Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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358 XXIV Stimmt's, Pittje? – Es stimmt.

Meine Geschichte hat ausgeklungen. – – – – –

Ich kannte sie alle, die in ihr eine Rolle gespielt haben: Grades Mesdag, Hannecke Mesdag, Jakob Verhage, den jungen Heerohme, Pittje Pittjewitt und die übrigen Gestalten aus verklungener Jugendzeit. Ich bin ein Zeuge der meisten Begebenheiten gewesen, und wie mit leisen Harfenklängen zittert es durch meine Seele: Es war einmal. –

Teils mit fröhlichem Herzen, teils mit dem Gefühl einer schmerzlichen Wehmut habe ich diese Blätter niedergeschrieben – und als ich die Feder beiseite legte, da knisterte es in den gelben Blättern der Bäume. Sie rollten sich auf, die Stiele lösten sich, und in kreisender Bewegung wurde das vergilbte Laub zur Erde getragen. Der erste klingende Frost war mit hellem Sonnenschein über die Landschaft gegangen. Etliche Tage später streckten die Baumkronen schon ihre kahlen Zweige gegen den Himmel; nur Buchen und Eichen hielten noch in trotziger Eigenart ihren braunroten und zähen Herbstschmuck fest, und auf den entlaubten Rosenbüschen am Waldrain 359 funkelten und protzten die knallroten Hagebutten wie wohlgemästete und selbstbewußte Domschweizer mit schwarzen Baretten. Mit lautem Geschrei streifte die Elster durch Hecken und Häge, der Häher warnte vor dem Jäger, und durch die Baumkronen zogen die Nebel – und als ich eines Tages am Fenster stand und über die sanften Höhenzüge des Taunus hinwegsah, löste es sich flockenweiß und silberlicht vom blaugrauen Himmel. Langsam, feierlich, ruhig und sich aneinander reihend schwebten die ersten Schneekristalle zur Erde. Eine weiche Decke von Eiderdaunen legte sich weithin – und die Menschen trabten lautlos an meinem Fenster vorüber.

Lange sah ich hinaus in die winterliche Landschaft. dann trat ich vom Fenster zurück, zündete mir eine Zigarre an und ging rauchend im Zimmer auf und nieder. Die Buchenscheite spritzten und knackten im Kamin, der bei der stetig wachsenden Dunkelheit einen immer heller werdenden Lichtschein ins Zimmer hineinwarf. Über Tapeten und Teppich huschten zeitweilig die Reflexe der spritzenden Funken.

Eine nicht niederzuhaltende Sehnsucht nach dem Schauplatz meiner soeben vollendeten Erzählung ergriff mich. Fein säuberlich geheftet lag das Manuskript auf dem Schreibtisch. Tote Buchstaben und tote Blätter! – aber sie bargen meine Jugenderinnerungen, und wie ich schon zum Beginn dieser Erzählung der Jerichorose gedachte, so stand sie mir auch heute lebhaft vor Augen. Das Manuskript hatte große Verwandtschaft 360 mit dieser geheimnisvollen Blume. Vergilbte Erinnerungen, längstvergessene Tage waren lebendig geworden und längstverzitterte Töne klangen hier von neuem; sie lockten und warben und geleiteten mich in das Land meiner Jugend.

Ich hatte mich beim Schreibtisch niedergelassen. Tiefe Schatten lagen in den Ecken des Zimmers. Es dunkelte stark, und nur die Seiten der aufgeschlagenen Handschrift strahlten noch einige Helligkeit aus. Da war es mir, als ob sich in ihnen etwas bewegte. Filzige Blätter und vertrocknete Blüten krochen an spiralförmigen Stielen über das glatte Papier, bis sie wie mit einer netzartigen Masse das Ganze umsponnen hatten. Jetzt waren weder Blätter noch Blüten erkennbar. Ich beugte mich vorwärts. Eine Träne rollte über meine Wange und fiel in das scheinbar abgestorbene und regungslose Flechtwerk hinein, und siehe: was tot war, wurde lebendig. Saftgrün entfaltete es sich aus der verworrenen Masse, junge Triebe reckten sich auf, stumpfe Farben erstrahlten in leuchtenden Tönen, und eine geschlossene Knospe schwebte langsam aus dem Gewirr der frischen Keime und Ranken. Und wie sie emporstieg, legte sie sanft die Blätter des veilchenblauen Kelches zur Seite.

Die Jerichorose war aufgesprungen.

