Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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17 II Beim lateinischen Heinrich

Vor dreißig Jahren! – – – – – – – – –

Ruhig und stetig fielen die kleinen Schneeflocken vom grauen Novemberhimmel, der sich wie eine bleifarbene Decke über die klevischen Lande spannte. Die ersten Tage des Advent waren nicht mehr fern.

Mein Freund, der lateinische Heinrich, und ich saßen hinter den warmen Scheiben seines elterlichen Hauses am Markt und stierten in das weiße Geflimmer hinaus, das immer dichter und lebhafter wurde. Draußen herrschte eine bittere und schneidende Kälte. Die Leute, die in ihren mit Stroh ausgestopften Holzschuhen an unserem Fenster vorbeihasteten, schlugen die Arme über der Brust zusammen und gaben einen Atem von sich, der in Gestalt von dichten Nebelwölkchen die verfrorenen und geröteten Ohren umspielte. Unter ihren Füßen krachte und knirschte der Schnee. Immer enger schoben sich die fallenden Flocken zusammen. Die mächtigen Risse des gegenüberliegenden Rathauses, die historische Linde und das Standbild des Reitergenerals von Seydlitz schienen kaum noch vorhanden zu sein. Alles war in tanzender und flimmernder Bewegung. Wir glaubten durch ein Netzwerk 18 zu sehen, das mit einem engmaschigen, weißen Straminrahmen Ähnlichkeit hatte. Und dabei die krachende Kälte! – Der Schnee ballte sich nicht. Daunenweich haftete er auf dem Fenstersims; der leiseste Windhauch stöberte die feinen Kristalle auseinander und trieb sie von dannen.

»Prrr!« machte der lateinische Heinrich.

Grimmige Kälte! – aber hier zwischen den grünaustapezierten Wänden, umgeben von dem altfränkischen Hausrat, ließ es sich bequem und ganz behaglich sitzen und in das wirre Schneetreiben hinausstieren. Der mit Pottlot gewichste Kanonenofen strahlte aus seiner Dämmerecke eine wohltuende Wärme aus. Mit rotglühenden Backen, ein kohlenverschlingender Moloch, ließ der schwarze Gesell von Zeit zu Zeit helleuchtende Partikelchen vom Rost in den Aschenkasten fallen. Wie silberlichte Sterne huschten sie durch die rote Glut, die geheimnisvoll aus der unteren Öffnung des Ofens hervorsah. Unmittelbar über der schmiedeeisernen Klappe entfaltete sich ein ständiges Quietschen und Knacken, das von einem eigentümlichen Singen begleitet wurde. Einige rotwangige Äpfel brieten und pufften dort in ihrem eigenen Schmalz. Indem sie sich auf dem weißen Porzellanteller allmählich bräunten und überzuckerten, harrten sie geduldig, aber unter stetigem Bräteln, ihres späteren Loses. Krachende Kälte, duftende Bratäpfel und ein glühender Kanonenofen – das war für uns Jungens so recht wie gepfiffen. Während es draußen schneite und flimmerte, die Leute frierend vorbeitrabten, die Spatzen ihren braunen Leibrock plusterten 19 und gottserbärmlich von den zugefrorenen Dachrinnen schilpten, ging für uns die Poesie des Winters auf mit ihrem kommenden Advent- und Sankt Nikolaszauber.

