Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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223 XV Wenn die Malven blühen

Am Hause von Grades Mesdag blühten die Malven. Weit über Mannshöhe standen sie an der Vorderseite des Giebels, blank und prächtig wie aufgeputzte Soldaten im Gliede. Die langen Traubenstiele reichten bis zu den tiefhängenden Dachpfannen, unter deren Schutz der muntere Rotschwanz zum letzten Male im Jahre seine Brut aufpäppelte und Vaterfreuden erlebte. Auf und nieder schwankten die Malvenschäfte vor der traulichen Wochenstube, aus der die kleinen Lebewesen piepsten und zirpten. Saftig und strotzend stand Blüte bei Blüte; es war ein Farbenrausch, der die ganze Skala vom zartesten Rosa bis zum gesättigten und sammetartigen Schwarzviolett in sich vereinigt hatte. Nur die knallroten Dachziegel lachten in den blauen Himmel hinein – sonst lag das kleine Häuschen vom Bas ganz unter Malven. Im Vorgarten leuchtete der Phlox in auffallenden Varietäten. Seine großen Büschel standen seitlich der Laube, die fast wie ein unförmlicher, grüner Klumpen aus den Pflaumenbäumen hervorsah. Ein dichtes Gewirr von rankenden Bohnen und Zaunrüben hatte dieses versteckte Plätzchen 224 geschaffen. Wie feurige Insekten hockten die Schmetterlingsblüten in dem saftigen Blattwerk, das sich leise im Hauche des heißen Sommertages bewegte. Von fernher tönte das Gedengel der Sicheln und Sensen herüber; dann hörte man ihren scharfen Schnitt in den rauschenden Halmen. Der Bas saß in seiner Werkstatt. Bislang hatte er mit der Raspel gewirtschaftet; jetzt war er dabei, ein Paar fertiggestellter Holzschuhe sauber zu glätten. Mit Sand und Schachtelhalm fuhr er zu diesem Zwecke über die weißen Masern des Pappelholzes. Es entstand hierdurch ein schlurfendes Schaben, das einschläfernd wirkte. Im oberen Fensterrahmen hatte die Kreuzspinne ihr engmaschiges Netz gespannt. Wohlgemästet, mit dem feinen Perlkreuz auf dem Hinterleib, kauerte sie inmitten der Fäden und beobachtete einen schnurrenden Brummer, der sich vergebens abmühte, der verhängnisvollen Umstrickung zu entfliehen. Seine Kräfte erlahmten, da kroch die Weberin langsam vor und umwickelte ihn. Sie tat es in behäbiger und fast lässiger Ruhe. Die Mittagsschwüle wirkte erdrückend. Die Puffbohnen mit ihren ausgereiften Schoten duckten sich unter dem blendenden und flimmerigen Lichte des Sonnenbrandes, der den kleinen Garten heiß überstrahlte. Von Sankt Nikolai läutete die Vesperstunde! – – –

Auch im Pastorengarten blühten die Malven. Stocksteif blickten sie durch das geöffnete Fenster in die Arbeitsstube des geistlichen Herrn, der mit übergeschlagenen Beinen in einem Korbsessel ruhte. Eine aus bunten Wollfäden 225 gestickte, mit Glas- und Milchperlen durchsetzte Schlummerrolle zierte die Rückenlehne des Sessels, dessen Weidenflechtwerk auch bei der geringsten Bewegung ächzte und stöhnte. Das Zimmer war einfach möbliert. Etliche Bücherregale standen an den Wänden, angefüllt mit Bänden und Broschüren theologischen, vornehmlich strengkatholischen Inhalts. Die Schriften von Konrad von Bolanden und Alban Stolz bildeten die schönwissenschaftliche Literatur der kleinen Bibliothek. An der einen Längswand hing die Sixtinische Madonna nach einem Stich von Josef Keller über dem großblumigen und mit gehäkelten Schutzdeckchen versehenen Sofa. Blühende Levkojenstöcke standen am Fenster.

