Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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241 XVI Der Sturm bricht an

Wilm Verhage suchte vor Nacht seinen Vater nicht mehr auf. Morgen nach dem Hochamt gedachte er vor ihn zu treten und ihm über alles Aufklärung zu geben. Er wollte in kindlicher Weise mit ihm sprechen, aber diese Aussprache sollte dennoch fest und bestimmt sein. Ein ›Zurück‹ gab es nicht mehr für ihn.

In einer kleinen Wirtschaft und Ausspannung am Markt hatte er Unterkunft gefunden. Ruhelos wälzte er sich auf seinem Lager; er konnte den Schlaf nicht mehr finden. Erst gegen Morgen drückte ihm ein dumpfer Halbschlummer den Kopf in die Kissen. Ihm war es, als zuckten leckende Feuerzungen aus den gescheuerten Dielen. Im Flammenschein drangen Männer und Weiber mit gläubigen Gesichtern und frommen Augen über die Schwelle. Er kannte sie alle. Sie alle trugen Reisigbündel und warfen sie pflichtgemäß zu Boden, um das Feuer zu schüren. »Ketzer, Ketzer, Ketzer!« heulten sie ihm von allen Seiten zu. Es waren die barmherzigen Menschen, die ihm durch ihre Guttaten das Studium ermöglicht hatten. Der Ketzerrichter war in sie gefahren. 242 Sonst gutmütigen Herzens, schienen sie jetzt mit einer sublimen Verschrobenheit behaftet. Betäubend hallte ihr Geschrei durch die zuckenden Feuerzungen: »Du wolltest Heerohme werden – und bist ein Weltmensch geworden! – Du wolltest auf der Brotkruste des Entsagens jonglieren – und tanzt den breiten Weg des Genusses! – Du wolltest dem Weibe entsagen – und bist der Fleischeslust in die Arme gefallen! – Heraus mit unserem heiligen Gelde – ins Feuer mit Dir, Du Schänder, Du Abtrünniger im Tempel des Herrn!« – Immer frische Reisigbündel fielen in die qualmenden Gluten. Der ehrsame Manufakturist und Mitglied des Kirchenvorstandes. Hamilkar Nagels, wälzte eine Teertonne ins Zimmer, um das Feuer zu kitzeln. Vergebens drangen Pittje Pittjewitt und Heinrich Hübbers mit platschenden Wassereimern vor – immer wilder raste der Ketzertanz, und immer wilder hauchte das feurige Gewalle gegen das Bett an. Sein eigener Vater, Jakob Verhage, sang eine betäubende Ketzermelodie durch Rauch und Qualm und Flammenschein. – »Zu Hilfe!« – Wilm Verhage wollte ersticken – da im heißen Geleucht erhob sich eine hehre Gestalt. Das Haar umwallte sie wie ein braungoldenes Segel. Durch das durchsichtige Gewand schimmerten ihre jungfräulichen Formen. Sie warf die irdische Hülle von sich und beugte sich zu ihm nieder; dann küßte sie ihn und zeigte nach oben. Eine wohlige Kühle umgab ihn. – Aber stöhnend sank er zurück. Der Dechant van Bebber war mit Barett, Chorhemd und Weihbronnwedel ins Zimmer getreten. Mit 243 großen und fürchterlichen Worten sprach er den Exorzismus gegen ihn aus. Wilder lohten die Flammen – immer wilder und heißer! – Da nahm ihn die schöne Gestalt in ihre weichen Arme, und als Gott und Bajadere schwebten sie höher und höher.

Plötzlich sank er zurück. Immer tiefer ging die rasende Flucht, die Sterne zu seinen Häupten, die schon wie große Sonnen erstrahlt hatten, wurden kleiner und kleiner, dann schwanden sie vor seinen Blicken. – Er hörte Säbelgerassel – und was er hörte, war Wirklichkeit. In Anbetracht der kriegerischen Ereignisse hatte sich Heinrich Hübbers, in seiner Eigenschaft als Nachtwächter, mit dem großen Schleppsäbel gegürtet, der noch von den Befreiungskriegen her als eine französische Kriegstrophäe bislang der Wachtstube zur Zierde gereicht hatte. Straßenweit dröhnte das schleppende Ungetüm durch den tiefen Frieden der Nacht hin. Als das erste Morgengrauen die Giebel umzitterte, fuhr der Dragonersäbel unliebsam mit seinem Geräusch in die Traumwelt des jungen Verhage hinein. Müde und übernächtig wachte er auf. Etliche Stunden später drang das laute Jubeln und Singen der Schuljugend ins Zimmer, wo Wilm sich anschickte, seine Gedanken zu sammeln. –