Gravitätisch saß der lateinische Heinrich auf dem großblumigen Kanapee, das dicht ans Fenster gerückt war. Vor ihm auf der zerkratzten und zerschnittenen Tischplatte lag eine kleine Druckschrift und ein von meiner Hand verfaßtes Manuskript. In der Rechten zwirbelte er das Fragment eines abgeknäuten Bleistiftes. Der lateinische Heinrich, drei Jahre älter als ich, frühgereift, aber durch unvorhergesehene Vorfälle ein Spätling auf der höheren Schule, war ein pedantischer, pflichtgetreuer Tertianer, ein scharfer Cornelius Nepos-Übersetzer, ein gegen sich und andere strenger Asket, der bei Abfassung der lateinischen und griechischen Extemporalien es als eine Sünde wider den heiligen Geist ansah, wenn er auch nur den geringsten Schein des Mogelns auf sich geladen hätte – aber auch unerbittlich zog er gegen die Mogelanten zu Felde. Sein allezeit vorgeschobener linker Ellenbogen war selbst für den argusäugigen Franz Dewers, der gemächlich über drei Bänke hin in die Hefte seiner Mitschüler zu vigilieren vermochte, ein unüberwindliches Hindernis gewesen, das erst verschwand, wenn der giftige Schultyrann in seiner langen, schwarzen Soutane die Arbeiten einzog, um sie später mit seinem Rotstift unbarmherzig zu illuminieren. Insbesondere war aber der Lateiner ein strenggläubiger Christ, ein fanatischer Katholik, der in früheren Zeitläuften und zum Manne gereift einen zweiten Peter 20 Arbues und einen anderen Konrad von Marburg abgegeben hätte, eine Eigenschaft, die sich mit einem gewissen kaufmännischen Denken und Fühlen vereinigte, wodurch seine Finanzwirtschaft sich stets in einer geordneten Verfassung befand, die natürlich bei besonderen Umständen, vornehmlich zur Kirmeszeit, unseren Neid erwecken mußte. Der lateinische Heinrich war ein Finanzgenie – er wußte zu rechnen. Auch in betreff des äußeren Menschen hatte er seinen eigenen Geschmack und seine besonderen Grundsätze. Hals, Arme und Beine steckte er stets zu weit durch Rock und Behosung, infolgedessen seine salmfarbigen Baumwollstrümpfe und die schweinfurtergrünen Plüschpantoffeln in eine allzu grelle Beleuchtung gerückt wurden, obgleich nicht in Abrede gestellt werden soll, daß es gerade die Plüschpantoffeln waren, die dem glücklichen Inhaber in unseren Augen eine höhere Würde und Weihe verliehen. Ohne die Plüschenen wäre mein Freund überhaupt ein Nichts, ein Nonsens gewesen – eine Krähe, die man ihres schönsten Schmuckes, des Schwanzes, beraubt hätte.

Den Kopf in die linke Hand gestützt, saß ich dem lateinischen Heinrich gegenüber, sah ins Wetter hinaus, versuchte die Schneeflocken zu zählen, die an den Scheiben haften blieben und ließ von dem Duft der immer lauter zischenden Bratäpfel meine Nase umspielen.

»Jakob . . .!«

Schwerenot! – an den hätte ich kaum mehr gedacht. Hinter mir auf der Stuhllehne hockte eine prächtige Dohle. 21 Den Kopf zur Seite geneigt, blinzelte sie mit ihren vergißmeinnichtblauen Augen zu ihrem Herrn und Besitzer hinüber, der sich in diesem Augenblicke auf seinem Sitze rekelte, daß das großblumige Kanapee in all seinen Fugen und Ecken seufzte und stöhnte.

»Wir können nicht lange mehr warten,« meinte er. »Wer kommt noch?«

»Der lange Dores, Jan Höfkens und Dewers.«

»Immer zu spät,« murrte es von der Sofaecke her. »Aber jetzt werden die Rollen verteilt,« setzte er kategorisch hinzu, rückte den Tisch näher und bespeichelte, zum Zeichen, daß es jetzt unbedingt losginge, die Graphitspitze des abgeknabbelten Bleistiftes. »Zur Sache . . .«

»Halt!« erwiderte ich und bedeckte mit beiden Händen die aufgeschlagenen Blätter der Komödie.

»Jetzt kommt wieder die verfluchte Dohlengeschichte,« meinte der lateinische Heinrich.

»Ja, das von wegen der Dohle . . .«

Aber der Sofamann ließ mich nicht zu Wort kommen. In seiner ganzen Länge und mit einer unbeschreiblichen Würde erhob er sich aus seiner warmen Ecke, legte mit einer salbungsvollen Gebärde seine Hand auf meinen Semmelkopf, ließ die Augendeckel fallen und sagte: »Quousque tandem, Josephe, abutere patientia nostra?!«

Obgleich mir die lateinische Sentenz ungemein imponierte, rutschte ich dennoch angeärgert zur Seite, sprang ebenfalls auf und suchte die schon seit mehreren Monaten schwebende merkantile Angelegenheit wieder in Fluß zu 22 bringen. »Du wolltest mir doch die Dohle verkaufen,« hielt ich meinem Partner entgegen, als er noch immer keine Miene machte, auf den Handel einzugehen.

»Nur gegen bar,« versetzte der lateinische Heinrich mit unerschütterlicher Ruhe, »sonst nicht.«

Ich griff in die Tasche, holte ein allmächtiges Portemonnaie heraus, schlug die Stahlbügel zurück und legte nach einigem Suchen ein rotbäckiges, abgeschliffenes Kastemännchen auf den Tisch des Hauses nieder.

»Das ist ja noch immer dasselbe Kastemännchen von früher,« versetzte er geringschätzend, wobei er die Augen fast mitleidig verschleierte. »Vier gute Groschen – unter dem nicht,« fügte er ergänzend hinzu.

