Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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60 V Im Altmännerhaus

Die ganze Nacht hatte ich nicht schlafen können. Immer trat mir Hannecke Mesdag vor Augen. Erst gegen Morgen stellte sich der ersehnte Schlummer ein. Er war dumpf und betäubend. Im Traume hob sich von meiner Bettdecke ein Lilienschaft empor, der fast bis zur Balkenlage reichte. Die spiralig geordneten Blätter hatten ein glasiges Gepränge, während die in horizontaler Stellung hervorsprießenden, trichterförmigen Blüten sich ins Ungemessene ausdehnten. Sie waren von einer schneeweißen Färbung. Griffel und Staubgefäße sahen strotzend und schwefelgelb aus der zarten Umhüllung. Das Schuppenwerk der mächtigen Zwiebel teilte sich an verschiedenen Stellen und flocht ein buntes Gewirr von Wurzeln und Fasern über Kissen und Bettzeug. Ein purpurfarbiger Schmetterling mit goldiggrünen Pfauenaugen wiegte sich auf dem saftigen Stengel. Seine gebreiteten Schwingen berührten die Kelche, aus denen ein betäubender Staubregen herniedersprühte. Immer dichter und atemraubender fielen die Blütenpartikelchen. Ich glaubte ersticken zu müssen. Das Wurzelwerk der gigantischen Blume strickte 61 mich derart ein, daß ich kein Glied zu rühren vermochte.

Ich lag in einer dumpfen Betäubung. Der prächtige Schmetterling änderte inzwischen Form und Gestalt. Aus dem farbenfrohen, mit bunten Flimmern überdeckten Sonnenfalter war ein Trauermantel geworden. Aber die Umwandlung schritt in einer grotesken Weise voran. Der feine Saugapparat, die gerollten Fühler und Taster gewannen ein schnabelförmiges Aussehen, an Stelle der schillernden Flügelschuppen waren schlichte Federn getreten, zwei kluge lichtblaue Augen blinzelten über die Decke und ein langgezogenes »Kraha!« fuhr befreiend in meine Traumwelt hinein.

»Jakob, Jakob, Jakob!«

Ein kalter, krachender, sonnenheller Wintermorgen sah durch die gefrorenen Scheiben. Blitzende Eisblumen, Akanthusblätter und stilisierte Orchideen standen in der Fensterumrahmung, und meine erhandelte Dohle saß auf dem Bettpfosten und machte den Wecker.

»Jakob, Jakob!«

Gefrorene Akanthusblätter, Kastemännchen und Dohle, der lateinische Heinrich und der sonnige Wintermorgen – alles taumelte noch für eine kurze Weile in meinem Hirn bunt durcheinander, bis ich mit einem kurzentschlossenen ›Wuppdich‹ aus dem Bett und in die Kleider hineinfuhr.

Heute war Sonntag!

Feierlich riefen die Glocken von Sankt Nikolai zum Hochamt. Ich kannte sie alle. – Die, welche mit ihrer 62 hellen Stimme in das sonore Tönen hineinbimmelte, war von Meister Claudi Fremi gegossen. In ges hallte ›der Türk‹, der auch einzeln bei anhaltender Dürre oder andauernder regnerischer Witterung geläutet wurde. In dumpfen, feierlichen Schlägen begleitete er ›Preciosa‹ und die Sankt Antoniusglocke. Es war ein harmonischer Dreiklang! – Wie oft hatte ich dort oben zwischen dem eichenen Kreuz und Quergebälk gesessen, während die düsteren Kelche sich leise bewegten und der schwere Klöppel den Schlagring berührte! – Das war ein Summeln und Brausen, ein geheimnisvolles Tönen und Rauschen in der Glockenstube, die mit den feinsten Spinnwebnetzen durchspannt war. Ernst und würdevoll bewegte sich allzeit ›Preciosa‹. Ihr Gang war ruhig und gemessen, so daß auch die kleinsten Details ihres Schriftbandes entziffert werden konnten. Mit einem krausen Blätterkamm bekrönt, lagen die Wappen der Herzöge von Kleve und der Grafschaft Mark auf der Schrägung, überragt von der seligen Jungfrau und dem Kirchen- und Stadtpatron Sankt Nikolas im Bischofsornat. Und im Schalloch hockte der Schleierkauz mit seiner weißen und zimtbraunen, herzförmigen Gesichtsholle und glotzte mit seinen großen Augen in den dämmerigen Raum, in dem die gespenstigen Glockenschatten auf und nieder huschten. Von hier aus sah ich zu meinen Füßen die weite Ebene mit ihren Wiesen und Feldern sich dehnen, abgeschlossen durch den violetten Streifen des Reichswaldes, aus dem die massige Form des Schwanenturmes hervorsah. Weiter zur Rechten 63 glitzerte das silberne Rheinband über Deiche und Dämme. In schnurgerader Linie folgten die hellgrünen Weiden den blinkenden Wassergräben, die das unter mir liegende Land nach allen Richtungen durchquerten. Schlanke Kirchtürme lugten aus Busch und Hag, ziegelrote Dächer sprenkelten im weiten Umkreis das saftige Grün der weiten Niederung, Windmühlen zogen ihre mit Segelleinen bespannten Flügel durch die ruhige Luft, buntscheckige Rinder lagen wie braunrote, schwarze und weiße Punkte im Grase – und über das alles zitterten die feierlichen Klänge von ›Türk‹, ›Preciosa‹ und der Sankt Antoniusglocke. –