Schon beim frühesten Hahnenschrei war ich mit dem lateinischen Heinrich zu Holz gegangen und hatte dort einen prächtigen Eichenkranz gewunden. Mit diesem Zeichen vaterländischer Gesinnung traten wir den Heimweg an. Der Lateiner war heute ganz Patriot. Ein 244 violettes Haubenband hatte er von seiner Mutter erstanden, um es dem Kranze einzuverleiben – ›violett‹, weil keines von anderer Farbe zur Hand war, und zweitens, weil hierdurch, nach kirchlichem Ritual, die tiefe Trauer, die ihn wegen der schmachvollen Kriegserklärung beherrschte, versinnbildlicht werden sollte.

Als wir den Markt betraten, stand der Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz mit gezücktem Pallasch ruhig wie immer auf seinem Steinpostament und blickte gen Westen, von wannen der Erbfeind kommen sollte – aber eine jubelnde Menge umkreiste ihn. Im fröhlichen Wirrwarr drängte jung und alt durcheinander. Dazwischen hallten begeisterte und neugierige Stimmen:

»Meyer Spier ist gekommen!«

»Hurra!«

»Meyer Spier ist von Kleve gekommen!«

»Meyer Spier soll erzählen!«

»Hoch, Meyer Spier!«

Und durch die Menge drängte sich ein unscheinbares Männchen in Korkzieherhosen und Flausrock, stellte sich auf einen Prellstein am Denkmal und gestikulierte mit Armen und Beinen. Meyer Markus Spier, eine allbeliebte Persönlichkeit in der Bürgerschaft, war Beschneider und Schächter der kleinen jüdischen Gemeinde. Wegen allzu knorpeliger Fußballen hinkte der Mann, und dieses Gebrechens halber trug er im vertraulichen Kreise auch den Beinamen ›Schleifboot‹, aber dieses Schleifboot hatte 245 allzeit ehrlichen Kurs gehalten und wurde gewertet bei Juden und Christen.

»Meine Herrens!«

»Hurra!«

»Bin ich doch soeben gekommen von Kleve . . .«

»Hurra!«

»Ruhe! – Ruhe!« gebot Herr Polizeidiener Brill. »Herr Spier hat das Wort; ich bitte um Ruhe.«

»Meine Herrens!« begann der Redner von neuem. »Bin ich doch soeben gekommen von Kleve, wo ich hatte Geschäfte bei meinem Schwager Elkan Josephi. 's is richtig, die Sache is richtig!«

»Was ist richtig?!« warf der Schneidermeister Schmitz ängstlich dazwischen.

»Nü – von wegen Max Mahon! – Is doch der Marschall Max Mahon eingebrochen in Preußen. Is er doch gekommen mit die Spahis un Turkos, ungerechnet die ßwai Millionen Füsiliere un afrikanische Jäger. Un sie bauen Brikaden un schießen mit ihre neuen Kugelspritzen fünfunzwanzigfältig von hinten . . .^

»Donnerwetter noch mal! – Das muß ja ein gefährlicher Mann sein.«

»Gefährlich, Herr Brill?! – Mehr wie gefährlich – der Mann is meschugge. – Der Mann is ein Würger vor dem Herrn. – Max Mahon is ein ßwaiter Nebukadnezar. Er is schlimmer wie Abimelech un Garibaldi . . .! – Außerdem hat er eine eigentümliche Perkutschon an die Flinte – un jede trifft wenigstens neununneunzig Perzent, 246 wenn sie losgeht. 's is ein gefährlicher Mann, der Herr Max Mahon aus Frankreich! – Aber das Neieste kommt noch! – Is vielleicht Herr Theodor Küppers unter die patriotischen Herrens . . .?!«

Dores Küppers war da.

»Nü, Herr Theodor Küppers, so möchte ich mir die Ehre geben, Sie ßu bitten um ein Billardkö.«

»Gern,« sagte Dores Küppers und gab einem halbwüchsigen Jungen Order, ein solches aus der Wirtschaftsstube zu holen.