Seine Forderung war niederschmetternd für mich. Seit Pfingsten hatte ich Pfennig um Pfennig gespart, hatte mir alle Genüsse verkniffen – und nun?! – Es war doch ein hartgesottener Kaufmann, der lateinische Heinrich! Noch einmal führte ich meine ganze Beredsamkeit ins Feuer, suchte ihm klar zu machen, was so eine Dohle für ein minderwertiger Vogel sei, hielt ihm die reelle Bedeutung eines Kastemännchens vor Augen – aber alles und jedes war so gut wie in den Wind gesprochen. Mein Dohlenbesitzer schüttelte mitleidig lächelnd und überlegen den Kopf, ließ die müden Augendeckel wieder niederfallen und wackelte in geradezu unnachahmlicher Weise mit seinem Zeigefinger an meiner Nase vorüber, wobei er mit großem Selbstgenügen die klassischen Worte zitierte: »Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!«

23 Das mußte mich natürlich ärgern. Ich wollte aus der Haut fahren. Am liebsten wäre ich hinter den Ofen gesprungen und hätte von dort aus dem selbstgefälligen Lateiner einen heißen Bratapfel hinter die Ohren gepfeffert, wenn nicht in diesem Augenblick mein Bruder, dem wir den Beinamen ›der lange Dores‹ zugelegt hatten, mit seinen Kumpanen über den Marktplatz hergetrabt wäre. Bevor sie eintraten, schlugen und schliffen sie aber, zum nicht geringen Ärger des Lateiners, noch etliche Male auf der zugefrorenen Straßenrinne die Bahn und zwar in so lustiger Weise, daß die Enden und Zipfel ihrer grobgehäkelten Schals, die sie wie Türkenbunde um Hals und Kopf gewunden hatten, fast herausfordernd durch das dichte Schneegestöber agierten. Dann stürmte das frierende Kleeblatt mit geröteten Nasenspitzen ins Zimmer. – Allein, wie durch ein elementares Ereignis aus ihrer Fassung gebracht, blieben sie wie angewurzelt stehen.

»Ha!« sagte der lange Dores.

»Fein!« bemerkte Franz Dewers, der lediglich in seiner Eigenschaft als Sohn des Dachdeckermeisters von der Sankt Nikolaikirche als würdig befunden wurde, unserem Kreise anzugehören. »Fein!« wiederholte er schnüffelnd, wobei ihm ein wasserheller Tropfen von der Nase herabfiel.

»Bratäppel!« meditierte Jan Höfkens, dessen verstäubtes Müllerjungengesicht sich mit einer gewissen sachgemäßen Erkenntnis in Richtung des Kanonenofens wendete, wo es in verstärkter Weise puffte und zischte.

24 Aber der lateinische Heinrich riß die drei unliebsam aus ihren Bratäpfelträumen empor. »Quos ego!« fuhr er sie an. »Während hier die Präliminarien für die große Komödie tagen und die Rollen zur Verteilung gelangen, macht Ihr gewissenlosen Kerls Wind vor der Haustür! – Na – denn also . . .!« und mit dem gewendeten Bleistift klopfte er zu wiederholten Malen auf die Platte des Tisches. »Hier – ›Jan Klaas als Porträtmaler‹. – Wer kann den Porträtmaler spielen?«

Ich getraute mich das Wagnis zu übernehmen, und durch eine äußerst gnädige Kopfbewegung des Lateiners wurde mir diese Rolle zugesprochen, während er selbst in Kraft eigener Machtvollkommenheit die Rolle des Kommerzienrates für sich in Anspruch nahm. – »Na – jetzt noch den Polizeidiener Brill?«

»Ich!« meldete sich Franz Dewers, wobei ihm der zweite wasserhelle Tropfen von der geröteten Nasenspitze herabfiel.

»Genehmigt,« bemerkte der lateinische Heinrich und notierte den Vorfall.

»Und ich – was täte ich denn spielen?« warf Jan Höfkens etwas patzig dazwischen.

»Du?« fragte der Rollenverteiler so von oben herab. »Johannes, Du wartest. Du bist nicht auf Komödiespielen gebaut – aber Du könntest Dich anderweitig nützlich machen und willfährig zeigen. Johannes, Du hast einen Bruder, der bei den Düsseldorfer Husaren gedient hat?«

25 »Das hätte ich,« erwiderte Jan.

»Und der hat aus seiner Militärzeit noch eine Husarenjacke zu Hause?«

»Die hätte er,« kam es langnäsig zurück.

