterberegister. Kreuzlein bei Kreuzlein! Ein ewiges Einerlei, eine sandige Öde lag um mich. Sie verschluckte alles, was mich aufheitern wollte. Ich komme mir vor wie ein Durstiger an einer vertrockneten Quelle . . . und nur meine Kerfen und verkieselten Mirakel . . . Sie sind meine Freunde, meine lieben Genossen, und ich bin öfters der Ansicht gewesen: mit ihnen ist besser fahren als mit den Menschen auf Erden. Selbstverständlich mit Ausnahmen. Ich habe solche gekannt und kenne noch welche, die boten und bieten mir das Brot der Auferstehung. Ich brauche nur die Hände in diesem Raume zu strecken, und ich empfange doppelt und dreifach. Auch bei Röschen Jungklaas finde ich Stunden, die mich wie Sonntagskinder begrüßen. Im allgemeinen jedoch bin ich leer und zersplittert. Ich sehne mich nach einem verborgenen, seligen und häuslichen Glück – und kann es nicht haben. Ich dachte mir häufig: wenn doch eine käme, die zu mir sagte: Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wo du stirbst, da will auch ich mein Haupt in die Kissen drücken. Aber zu mir ist niemand gekommen – niemand, keine menschliche Seele. Ich scheine verurteilt zu sein, meine Tage hinzunehmen, wie sie nun einmal liegen, obgleich ich nicht die Worte des heiligen Paulus vertrete. Ein Büßer, der vor dem Himmelreich steht, seine Herrlichkeit betrachtet, aber keinen Einlaß erwirkt, befindet sich in der nämlichen Lage. Ich sehe die Liebe, das ewige Sonnenlicht und alle die Wunder, die der Herr zu seinem Ruhm geschaffen und ausgetan hat. Allein, ich kann sie nur schauen; nicht greifen, nicht fassen, denn alles und jedes findet sich im Weibe vereinigt. Eine Säule aufgewirbelten Staubes schreitet gegen mich vor. Ich fühle einzelne Körner, die sich in meinen Haaren, in meinen Kleidern verfangen. Die sandige Wolke wird stärker. Sie wandelt immer näher und näher. Ihr Aussehn ist drohend, und wie lange noch, dann wird sie mich wie eine Trombe verschütten. Ja, meine Herren, wenn einer es sagen kann, so bin ich der nächste dazu: um mich ist es still und einsam geworden.«

Seine Worte verzitterten.

Der Kapitän fuhr auf.

»Gott's den Donner noch mal . . .

Den Suppenlöffel, mit dem er die leeren Gläser angefüllt hatte, stieß er in die Bowle zurück.

»Aktuarius,« rief er mit flammenden Blicken, »es gibt noch Weiber auf Erden!«

Aloys Furtwanger machte eine entsagende und schmerzliche Bewegung, indem seine Blicke Nelleckes Bildnis streiften: »Kein Zweifel, aber die lieben Gottesdingerchen sind für mich nicht geschaffen.«

»Da schlage doch ein heiliges Himmelgewitter . . .

»Nein,« versetzte der Insichgekehrte mit aller Bestimmtheit, »mich wollte ja keine . . . auch jetzt nicht . . . ich glaube, es findet sich niemand.«

Der Kapitän wetterte los: »Aloys, Aktuarius, das wäre noch schöner! Da sollte man sich ja Hals über Kopp in ein Faß mit Lebertran stürzen. Ein Gemütsmensch wie du bist . . . dieses Können . . . diese umfassende Bildung . . . außerdem: diese gesicherte Stellung, und noch immer alert und fröhlich bei Jahren . . . und da willst du den Joseph aus Ägypten markieren?! Mensch, du – mit Marks in den Knochen! Es ist ja zum Lachen, es ist ja, um die leibhaftige Kränke zu kriegen. Herzensbruder, du navigierst noch durch 'ne haushohe Dünung. Los denn dafür! Klar Schiff zum Gefecht! Aloys, in die Kanne gestiegen und auf das, was wir lieben!«

Er hielt ihm sein Glas hin.

Da aber . . .

In mächtigen Tönen kam es von Sankt Nikolai herunter. Preziosa, die Grieth und Maria-Sabina schaukelten sich in ihren ehernen Röcken, sangen und jauchzten und machten die Scheiben erklirren. Mit eisernen Schwingen kamen die Heroldsrufe aus der sternenklaren Höhe herunter, marschierten über die Dächer, rüttelten die Menschenherzen empor, nahmen Sturmschritt über Land, glichen riesigen, unsichtbaren Wundervögeln, die in die Ewigkeit glitten.

»Dum, Ding, Dong! – Dum, Ding, Dong!«

Wie das hallte und jubelte!

Glocken, Feiertagsglocken, Neujahrsglocken!

Immer voller und mächtiger: »Dum, Ding, Dong! – Dum, Ding, Dong!« Immer freier und schöner – und dazwischen fielen zwölf einzelne Schlage, zwölf einzelne gewaltige Schläge . . . und als sie verklangen, tat sich die Tür auf, und ein schmuckes, volles, liebliches Menschenkind, dem noch die kalten Winterrosen frisch und frei auf den Wangen blühten, streckte das Köpfchen vor.

»Prosit Neujahr, meine Lieben! Prosit Neujahr!«

Alle waren in die Höhe gefahren, aber auch alle.

* * *


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