Heute war Sonntag!

Der Pastor van Bebber, ein schmalschulteriger Mann mit einem blutleeren und ins Grünliche spielenden Gesicht, dessen scharfausrasierte, bläuliche Tonsur wie ein Bleitaler durch die Kirche leuchtete, zelebrierte das Hochamt. In langen Streifen und Bändern wallte der Weihrauch durch die hochgegurteten Räume. Leuchtend brach die Wintersonne durch die bunten Scheiben des Chores und bildete grelle Farbenzusammenstellungen auf den Fliesen und Schieferplatten der Kirche.

Der Lateiner kniete dicht neben mir und sang mit einem heiligen Eifer und einer beneidenswerten Ausdauer, daß ihm das Feuer aus den Augen spritzte.

Meine Blicke irrten hierhin und dorthin. Ich suchte den Zylinder von Pittje Pittjewitt, ein Unterfangen, das bald von dem besten Erfolge begleitet war, denn er wußte 64 allzeit den Hut so zu plazieren und in die richtige Beleuchtung zu stellen, daß er von der ganzen Gemeinde bemerkt werden mußte. Und richtig! – Sorgsam gestriegelt und aufgebügelt, in tadelloser Schwärze paradierte er auf dem Postament der allerseligsten Jungfrau Maria. Pittje stand neben ihm. Von Zeit zu Zeit hob er den rechten Arm. Er kraute sich hinter den Ohren, bei welcher Manipulation Siegelring und Rauchtopas sich den Gläubigen präsentierten. Das war auch die Absicht von Pittje, und mancher hätte vor Neid aus der Weste springen mögen, wie das so blitzte und funkelte und einen so vornehmen Anstrich hatte. Trotz all seiner Gutmütigkeit und Nächstenliebe fühlte Pittje Pittjewitt doch so eine Art von geheimer und prickelnder Freude, wenn er in seiner Umgebung die Neidhämmel bemerkte, die aufkeimten und zeitigten, gleichsam wie die Pilze in einer regenwarmen Sommernacht. Neben Pittjes Zylinder und Siegelring erregte der fünfundzwanzigpfündige blaue Leibrock von Heinrich Hübbers meine ganz besondere Aufmerksamkeit. Auch heute hob er sich von seinen Mitröcken ab wie die Kornblume von den Halmen des Feldes. Blitzblau stand er inmitten der schlichten Farben seiner Genossen, infolgedessen er die ganze Umgebung auf das angenehmste belebte. Mit allen wichtigen und weniger wichtigen Stadtereignissen stand dieser altfränkische Rock in enger Beziehung. Bei allen Kindtaufen und Schmausereien war der ›Blaue‹ ein gern gesehener Gast; wurde einer zu Grabe gesungen – der Schniepel war im Trauergefolge; brannte es in 65 seiner Nähe – er wurde in erster Linie gerettet; tagte die Wahl zum Gemeinderat – der ›Blaue‹ erschien zuerst an der Urne, um nach Pflicht und Gewissen seines Amtes zu walten, kurz, der Hübberssche Leibrock war für uns Jungens eine Art von Persönlichkeit geworden, ohne deren Beisein selbst die feierlichste Prozession in unseren Augen in Frage gestellt worden wäre. Ohne den ›Blauen‹ keine Kirmes, keine Taufe und kein solennes Begräbnis. Seine Anwesenheit bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten war so selbstverständlich geworden wie der Hahn auf dem Kirchturm. Der hornknöpfige ›Blaue‹ war gewissermaßen mit einer prächtigen Gloriole umgeben, er war ein Wahrzeichen der Stadt und ein Gradmesser für das Wohl und Wehe der Bürger. –