»Sieh mal, Johannes,« salbaderte der Fragesteller weiter, »da uns der Rock für den Polizeidiener Brill fehlt, so könntest Du Deinen Bruder veranlassen, daß er uns die Husarenjacke leihweise überließe, damit sie gewissermaßen die Rolle der Polizeimontierung verträte.«

»Das könnte ich wohl,« trumpfte Jan Höfkens ganz dickfellig auf, »aber das täte ich nich.«

Der lateinische Heinrich prallte zurück. Die Husarenjacke, auf der vielleicht der ganze Effekt des Abends beruhen konnte, schien sich für uns in blauen Dunst auflösen zu wollen. Hier mußte eingegriffen werden, zumal der Lateiner schon wieder einen neuen Spruch auf der Pfanne hatte, und Jan Höfkens gestikulierend im Zimmer auf und ab stolperte und stetig dabei den patzigen Satz wiederholte: »Das könnte ich wohl, aber das täte ich nich!« obgleich ihm niemand sagte, daß er es doch tun solle. »Und das täte ich nich und das täte ich nich . . .«

Ich trat dem Lateiner auf die grünen Plüschpantoffeln und gab dem wütigen Jan zu verstehen, daß er umschichtig mit Franz Dewers den Polizeidiener Brill und zwar in der Husarenjacke spielen dürfe. Dieses salomonische Urteil fand ungeteilten Beifall. Die Husarenjacke wurde bewilligt, und es konnte somit zur Rollenverteilung des zweiten Stückes geschritten werden.

26 ›Don Juan oder der steinerne Gast‹, hieß der Titel der anderen Komödie. In Anbetracht des denkwürdigen Umstandes, daß ich mich als der glückliche Besitzer eines hannöverschen Füsiliersäbels ausweisen konnte, der nach der Schlacht von Langensalza durch irgend einen Zufall in mein elterliches Haus gekommen war, wurde mir ohne Einwand und Gegenrede die Titelrolle zugestanden.

»Donna Elvira! – Wer kann die Donna Elvira spielen?« fragte der lateinische Heinrich. »Entgegen der Historie,« fuhr er fort, »wurde von mir die Tochter des Gouverneurs, die geschichtlich den Namen Donna Anna führt, des Wohlklanges halber mit Donna Elvira bezeichnet, während die eigentliche Donna Elvira sich bei mir mit dem schlichteren Namen zu begnügen hat. Es ist eine wesentliche Verbesserung. Verstanden?! – Also wer vermag die Donna Elvira zu spielen?«

Jan Höfkens stand auf.

»Weißt Du, wer Donna Elvira ist?« donnerte ihn der Lateiner an.

»Das wüßte ich nich,« versetzte Jan Höfkens.

»Quod licet Jovi, non licet bovi! – Donna Elvira war eine spanische Jungfrau. Bist Du eine spanische Jungfrau, Johannes?«

»Das wäre ich nich,« versetzte der Angeredete und drückte sich kleinlaut auf seinen Binsensessel zurück.

Der pedantische Fragesteller blickte im Kreise umher. »Getraut sich keiner von Euch die Donna Elvira zu spielen?«

27 Keiner meldete sich.

»Da sich keiner meldet,« dekretierte der lateinische Heinrich, »so wird die Donna Elvira vom langen Dores verkörpert.«

»Was der könnte . . . der lange Dores wäre doch auch keine spanische Jungfrau,« warf Jan Höfkens murrend dazwischen.

Aber da kam er an den Unrichtigen. Durch die halbgeschlossenen Augenlider blitzte ihn der Lateiner vernichtend an. »Schweige, Johannes! – Bist Du so dünndarmig und so schlank wie der lange Dores gewachsen?«

»Das wäre ich nich.«

»Kann Dein Stiftekopf mit dem feinen Scheitel von Dores sich messen?«

»Das könnte er nich.«

»Knabberst Du nicht immer bei den Extemporalien und den unregelmäßigen Verben vor Angst an den Fingernägeln, Johannes – und da willst Du die Donna Elvira spielen? Schweige, Johannes.«

Diese Gründe schlugen nun durch. Der sommersprossige Stiftekopf ließ seine etwas unverschämten Ansprüche fallen, und der lange Dores erklärte sich nach einigem Zögern bereit, den Gang als Donna Elvira zu wagen. Auch die übrigen Rollen wurden alsbald unter Hinzuziehung nicht anwesender Kräfte an den Mann gebracht, während diejenige des Leporello noch ein offenes Fragezeichen blieb. Ein Königreich für einen Leporello!

28 Während wir noch beratschlagten, erhob sich plötzlich der lateinische Heinrich mit einer Feierlichkeit von seinem großblumigen Kanapee, als schickte er sich an, einen Choral unter Orgelbegleitung zu singen. Aber er dachte nicht an einen Choral mit Orgelbegleitung, sondern erklärte kurzweg, daß er sich für den geborenen Leporello halte.