Wegen der sommerlichen Hitze war Hochwürden ganz in schwarzen Lasting gekleidet. Er trug Wadenstrümpfe und Kniehosen. Auf den sauber gewichsten Schuhen glänzten silberne Schnallen. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand umspannte er das Pfefferrohr der langen Pfeife, aus deren Maserholzkopf hastige Rauchwölkchen aufstiegen, während die Finger der Linken in nervöser Unruhe auf der Platte des Mahagonitisches klavierten, eine Bewegung, die durch das Auf- und Niederschnellen des rechten Fußes eine sachgemäße Begleitung gefunden hatte. Über das graumelierte Haar und das fahle Gesicht des Dechanten huschten die spielenden Reflexe des Weinlaubs, das vor dem Fenster auf und nieder schwankte. Hochwürden war mißgestimmt – sehr mißgestimmt, denn die etwas angeräucherten Zähne bearbeiteten mit 226 merklichem Knirschen die geschweifte Hornspitze, so daß der Knopf Gefahr lief, abgebissen zu werden.

»Hm, hm, hm!« machte Hochwürden.

Die Linke trommelte lauter. Jetzt ergriff sie ein Lineal und klatschte damit auf einen beschriebenen Bogen kräftigen Kanzleipapiers. Daneben lag ein aufgeschnittenes Briefkuvert, das mit dem Siegel des Priesterseminars in Münster versehen war. Der Inhalt des Schriftstückes schien mit einem unliebsamen Beigeschmack behaftet zu sein, denn jedesmal, wenn Hochwürden seine Blicke über das Papier huschen ließ, verzerrten sich seine Mundwinkel, als habe er unversehens auf ein Körnlein schwarzen Pfeffers gebissen. Die Schriftzüge waren fein und gekünstelt. – Der Regens des Priesterseminars bekannte sich als Verfasser des Briefes, und wenn dieser sich herbeiließ, höchsteigenhändig an einen Konfrater zu schreiben, dann lagen in den meisten Fällen subtile Dinge vor, die eine geschickte und prompte Erledigung notwendig machten.

Das wußte der Dechant. Der Regens des Priesterseminars stand in Gnade und hohem Ansehen bei der bischöflichen Behörde, und mit dieser war nicht gut Kirschen essen. Also prompte und geschickte Erledigung der Sache! Die Backenmuskeln des geistlichen Herrn bewegten sich hastig, und wieder knallte das Lineal auf das dringliche Schriftstück.

»Zum ersten,« meinte der Dechant, »renitentes Benehmen gegen die vorgesetzte Behörde von einem hiesigen 227 Pfarrkind. – Wilhelm Verhage, das wird durch äußerste Strenge geahndet.«

Abermaliges Niederfallen des Lineals.

»Zum anderen, Wilhelm Verhage. Freigeistige Exkursionen, gespickt mit epigrammatischen Spitzen, widerlaufen der kirchlichen Ordnung. Apage, satanas!«

Hochwürden sprang auf, warf das Lineal auf den Tisch und durchmaß mit langen Schritten das Zimmer. Er grübelte nach und sog mechanisch an der hörnenen Spitze. Die Pfeife versagte. Er lenkte den Schritt zum ewigen Lämpchen, das zwischen den Bücherregalen unter einer Gipsmadonna flackerte. Mit einem Fidibus, den seine im kanonischen Alter stehende Haushälterin geringschätzend aus der Kölnischen Zeitung zu falzen und herzurichten pflegte, setzte er den erloschenen Varinas-Kanaster wieder in Brand. Dann nahm er die nervösen Schritte wieder auf.

»Sachte, mein jugendlicher Hitzkopf. Mit Deinen versteckten und laut geäußerten Expektorationen wirst Du das Schifflein Petri nicht ins Schwanken bringen. Wilhelm Verhage – sonst ein gutes Schaf und jetzt ein räudiges Schäflein – wo hast Du dieses Selbstbewußtsein gefunden?! – Bei der reinen Gnadenmutter! – seit wann und durch welchen Zauber der Verführung ist dieser unbegreifliche und plötzliche Umschlag eingetreten?! – Nun, wir haben noch Mittel und Wege . . .«

Eine energische Rauchwolke dampfte zur Decke.