Ein Duft nach Flieder und Jasmin – und nach Reseden umgab meine Sinne. Im Duft werden alte Zeiten neugeboren; ich lebte und webte in meinen Erinnerungen. –

361 Es wurde Licht gebracht, und da entschwand auch das Wunder der Jerichorose – aber die Sehnsucht, die Stätte meiner Jugenderlebnisse noch einmal wiederzusehen, war mir geblieben. Außerdem war ich doch dem hochbetagten Pittje Pittjewitt in etwa verpflichtet. Ich setzte eine Depesche auf. Etliche Stunden später kam die Antwort zurück: »Herzlichen Dank! – Alles wohlauf! – Willkommen! – Pittje Pittjewitt.«

Anderen Tages fuhr ich mit meinem Manuskript in der Tasche in den blitzenden Wintermorgen hinein. Prächtige alte Rheinweinnester lagen im Frühschein. Winkel, Rüdesheim, Aßmannshausen flogen vorüber. In Kaub läuteten die Sonntagsglocken, und die Pfalz spiegelte sich mit ihren Schneehauben im Rhein. Der Lurleifelsen wurde durchrasselt. Immer neue Bilder taten sich auf. Braubach, Ehrenbreitstein, Honnef grüßten flüchtig und blieben hinter mir; die Kuppen des Siebengebirges spannten sich aus, um bald zu verschwinden, und über eine kurze Weile donnerte und fauchte der Zug in den Kölner Bahnhof. Zwei Stunden Aufenthalt, ein schriller Pfiff – und weiter ging's den Rheinstrom zu Tal. Nach dreistündiger Fahrt war die Endstation erreicht. Ich vertraute mich hier dem Postwagen an, der mich in die engere Heimat tragen sollte. Bäume, Häuser und Wiesen – alles gute und liebe Bekannte! – und mit herzinniger Freude vernahm ich die ersten Laute niederrheinischen Idioms.– Endlich daheim – und bei Pittje Pittjewitt! –

Na, diese Freude und Seligkeit! – Wieder brannten 362 die beiden Metalleuchter auf der weißgescheuerten Lindenplatte des runden Tisches, und wie im verflossenen Juni, so wurden auch heute die langen Tonpfeifen mit dem feinsten Holländer Krülltabak ›Admiral de Ruiter‹ gestopft und lustig in Brand gesetzt. Bläuliche Wölkchen kräuselten wie damals zur Decke, und im Kanonenofen knackte und polterte es, daß es einem ordentlich winterwohlig über den Rücken hinablief. Pittje saß vor mir mit seinem gutmütigen Ausdruck, mit seinen treuen Augen, seinem charakteristischen Kringel- und Ringelblasen und seinem haarscharfen Spucken – der echte und veritabele Pittje. – Alles wie früher! –

In den dampfenden Tee wurde ein Gläschen Schiedam gegossen – dann legte ich meine Handschrift auf den Tisch.

»Pittje – hier liegt's verbrieft und geschrieben.«

»Die ganze Geschichte?«

»Ja – die ganze Geschichte, und weil Du sozusagen Mitarbeiterschaft beanspruchen kannst, ist es nicht mehr wie recht und billig, daß Du sie auch als Erster vernimmst.«

»Danke, Jupp – und meinetwegen kann's losgehen.«

Und es ging los.

Pittje lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Bald lachte er, bald stierte er mit weit aufgerissenen Augen ins Kerzenlicht, bald zuckte ein wehmütiges Lächeln um die faltigen Mundwinkel, bis er schließlich unter Tränen seinen ›Admiral de Ruiter‹ verpaffte. Das verhutzelte Männchen war ganz Ohr und Aufmerksamkeit.

Es schlug zehn vom Rathausturm – ich las weiter. 363 Zwölf Uhr – es wurde weiter gelesen. Der Nachtwächter verkündete die zweite Morgenstunde, neue Kerzen wurden aufgesteckt und frische Kloben auf das tiefgebrannte Feuer geworfen – noch immer hörte Pittje Pittjewitt zu und folgte mit lebhaften Gesten, Kopfnicken, mit verhaltenem Weinen und wehmütigem Lächeln den Begebenheiten der langen Erzählung.

Er brannte die fünfte Tonpfeife an. Kurz darauf tat ich einen tiefen Atemzug und klappte die Blätter der Handschrift zusammen.

»Na, Pittje Pittjewitt,« fragte ich aufstehend, »stimmt die Geschichte?«

»Sie stimmt,« sagte Pittje und reichte mir die verschrumpfte Hand hin.

Wir blieben noch zusammen, bis die lieben Sterne am Himmel verblaßten – dann schieden wir.

»Also bis heute Abend bei Dores Küppers zu 'ner Bouteille Rotspon,« invitierte ich Pittje.

»Gerne.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Noch eins, Jupp,« sagte Pittjewitt. »Wie betitelt sich die ganze Geschichte?«

»Kärrekiek.«

»Haha!« machte Pittje. »Ich verstehe – gut so. – Kärrekiek.«


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