Auf dem Hochaltare standen sechs Lilienstengel von Hannecke Mesdag. Sie unterbrachen die schnurgerade und steife Reihe der hohen Messingleuchter in der angenehmsten Weise. Der Weihrauch umwölkte sie, und über ihnen knisterten die Wachskerzen in bläulichen Flämmchen.

Pittje Pittjewitt ließ noch einmal den Siegelring blitzen, dann griff er nach seinem schwarzen Zylinder. Der blaue Leibrock setzte sich in Bewegung . . .

»Dominus vobiscum!«

»Ite, missa est!«

Das Hochamt war zu Ende. –

Gleich nachher zog ich mit meiner Dohle zu Jakob Verhage, um von diesem Sachverständigen, laut Pakt, 66 geschlossen mit dem lateinischen Heinrich, die Männlichkeit des Vogels konstatieren zu lassen.

Auf der Grabenstraße lag ein langgestreckter, verwitterter Ziegelbau, dessen Vorderseite über und über mit niedrigen Fenstern gespickt war. Die ganze Bauanlage hatte etwas Unheimliches an sich. Die Scheiben lagen blind in ihren Rahmen und schillerten in allen Farben des Regenbogens. Selbst die zahllosen, unter der Verkröpfung des Gesimses hängenden Schwalbennester aus der verflossenen Sommerzeit vermochten nicht das Unwohnliche und Düstere des Ziegelhauses zu scheuchen. Keine Gardinen zierten die Frontseite. Nur vereinzelte Meerzwiebeln standen in braunroten Töpfen hinter den Scheiben. Zwei vorspringende Klinkertreppen, deren Ziegelstufen wellig ausgetreten waren, führten in das Innere des weitläufigen Gebäudes. Der Altmännerhof, wie er im Volksmunde hieß, stand unter städtischer Verwaltung und war im sechzehnten Jahrhundert von mildherzigen Seelen gestiftet worden. Cornelis Brower, genannt van Bam, und seine Söhne waren die Donatoren gewesen. Der Herr hat's ihnen gelohnt, denn hochbetagt sind Vater und Söhne gottselig abberufen worden zu einem besseren Leben, und ihr Andenken ist bleibend in der ganzen Gemeinde geworden. Am Allerseelentage brennt noch immer ein Wachsstock auf ihrem Epitaphium, und die Insassen des Altmännerhofes streuen zerkleinerten Buchsbaum auf die Grabstätte, räuspern sich und hüsteln mit altmodischen Stimmen: »Wie sie so sanft ruhn, alle die Seligen!« 67 Dann gehen sie klappernd in ihren weißgescheuerten Holzschuhen nach Hause. Auf dem Epitaphium aber steht zum ewigen Gedächtnis die Inschrift: »Door syne smerten syn wy genesen. Amen.« –

»Jakob, Jakob, Jakob!«

Ich war mit meiner Dohle in den dämmerigen Hausflur getreten. Ein gipsener Sanktus Josephus begrüßte uns zuerst aus seiner Mauernische. Um das Heiligenbild war ein Kranz von weißen und roten Papierrosen gewunden. Dazwischen waren verdorrte und eingetrocknete Scheindolden von Ebereschenbeeren geflochten, die wie Korallen leuchteten. Die Papierrosen raschelten im Luftzug. Zu Füßen des Gipsbildes flackerte der Docht eines ewigen Lämpchens im Unschlitt. Die Wände waren gebläut.