228 »Inferner reger Briefverkehr mit einem weiblichen Wesen – ein energischer Verstoß gegen den makellosen Lebenswandel keuscher Seminaristen. Verdammenswert! – Und hier . . .«

Der Dechant hatte das ominöse Schriftstück ergriffen und schlug mit der gewendeten Hand drauf. »Urlaubsgesuche unter nichtigen Vorwänden und, wenn abgewiesen, eigenmächtiges Vorgehen in beredeter Sache. Schön so – und hier: trotz stattgehabter Vermahnung und Strafe, steht Entfernung, kraft eigener Machterteilung, wieder in Aussicht. – Wir bitten daher, Euer Hochwürden,« also las der Dechant van Bebber, »uns in besagter Angelegenheit hilfreiche Hand leisten zu wollen, auf daß das verlorene Schäflein wieder dem guten Hirten zugeführt werde. Gelobt sei Jesus Christus! Euer wohlgeneigter Konfrater: Clemens Anderheyden, Regens des bischöflichen Priesterseminars zu Münster.«

Das Schriftstück flog auf den Tisch zurück.

»Ich werde, werde, werde . . .«

Mit einer kräftigen Daumenbewegung stieß Hochwürden die Asche in dem Pfeifenkopf nieder.

»Ich werde, mein Söhnchen.«

Wieder stapfte der geistliche Herr mit langen Schritten im Zimmer auf und nieder, emsig paffend und durch das Aufeinanderpressen der Kinnladen seinen Gedanken einen gehörigen Nachdruck verleihend. Die silbernen Schuhschnallen blitzten im Sonnenlicht.

Plötzlich blieb er mitten in der Stube stehen.

229 »Also, alles in allem,« meditierte der geistliche Herr, »fahnenflüchtig in optinia forma. – Renitentes Verhalten seit etlichen Wochen – ungehörige Kritik der Encyklica und des Syllabus vom 8. Dezember 1864 – geringschätzige Beurteilung des nunmehr tagenden vatikanischen Konziles – Briefverkehr unter höchst bedenklicher Fassung und Wendung mit einem weiblichen Wesen hiesiger Kirchengemeinde – schreiender Undank gegen mildherzige Wohltäter, die ihm die Mittel verschafften, seinen humanistischen Studien obzuliegen, schreiender, himmelschreiender Undank! – eigenmächtige Urlaubserteilung . . . und das alles in den letzten Tagen und Wochen. – Herr, Deine Langmut währt ewig! – Aber Daumen drauf, Fuß in den Nacken, Ausnutzung der Disziplin, unnachsichtliche Strenge . . . ich werde, mein Söhnchen.«

Der Dechant klingelte.

Die Pfeife war ausgebrannt. Mit dem wiederaufgenommenen Lineal wurde der spärliche Rückstand der Pfeife in den Aschenbecher geklopft.

»Herein!«

Die Haushälterin erschien.

»Johanna, falls der Seminarist Herr Wilhelm Verhage heute, morgen oder später eintreffen sollte, wünsche ich unverzügliche Meldung.«

»Gewiß, Herr Pastor.«

»Gut – und jetzt den Kaffee, Johanna.«

Alsbald dampfte eine duftende Schale auf der bespreizeten Tischplatte. Hochwürden hatte sich eine frische Pfeife 230 angezündet. Die unliebsamen Gedanken waren verscheucht. Behaglich krachte der Weidenholzsessel. Die Mittagssonne flimmerte durch die schneeweißen Tüllgardinen und weckte in der Kaffeetasse einen hellen Lichtschein, der als scharfbegrenzter Reflex und quecksilberartig an den Wänden auf und nieder huschte. Draußen sang ein Buchfink im Apfelbaum, von dessen angesetzten Früchten hin und wieder eine wurmstichige in den Rasen fiel. Mit einem dumpfen Tone hopsten sie auf. Die Rosen dufteten im Pastorgarten, und die Malven sahen friedlich ins Zimmer. – – –