Für einen Augenblick wurde es Nacht vor meinen Augen. Ich glaubte, der Lateiner wäre der Zwangsjacke entsprungen. Ebenso gut hätte er sich für einen Ballettmeister oder Seiltänzer ausgeben können.

»Um Gottes willen!« fuhr ich auf ihn los, »Heinrich, kannst Du verstehen, daß die Spatzen Schritt gehen, kannst Du verstehen, daß der Bulle Klavier spielt, der Hahn meckert und der Elefant mit dem Schwanz frißt?«

»Nein,« sagte mein Freund.

»Dann mache Deinen Vers auf die obigen Gleichnisse.«

»Jupp,« trumpfte der Abgefertigte auf, »Du willst mir nicht den Leporello vergönnen?«

»Ich protestiere.«

»Wir protestieren!« riefen die anderen dazwischen.

»Gut,« sagte der Lateiner mit unsäglicher Wehmut, klappte sein Buch zu und legte den Bleistift beiseite, gleichsam um anzudeuten, daß er sein Amt als Vorsitzender des Theaterausschusses niederlege.

Eine tiefe Stille machte sich geltend. In diesem Augenblick fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der allerdings mit meinem künstlerischen Gewissen im direkten Widerspruche stand.

29 »Holt mal die Bratäpfel 'ran,« gebot ich den andern Mitkomparenten, und während diese sich am Ofen und dem heißen Porzellanteller zu schaffen machten, legte ich zum zweiten Male das Kastemännchen auf den Tisch des Hauses.

»Für das Kastemännchen die Dohle,« flüsterte ich ihm zu, »und Du bist der geborene Leporello.«

Eine erwartungsvolle Pause entstand. Noch einmal wollte sich mein künstlerisches Gewissen regen; ich dachte daran, den Antrag zurückzuziehen, allein die Aussicht, beneidenswerter und rechtlicher Inhaber der Dohle zu werden, schlug alle Bedenken zu Boden.

Noch war der Lateiner in Zweifeln befangen. Sein kaufmännisches Empfinden kämpfte auf Leben und Tod mit der verlockenden Aussicht. Endlich siegte der Idealist über den Materialisten – er schlug ein. Ich hatte die Dohle und er das Kastemännchen und die Leporellorolle.

Aber ich machte ein Kodizill zu dem abgeschlossenen Handel. »Jakob Verhage muß noch feststellen, daß der Vogel ein Männchen ist,« verlangte ich.

»Gut,« sagte der lateinische Heinrich. – Wir waren einig. Auch die übrigen Komödianten und Komparsen stimmten zu, nachdem ihnen der neue Leporello noch ein weiteres Deputat an Bratäpfeln zugestanden hatte. So waren denn die ersten Theaterverhandlungen glücklich verlaufen. Der denkwürdige Tag neigte sich seinem Ende entgegen.

Während wir den Bratäpfeln zusprachen, spannten sich geheimnisvolle Dämmer durch die behagliche Stube. Alles 30 hüllte sich in ein dunkelndes Zwielicht. Die großen Muster der schlichten Tapeten waren kaum noch zu unterscheiden. Der Kanonenofen hatte sich im Düster aufgelöst. Seine mächtigen Umrisse waren nicht mehr erkennbar, nur das untere Zugloch erstrahlte in feuriger Glut und warf ein scharfumgrenztes Licht auf die Dielen. Immer heller und weißer fielen und zischten die glühenden Kohlenstückchen in den Aschenkasten, während draußen die Laternenanzünder umhergingen und den muffligen Öldocht entfachten. Wie matterleuchtete Nebelflecke dunsteten die Straßenlaternen von allen Enden des Marktes herüber. Der Ofen pochte und fauchte in allen Tonarten aus seiner Dämmerecke; sonst herrschte eine einlullende Stille im Zimmer.

Die Bratäpfel waren verzehrt.

»Morgen ist Schweinestechen,« sagte Franz Dewers.

»Wo?« fragte der lange Dores.

»Schnüffelt, hat Pittje Pittjewitt gesagt, und ihr werdet finden.«

»Frische Würste!« triumphierte Jan Höfkens.

»Fein! – Wir schnüffeln,« ergänzte Franz Dewers, und mit diesem Ausspruch nahmen wir für heute Abschied vom lateinischen Heinrich.

Vom Rathausturm schlug die fünfte Abendstunde; aber der Ton war matt und dumpf, und es hatte den Anschein, als wären Glockenhammer und Glocke mit Wolle umsponnen.

»Jakob!« sagte die Dohle.


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