Als ich durch die weitverzweigten Korridore schritt, wehte mir der Geruch von frischer Kalktünche entgegen. An einer niedrigen Tür blieb ich stehen und klopfte an.

»'rein!«

Ein lustiges Vogelgezwitscher empfing mich. Gleichzeitig fegte ein halbes Dutzend braunrot- und schwarzgefleckter Meerschweinchen mit schrillem Quieksen auseinander und in alle Ecken und Winkel der Stube hinein, von wo aus sie mich und die Dohle mit ihrem sanften Nagergesicht mißtrauisch beäugten. Allein, neugierig wie sie waren, kamen sie allmählich wieder aus ihrem Versteck, wiesen die gelblichen Nagezähnchen und beschnupperten mich.

68 »Tag, Herr Doktor.«

»Votre serviteur, Monsieur Jupp,« sagte Jakob Verhage und streckte mir seine verschrumpfelte Hand entgegen. »Womit kann ich dienen?«

Ich brachte ihm mein Anliegen vor, erzählte ihm haarklein den mit dem Lateiner abgeschlossenen Handel und bat ihn schließlich, das Geschlecht des mitgebrachten Vogels feststellen zu wollen.

»Avec plaisir, Monsieur Jupp,« sagte Jakob Verhage, setzte die großäugige Brille auf, die neben ihm bei der aufgeschlagenen Bibel gelegen hatte, rückte den Stuhl zurecht, griff die Dohle und begann mit den Präliminarien der gewichtigen Voruntersuchung. –

Jakob Verhage hatte noch unter dem großen Napoleon gefochten. Er war Stabstrompeter bei den Kürassieren Milhauds gewesen. Bei Smolensk hatte er über das russische Totenfeld die Siegesfanfare geblasen; bei Borodino klang seine Trompete noch einmal wie im Siegesjubel, während sie in Moskau nur noch verzweifelt in die verhängnisvollen Flammen hineinschreien konnte. Dann war der russische Winter gekommen. Schnee, Wölfe, Kosaken und heulende Flammen! – Und rings umher die Trümmer der großen Armee, geführt von dem eisernen Mann im kleinen Hütchen, mit dem Stern der Ehrenlegion auf der Brust. Beresina! – Mächtige Eisschollen stampften und knirschten im Fluß; Schneeflocken und grimmige Kälte, Kosakenlanzen und Kanonen des Zaren – aber keine Sonne von Austerlitz. Heilige Knute! – 69 Wie sie zischt und in die entfesselten Glieder der Bataillone hineinhaut! – Mit untergeschlagenen Armen hält der kleine Korporal im grauen Leibrock an der Beresinabrücke. Herz und Antlitz sind kalt und eisig wie die Schneedecke in der russischen Wildnis. Ein Trauermarsch von hundert Trommeln! Zerlumpte Grenadiere, die zerfetzte Trikolore unterm Arm, passieren die Brücke – ein wirres Durcheinander. Nur die Garde marschiert noch. – Zersprengte Milhaudkürassiere traben vorüber – bettelarm, verhungert und mit Totengesichtern. »Caesar, morituri te salutant!«

Kanonendonner! – Horch, bum! – Noch steht die Beresinabrücke! – Granaten drauf – russische Granaten und Bomben! – Alles drängt bunt durcheinander: Grenadiere, Kanoniere und Reiter. – Die Brücke zersplittert und bricht – und die Beresina verschlingt sie. Moskowitische Trommeln! – Jenseit der Brücke bläst der blutjunge Jakob Verhage noch einmal zum Sammeln. Nur wenige folgen – und über das Schneefeld stiert das wächserne Antlitz vom kleinen Korporal mit eisiger Ruhe.