Über Wilm Verhage und Hannecke Mesdag zogen schwere Gewitterwolken zusammen. Das nächtliche Geschehnis am Ravelin in laulicher Juninacht betrachtete ich als ein unantastbares Geheimnis. Auch Hannecke gegenüber spielte ich den Unbefangenen und berührte mit keiner Sterbenssilbe das bedenkliche Zwiegespräch, dem ich vor Wochen als unfreiwilliger Zeuge beigewohnt hatte – aber ich fühlte schon damals, daß sich mit ihm die ersten Anzeichen einer Katastrophe verknüpfen mußten. Jetzt zwinkerte der Blitz in der Wolke, und ich fürchtete ernstlich für Wilm Verhage und Hannecke Mesdag. Bis kurz vor der Ravelinaffäre mußte der leidenschaftliche Funke in der Brust des jungen Verhage geschlummert haben. Geschlummert nicht – aber er hatte ihn niedergehalten mit übermenschlicher Anstrengung, bis er emporzüngelte und schließlich zur verzehrenden Flamme heranwuchs. Tagtäglich hatte ich diesen Ausbruch erwartet. Die 231 heiße Liebesstunde am verschwiegenen Wasser brachte die Entscheidung. Wilm Verhage und Hannecke Mesdag waren einig geworden. Der unwiderstehliche Trieb auf Freiheit, Selbsterhaltung und Liebe, und die Sehnsucht nach den Genüssen der Liebe hatten ihr Recht gefordert, ihr altes und ureigenes Recht, das sich endlich doch hinwegsetzt über alle einzwängenden Regeln und Normen. Die große und heilige Liebesdämmerung war in das Stadium des Lichtes getreten. Der leere Raum des Wunsches und des Verlangens füllte sich mit den hoffnungsfreudigen Bildern der Zukunft. Wilm Verhage hatte nach langem Kampfe die beengende Fessel gesprengt, und als sie fiel, war die Leidenschaft über ihn wie Sturmwind gekommen, und der Sturmwind griff in die Saiten und harfte, und aus dem brausenden Liede, das er spielte, klang die Stimme des herrlichen Mädchens, die da zitterte und flehte: Liebe mich und habe Mitleid mit mir! – Auch im Frühlingssturm werden zarte Blüten vom Baume gebrochen. Für Wilm Verhage gab es kein Rückwärts mehr. Ihm wuchsen Adlerschwingen, und er strebte der Sonne entgegen. Alle kleinlichen Bedenken, die ihn sonst wie mit engen Maschen umgarnten, alle eingebildeten Pflichten gegen seine geistlichen Vorgesetzten, gegen seinen Vater und die Spender der Brosamen waren in eine nebelhafte Ferne gerückt und lagen weit unter ihm. Große Pflichten, heilige Pflichten waren an ihre Stelle getreten, und mit dem Vorsatze, die erste beste Gelegenheit zu benutzen, den dumpfen und drückenden Mauern des Seminars 232 zu entgehen, hatte er damals von Hannecke Mesdag Abschied genommen. Die laue, köstliche und anreizende Welle der berückenden Liebe umspielte ihn mit magischer Gewalt, sie stählte ihn und verlieh ihm die siegende Kraft, die ihn über alles hinwegtragen mußte bis zum erlösenden Ziele. Mit dieser Kraft war auch der Geist der Aufsässigkeit in ihm rege geworden – und als um die Mitte des Juli das verhängnisvolle Dekret der Infallibilität des Papstes, das schon geraume Zeit seine düsteren Schatten über den Erdkreis geworfen hatte, in die Welt hinausflog, und fast gleichzeitig mit diesem höchsten Trumpf des Romanismus jenseit des Rheines das Kriegshorn zu gellen begann, und die Brandfackel blutigrot von den Vogesenkämmen herabsah, da hatte auch für Wilm Verhage die große Stunde geschlagen.

Schon etliche Tage vorher sah sich der Regens des Priesterseminars veranlaßt, obigen Brief zu verfassen. Er hatte seinen Zweck verfehlt. Bereits am zwanzigsten Juli war Wilm mit einer bestimmten Erklärung vor den Regens getreten, und anderen Tages hatte er unter den brausenden Klängen der ›Wacht am Rhein‹, die unter Glockengeläut und begeisterter Stimmung die Lande durchzitterten, den Ort seiner Leiden, Qualen und inneren Kämpfe verlassen. Von Station zu Station trug ihn das Dampfroß in immer größer werdenden Jubel hinein. Er fühlte den Pulsschlag und den tiefen Odemzug der gewaltigen Zeit, die die politisierenden Philister von der Bierbank verscheuchte und trotz des jesuitisch-gallischen Komplotts 233 den Sturm echter Begeisterung in die deutschen Herzen hineinblies. Diesseits und nicht jenseits der Alpen wurzelt die deutsche Seele! – Auf allen Bahnhöfen drängte sich das junge Aufgebot, um zu den Fahnen zu eilen. Bekränzte Lokomotiven sausten vorüber. Im Ruhrkohlengebiet feierten die gewaltigen Schlote, die Dampfhämmer schwiegen, und auf den dunstigen Schlackenbergen verloschen die glühenden Rückstände der Hochöfen. Viele Fabriken hatten die Arbeit eingestellt; dafür wehende Fahnen, Eichenlaubkränze und ziehende Burschen! Die Landsmannschaft war zu den Waffen berufen. In Wesel rasselten die Trommeln, und der gelle Pfiff der Querpfeifen zerriß die lauliche Luft des prächtigen Julitages. Mit klingendem Spiel zogen die verschiedenen Infanterieregimenter aus, um sich am strategischen Aufmarsch zu beteiligen. Frischgebrochene Eichenzweige wehten von den blitzenden Helmen. Wilm Verhage hätte hineinschreien mögen in den dröhnenden Gleichschritt und das Geknatter der Fahnen. Noch lag die Tonsur auf seinem Hinterkopf, noch trug er die lange Soutane – aber Wilm Verhage wußte, was er zu tun hatte. Die Brust geweitet, zu den Waffen gegriffen – und dann mit Gott für König und Vaterland!