»Meine Herrens!« fuhr der Redner in gehobener Stimmung fort, wobei er sich zu wiederholtem Male auf die Brust schlug und die seidene Schirmmütze auf das linke Ohr schob, »meine Herrens! – Die Sache is richtig – habe ich sie doch selber gehört von Elkan Josephi, was ein richtiger Schwager von mir is in Kleve. – Jetzt kommt das Neieste . . .!«

»Hoch, Meyer Spier!«

»Hurra, Elkan Josephi!«

»Nieder mit Max Mahon!«

»Hoch, Elkan Josephi!«

»Danke, mein Söhnchen.«

Meyer Markus Spier hatte das Billardkö in Empfang genommen, zog ein schwarz-weißes Fähnchen aus seiner Rocktasche, knüpfte es an den Billardstock und hielt die so improvisierte Standarte in edler Begeisterung mächtig zu Häupten der Menge.

»Bravo!«

247 »Meine Herrens!«

Einmaliges Fahnenschwenken.

»Meine Herrens! – Ich habe gesagt, der Mann is meschugge – Max Mahon is ein gefährlicher Mann un ein ßwaiter Nebukadnezar . . .«

Zweimaliges Fahnenschwenken.

»Ich habe gesagt, er is gekommen mit die Spahis un Turkos un mit die Kanonen von hinten – aber sie haben ihm schon . . .«

Dreimaliges Fahnenschwenken.

»Max Mahon hat seine Sache verspielt – sagt Elkan Josephi – er hat sich übergeben; dreimal hat er sich übergeben. – Drum Tusch, meine Herrens . . .! – Lieb Vaterland, kannst ruhig sein . . .!«

»Hurra!«

»Un darum wollen wir alle, christliche Männer un jüdische Männer, eine Art von Triumphzug um dieses Denkmal gestalten, daß es im Angedenken sei für ewige Zeiten. – Weiter sag' ich nichts. – Ich habe gesprochen.«

»Und wie,« beteuerte der Herr Polizeidiener Brill.

Unter allgemeinem Beifall humpelte Meyer Markus Spier vom Prellstein, schwenkte die Fahne, setzte sich an die Spitze des Zuges und zog mit jung und alt um das steinerne Denkmal.

Den Eichenkranz mit dem violetten Haubenband im Arm, das Herz geschwellt, voll edler Gefühle sah der Lateiner dem Schauspiel zu.

»Groß und erhaben,« flüsterte er halblaut, »wenn die 248 patriotische Seele in der Brust des gequälten Volkes erwacht und, so wie hier, der furor teutonicus losbricht. Auch ich habe eine Ode gedichtet und werde sie vortragen unter Niederlegung des Kranzes.«

Er stellte sich bei dem Denkmal auf und wartete, bis Meyer Markus Spier die Vorderseite zum drittenmal passierte – dann begann er: »Hochangesehene Männer! – Ich bin nur ein schlichter und einfacher Schüler . . .«

»Bravo!«

»Ich habe die Rede eines Mannes gehört, der tiefe Sachkenntnis mit der Beredsamkeit eines Demosthenes verbindet . . .«

»Ich danke for die Fetierung,« dienerte der Standartenträger.

»Und dennoch,« fuhr der Lateiner fort, »drängt es mich, eine patriotische Ode, eine Art von Bardengesang vorzutragen, um hierdurch auch die Begeisterung der Jugend zu dokumentieren. Ich habe selber dieses Bardenlied gedichtet.«

»Bravo!«

»Selbstverständlich ist des urdeutschen Zweckes halber sowohl von der sapphischen Strophe wie vom asklepiadeischen Versmaß Abstand genommen.«

»Bravo!«

Der Herr Polizeidiener Brill hatte seine Meinung geäußert.

»Vielmehr wählte ich einen schlichten, deutschen Strophenbau mit klingenden Reimen. – Hochangesehene 249 Festgenossen! – Ich bin nur ein einfacher Bürger, ein bescheidener und geringer Schüler – und frage daher: darf ich meine Ode auf den öffentlichen Altar des Vaterlandes legen und opfern?!«

»Los!«

»Hinlegen und opfern!«

»Bravo!«

Ein Sturm der Begeisterung umtobte meinen Freund. Da wandte er sich, hob den Eichenkranz zum Denkmal empor, daß die violette Trauerschleife prächtig im Winde wehte und sprach mit weithin tönenden Worten:

»O, Seydlitz, Führer rasselnder Schwadronen,
Nun höre mich! –
Was wär' die Welt in allen ihren Zonen
Wohl ohne Dich?! –
Du ließ'st die Kugeln lächelnd um Dich spritzen
Wie Gartenkies,
Drum bist Du auch beim alten König Fritzen
Im Paradies. –
Jetzt droht der Erbfeind hinter den Vogesen,
Bar jeder Scham!
Im Kreisblatt hab' ich selber es gelesen,
Das gestern kam. –
Zwar zieht der Moltke niemals eine Niete,
Wenn er's bedacht;
Doch gut wär's, wenn Dein Feldherrngeist ihm riete
Beim Plan der Schlacht. –
Daß uns Dein geist'ger Pallasch niemals fehle –
Sei unser ganz! –
Ut deus bene vertat, große Seele,
Nimm diesen Kranz.«

250 Der Lateiner hatte mit tränenerstickter Stimme gesprochen. Hierauf legte er den Kranz auf die Stufen des Postamentes. Als er sich erhob, stand Pittje Pittjewitt im Schmuck des spiegelblank gebürsteten Sonntagszylinders hinter ihm. In der Brust des ehemaligen Trainsoldaten und nunmehrigen Landwehrmannes hatten die großen Worte des Lateiners einen begeisterten Widerhall gefunden. Mechanisch nahm er den Zylinder vom Kopf und sagte: »Heinrich, schlichter Mitbürger und Schüler – ich kenne Dich als seebefahrenen Menschen, ich habe Dich als Komödienspieler gesehen; heute stehst Du als Patriot in unserer Mitte – aber Du bist mehr: Du bist ein Dichter.«

Das schlug ein.

Meyer Markus Spier schwenkte das Billardkö, daß das Fähnlein über dem Kopf des Dichters zusammenknatterte.

»Hat er doch gesungen wie Jeremias un die andern Propheten,« rief der Beschneider, »hat er doch gesungen un gedichtet wie David mit's Harfenspiel . . .!«

»Hurra!«

Fünfundzwanzig Hände griffen den Barden gleichzeitig an. Sie hoben ihn und trugen ihn um den steinernen General, dem er in weihevoller Ode sein Herzblut gegeben hatte. Dann ging's unter Absingung eines patriotischen Liedes durch alle möglichen und unmöglichen Gassen der Stadt hin. Der Lateiner fühlte sich ordentlich in Wonne und Erhabenheit. Der Jubel der stetig 251 anwachsenden Menge betäubte ihn. Er konnte die Dinge nicht mehr mit objektiven Augen betrachten. Er hatte trefflich gesungen, aber mir war es so, als wenn er dennoch seine literarische Leistung bedeutend überschätzte. Mit einer theatralischen Pose, die ich bisher nie an ihm bemerkt hatte, beherrschte er die Situation und ließ sich die spontane Aufwallung des Volkes als notwendig und selbstverständlich gefallen. Die anerkennenden Worte Pittje Pittjewitts und Meyer Spiers mußten ihm zu Kopf gestiegen sein.

»Du bist ein Dichter!« – dieser Ausruf beherrschte seine entflammte Seele in geradezu beängstigender Weise. Er hielt sich für einen Freiheitspoeten, für eine Art von Max von Schenkendorf und für einen Theodor Körner

»Ut deus bene vertat, große Seele,
Nimm diesen Kranz!«

Der Lateiner blickte selbstgefällig gen Himmel. – Es waren doch erhabene Verse! – Und mit diesem Wonnegefühl triumphierte er weiter durch die entlegensten Gassen. –

Schon vor Beginn dieser Ovation hatte Wilm Verhage das bescheidene Wirtshaus verlassen. Kurz vorher war ein Meßjunge bei ihm gewesen.

»Im Auftrage des Herrn Pastors,« hatte dieser gemeldet, »und der Herr Pastor läßt bitten.«

»Noch vor dem Hochamt?«

»So meinte der Herr Pastor.«

252 »Ich komme.«

Dann ging er zum Pastorat. – Wie?! – und nicht zuerst zu seinem Vater?

Nein.

Der Hauptstier sollte zuerst an die Reihe. Wilm Verhage wollte reine Bahn schaffen. – Als er über den Markt schritt, zog der erste patriotische Jubel durch Gottes heilige Sonntagsfrüh.


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