Mit einer Kugel im rechten Schenkel erreichte Jakob Verhage die Heimat. Als beinlahmer Krüppel freite er, heiratete eine Verwandte von Frau Mesdag, begrub sein Weib und hungerte geraume Zeit mit seinen acht Kindern. Die Mäuse tanzten und piepsten um den ledigen Brotschrank. Kurz nach dem Tode seiner Frau begann auch das Sterben unter seinen Kindern – nur das jüngste verblieb ihm. Als der kleine Wilm geboren wurde, war 70 Jakob Verhage schon ein Mann von fünfundfünfzig Jahren. Um sich notdürftig über Wasser zu halten, besprach er das Vieh auf den Dörfern, braute Purgiermittel, heilte Pferdekolik, kurierte die Hundestaupe und kapaunte und poulardierte auf Bauernhöfen und Pfarreien herum, welche medizinische Tätigkeit ihm bei den Leuten den Ehrentitel ›Doktor‹ eingebracht hatte, eine Bezeichnung, die er im Laufe der Jahre für zu Recht bestehend hielt und jedesmal mit schmunzelnder Miene einzustecken pflegte. Aber schließlich wollte sein Bein nicht mehr, und Jakob Verhage sah sich veranlaßt, seine Aufnahme in das Altmännerhaus zu beantragen. Wilm hatte inzwischen seinen humanistischen Studien obgelegen. Durch die Mildtätigkeit und Opferfreudigkeit gewisser Honoratiorenfamilien war ihm diese Vergünstigung, allerdings gegen die drakonische Klausel, ›Heerohme‹ zu werden, in den Schoß gefallen. Widerwillig und nach schweren inneren Kämpfen hatte Wilm diese Bestimmung hinuntergewürgt. Aber er mußte – hier lag der Knüppel beim Hunde, der unbarmherzige Prügel, der ihn in die Leidensgeschichte der Cölibatäre hineintrieb.

Jakob Verhage hingegen war eine gläubige, strengkatholische, fast fanatische Seele. Aus seiner russischen Zeit waren ihm nur die Erinnerung, das verkrüppelte Bein, die Trompete und einige französische Brocken verblieben, die er mit einer gewissen Selbstgefälligkeit an den Mann zu bringen wußte. Jährten sich die Siegestage von Smolensk und Borodino, dann blies er noch 71 wohl die Fanfare der Milhaudkürassiere durch die gekalkte Stube, daß die bleigefaßten Scheiben zu klirren begannen. Gestern aber war der Tag gewesen, an dem die große Armee vor so und so viel Jahren die Beresina passiert hatte. Gellend schrie da die Trompete durch das Altmännerhaus; sie klagte und jammerte in entsetzlichen Tönen, sie wimmerte und schluchzte. – Jakob Verhage hatte »Sammeln! – Sammeln!« geblasen. –

Die Dohle sträubte sich. Die Ellenbogen aufs Knie und den Kopf in die Hände gestützt, sah ich wißbegierig den Manipulationen des Vogelkundigen zu. Er untersuchte die aschgrauen Federn am Halse, streifte die Achsel-, Arm- und Handschwingen auseinander, begutachtete die Färbung der Steuer- und Zügelfedern, drückte am Bürzel, konstatierte die Stärke des Schillers, blies den Flaum des rückwärtigen unteren Teiles beiseite, um auch hier nach bestem ornithologischen Können und Wissen zu mustern. Zu verschiedenen Malen nickte Jakob Verhage.

In der geräumigen Stube quiekste, piepste, flötete, schmetterte und quinquilierte es bunt durcheinander.

»Fritz, Fritz, Fritz – willst ein Bierr?!«

Haha! – Finkenschlag Nummer Eins.

»Pink – Fink!«

Die übrigen folgten – alles Schläge mit zwei regelmäßig abgeschlossenen Strophen, die aber Klangbilder von verschiedener Färbung aufwiesen. Fünf prächtige Waldfänge hingen auf Reih, die sich in regelmäßiger Folge ablösten und hierdurch einen Schlag zeitigten, der gleichsam 72 als ein zusammenhängendes Ganzes anzusehen war. Hatte der erste Fink seinen ›Reiterherzu‹ geschmettert, hub der andere mit dem ›Weingesang‹ an, der dritte folgte mit der ›Schwarzgebühr‹, der vierte setzte die schmelzende ›Zizigallweise‹ drauf, bis der letzte mit dem kecken ›Bierschlag‹ den Abgesang hatte.

»Pink – Fink!«

»Fritz, Fritz, Fritz – willst ein Bierr?!«

Es waren herrliche Vögel mit ihrer weinroten Brust, der blaugrauen Kappe und den schmalen Querbinden auf den schwarzen Flügeln!

Blaumeisen, Heckenbraunellen, Binsen-Rohrsänger und Wiesenpieper hingen in räumigen Käfigen an den Wänden umher, während in der Fensternische ein großäugiges Rotkehlchen sein beschauliches Dasein hinter frischgeschnittenen Stechpalmzweigen fristete. Es hatte Freiflug an gewissen Tagen. Melancholisch tönte seine leierförmige Strophe aus den ziegelroten Beeren und dem saftigen Grün der gezähnten Lederblätter hervor. Ihm gegenüber bearbeitete eine blaugraue Spechtmeise mit kurzem Schwänzchen und zimtbrauner Weste die öligen Buchenkerne in so kräftiger Weise, daß die glänzenden Hüllen geängstigt nach allen Seiten auseinanderstoben.

»Pink – Fink!«

»Didel, didel, didel!«

»Zeckzärrr!«

Das pfiff, dudelte, schmetterte, klaubte und hämmerte von allen Ecken und Enden, daß man glauben sollte, 73 Jakob Verhage habe schon jetzt die liebe Frühlingssonne heraufbeschworen. Nur die Singdrossel harrte noch der Zeit, wo die Haselkätzchen stäuben und die silberlichten Weidenblüten die saftigen Ruten beleben würden, um ihren feierlichen und frischen Waldgesang ertönen zu lassen. – Huida! – Wie ein winziger Strauchritter aus dem Busch schnurrte in diesem Augenblick der nußbraune Wichtelkönig aus einer verlorenen Ecke herbei, setzte sich auf das Querscheit eines hölzernen Kruzifixus, der dicht am Fenster stand, stelzte das wellenförmig gebänderte Schwänzchen empor, duckte sich vorwärts und blinzelte durch die kleinen Scheiben auf die verschneiten Bäume im Garten.

»Didel, didel, didel!«

Die verschüchterten Meerschweinchen hatten ihre Angst mittlerweile völlig abgelegt. Sie purzelten über- und untereinander, beknapperten die Mohrrüben, die verstreut auf den Dielen herumlagen, und turnten um die kahnartigen Filzpantoffeln von Jakob Verhage.

»Na, Herr Doktor?«

»Regardez, Monsieur Jupp,« sagte der Alte und gab dem Vogel die Freiheit.

Gravitätisch stolzierte die Dohle über die Platte des Tisches.

»Jupp,« meinte Jakob Verhage, »das ist ein veritabeles Männchen, ein Gescheiter und so'n ausbändiger Schwarzrock. Gratuliere! – Mußt auch so'n Männecken werden wie der da.«

»Ne, Herr Doktor.«

»Was – ne? – Wie – ne? – Mein Wilm ist doch auch so'n Schwarzrock geworden, so 'ne Gotteslaterne, die durch die irdische Finsternis lichtert wie 'ne himmlische Leuchte . . .«

»Fritz, Fritz, Fritz – willst ein Bierr?!«

»Sacré nom de dieu!« scherzte Jakob Verhage, »der Bierschlag ist alle. – Sinter Klaas kommt Wilm von Münster, und dann heißt das: Wilm, Wilm, Wilm – wirst ein Heerohme?!«

»Fritz, Fritz, Fritz . . .!« schmetterte der Fink dazwischen.

»Silence!« rief Jakob Verhage. Er war aufgestanden. Der gebeugte Mann mit den stechenden Augen, der Habichtsnase und dem eisgrauen Ziegenbart hatte ein prophetisches Aussehen. Er maß mich mit seinen durchbohrenden Blicken von oben bis unten, und ich fühlte, wie ein kalter Schauer über meinen Rücken rieselte und sich erst an den Beinen verlor. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Der stechende Blick hatte etwas Unheimliches an sich; selbst die Meerschweinchen fühlten sich unbehaglich in der Nähe ihres Gebieters und nahmen Reißaus. Ich und die Meerschweinchen konnten uns keine Rechenschaft von dem geben, was Jakob Verhage von uns wollte und was ihn so sonderbar angewandelt hatte.

»Jupp!« fuhr er mich an. »Übers Jahr hält der Wilm seine Primiz, und dann treibt er den Beelzebub aus, der in der Welt 'rumgeht, und die bösen Propheten. Herr, begnade ihn – und Du, Jupp, wirst sein Ministrant 75 bei der ersten heiligen Messe . . . Und wenn es dann klingelt und alles niederkniet – na, dann bin ich doch der Nächste dabei und bin stolz auf den Wilm, denn er holt doch in Kraft der eigenen Gewalt den lieben Herrgott vom Himmel. Überhaupt die Primiz! – So was gibt's nicht wieder auf Erden. Sacré nom de dieu! – Bei Dores Küppers wird Einkehr gehalten. Heda, Wirtschaft! – Dores, Du kennst meine Parole: 'ne Bouteille Rotspon! – Und die Bouteille kommt, und ich trinke sie aus auf das Wohl von meinem Jung und seiner Primiz. – Was, Jupp?!«

»Ja, ja, Herr Doktor,« bemerkte ich kleinlaut.

»Richtig, mein Junge!« schrie Jakob Verhage, wobei er mir seine kalte und verschrumpfelte Hand auf den Kopf legte. »Und dann nehm' ich hier die Trompete vom Nagel, die Trompete von Smolensk und Borodino – Wirtschaft, noch 'ne Bouteille mit Rotspon!– stell' mich unter die Linde und blase über das Pflaster und über den Markt weg: Großer Gott, wir loben Dich!«

»Und wir preisen Deine Stärke,« warf ich schüchtern dazwischen.

Die Augen von Jakob Verhage wurden immer unheimlicher. Fröstelnd rieb er die kalten Hände zusammen. Die spitze Habichtsnase des hochbetagten Mannes pickte nach mir, seine aufgerissenen, rotumränderten Augen leuchteten wie rote Kaninchenaugen und schienen mich durchspießen zu wollen, das kleine Gesicht grimassierte in beängstigender Weise, so daß ich unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

76 »Heda, Wirtschaft! – noch 'ne Bouteille mit Rotspon. – Noch 'ne Bouteille!« befahl er zum andern und zwar in einem gebieterischen Tone, wobei er den Blick stier auf die Tür richtete.

Ich sah mich unwillkürlich um, ob vielleicht Dores Küppers auf der Schwelle mit einer Flasche Rotwein erschienen wäre. Keiner war erschienen, und dennoch hatte ich Angst, daß sich der Alte noch betrinken möchte.

»Nichts,« sagte Jakob Verhage, »aber hier!« und mit einer raschen Wendung ergriff er eine Nummer des Kreisblattes, das mit einigen Öl- und Butterflecken punktiert auf dem Tische neben der Bibel ruhte. Attention, Monsieur Jupp! – Hier steht es geschrieben, schwarz auf weiß: die liberalen Palmesel wollen die angeregte Unfehlbarkeit des Papstes in Sachen des Glaubens und der Moral nicht anerkennen. Sie werfen ihm Knüppel zwischen die Beine – und dahinter steckt der verfluchte Bismarck, der Oberpalmesel, und tut so, als wenn er mehr zu sagen hätte wie Pius der Neunte. Wir sind die wahre Religion, und nur der heilige Vater hat hier zu befehlen. Sacré nom de dieu! – und die lutherschen und kalvinschen Dickköpfe und der preußische Landtag, die Liberalen und was noch sonst lebt wie Babel und Gomorra und Sodom, die verfluchten Beamten, die mit der Promptheit der preußischen Trommeln und Pickelpfeifen funktionieren, als diese den hessischen Plunder anno sechsundsechzig, Schlag zwölf Uhr nachts, zum Henker fegten – dieses ganze preußische Gemüse muß 77 die heilige römische Kirche manger, écraser – auffressen!«

Jakob Verhage trat einige Schritte näher, ergriff mich bei den Schultern, schüttelte mich und schrie mir noch einmal in die Ohren: »Auffressen!«

Dabei machte der Alte ein Gesicht, als wenn die Sache gleich in die Wege geleitet werden könnte, und ich der erste sei, den er hierzu ausersehen habe.

Immer mehr zog ich mich auf den rettenden Ausgang zurück. Die Dohle war dabei auf meine Schulter geflogen. Mir wurde blau und grün vor den Augen. Die fünf Meisterschläger, die Singdrossel, die unruhigen Meerschweinchen, die getünchten Wände mit ihren grellkolorierten Heiligenbildern aus Kevelaer, das dürftige Inventar, die zitierte Bouteille mit Rotspon, Dores Küppers, die blitzeblanke Reitertrompete – das ganze tote und lebendige Mobiliar von Jakob Verhage, alles tanzte mir in einem tollen Wirbel vor Augen, und im Zentrum dieses Wirrwarrs stand die bleiche Grimasse des asketischen Alten.

»Manger, écraser – auffressen!« schrie er wütend dazwischen, humpelte mir näher und brachte dabei seine Eulenschnabelnase mir dicht vor die Stirne.

»Aber mein Wilm,« fuhr er fort, »wird diesem Herrgöttchen von Bismarck den echten und einzigen Herrgott aufstecken. Gegen den helfen keine Liberalen, keine Beamten und keine preußischen Pickelpfeifen. Überhaupt die Primiz! – Da steht mein Wilm auf der Kanzel – na, 78 und wenn er dann beginnt: Geliebte im Herren! – und wenn er dann fragt: Geliebte in Christo, wo habt Ihr Euren freien Willen an Jesum Christum und den heiligen Vater gelassen, wo haltet Ihr Eure Peterspfennige versteckt, wo habt Ihr Euren Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes gelassen, wo, um Himmelswillen, Ihr lauen und lendenlahmen Katholiken, habt Ihr das alles hingetan?! – Und sie müssen dann zerknirscht eingestehen: das haben wir sozusagen auf dem Vaterlandsaltar der preußischen Vernunft geopfert, das haben wir dem Herrn Bismarck und dem Herrn Polizeidiener Brill gegeben . . . na, Geliebte in Christo! – da sollt Ihr den Wilm sehen. – In die siebente Hölle flammt und verdammt Euch der Wilm, denn Wilm ist Kaplan, und sein Fluch frißt ins zehnte Glied hinein wie 'ne bissige Ratte. – Verflucht, verflucht, verflucht!«

Jakob Verhage hatte das zerknitterte Kreisblatt auf die Dielen geworfen und den lahmen Fuß draufgesetzt.

Mir waren bei diesen Expektorationen des sonst so gutmütigen und vernünftigen Insassen des Altmännerhauses die Haare zu Berge gestiegen. Mit der Rechten ergriff ich die Türklinke. Die Dohle hielt sich mit gespreiteten Flügeln auf meiner Schulter.

»Das ist ja alles nicht wahr, Herr Doktor,« stotterte ich in tiefer Beklemmung.

»Was ist nicht wahr?!« schrie Jakob Verhage.

Meine Zeit war gekommen. Die Art und Weise, 79 wie ich die Tür zwischen den Alten und meine Person brachte, kann ich nicht angeben.

»'raus!«

Ich war draußen. Aber hinter meiner Flucht hörte ich noch wettern und poltern: »Sacré nom de dieu! – die ganze Package: Polizeidiener Brill, die Liberalen und Bismarck – manger, écraser – auffressen . . .!«

Ich jagte durch die langen, unheimlichen Gänge, eilte an dem gipsenen Joseph mit seinem Papierrosenkranz und den Vogelbeeren vorüber, verlief mich, gewann aber nach langer Irrfahrt schließlich doch den Ausgang und stolperte auf der ausgetretenen Klinkertreppe mit meiner Dohle ins Freie.

Hier verflog meine Angst.

Auf der Grabenstraße tummelten sich die Spatzen im Schnee und zankten sich mit einigen Goldammern und versprengten Bergfinken herum. Mit meinem schwarzen Vogel auf der Schulter zog ich heimwärts.

Als ich zu Hause angekommen war, schlug mir ein feiner Duft in die Nase.

»Genoveva, was gibt's heute zu Mittag?« fragte ich die rotarmige Köchin, die wie eine Pfingstrose blühend am Feuer stand.

»Geräucherte westfälische Mettwurst, Kastanien und Grünkohl.«

Meine Augen leuchteten.

»Manger, écraser – auffressen . . .«

Ich wurde zu Tisch gerufen.


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