Von Wesel aus fuhr er im Eilwagen über Xanten der kleinen niederrheinischen Stadt zu. Er saß beim Schwager oben auf. Flecken und Weiler flogen vorüber. Die Chausseebäume hüllten sich in Dämmer und Dunkel, und weiße Nebel flatterten über die Grasflächen der weiten 234 Niederung. Der Grasduft weckte in Wilm die Jugenderinnerungen in lebhafter Weise. Die dunklen Massen des Monreberges stiegen jetzt vor seinen Blicken auf, ein feines Gesäusel lief durch das Buchen- und Eichengestrüpp, aus dem vereinzelte Birkenstämme mit ihren silberweißen Schäften und dem strähnigen Laubwerk emporstiegen. Geheimnisvolle Stimmen durchzitterten die weihevolle Stille des friedlichen Abends. Aber der Schwager brachte sein Horn an den Mund, und die Klänge der Wacht am Rhein: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« zogen wie eherne Bänder durch den Zauber der niederrheinischen Landschaft und über den Berg hin. Der Schwager Postillon hatte trefflich geblasen. Es war schon spät unter dem Monde geworden, als die ersten Lichter der kleinen Stadt aufblitzten. Jetzt verließ der junge Verhage den Postwagen, um zu Fuß und mit seinen Träumen und Gedanken allein dem nahen Ziel entgegenzustreben.

Die Pferde trabten auf der staubigen Chaussee weiter und weiter. Rechts und links von ihnen irrte der Schein der beiden Wagenlaternen durch die schwarzen Schatten der Obstbäume, die ihre breiten Kronen wie Eulenflügel zur Seite streckten. Der Hufschlag verstummte, und das Licht der Laternen schrumpfte in sich zusammen. Auf weichen Sohlen schritt die Nacht über die dampfenden Fluren.

Genau in Verlängerung der Landstraße erhob sich die Silhouette des Turmes von Sankt Nikolai. Seitab 235 von ihr und mehr dem Vordergrunde zu wuchsen kugelartige Massen in den endlosen Raum. Es waren die breiten Pappelkronen vom Ravelin. Ringsumher lag eine warme und brütende Stille. Nur vereinzelte Grillen saßen in den Zichorienstauden und zirpten. Auch diese Stimmchen schläferten allmählich ein und wurden abgelöst durch das traumhafte Näseln und Schwirren der Nachtfalter, die sich in den tiefhängenden Zweigen der Chausseebäume verfingen.

Die schwarzen Baumkronen am Ravelin nahmen an Massigkeit zu. Sie waren in tiefer Lautlosigkeit begraben. Da – was war das?! – Rief es nicht plötzlich in scharfen Tönen von dem ruhigen Wasser her, das durch das Gebüsch im steigenden Mondlicht aufblenkerte . . .!

Wilm Verhage hielt den Fuß an. Er kannte den Ruf. Mit raschen Händen griff er in die Gegend der Herzgrube, als hätte sich dort eine Kugel verloren. Ein zuckender Schmerz bohrte sich tief zwischen die Rippen. »Hannecke!« stöhnte sein Mund – dann schritt er weiter.

Durstig sog er die warme Luft ein, die von dem schilfumwachsenen Wasser herüberwehte. Aus rankenden Bohnen tauchte das Ziegeldach der Mesdagschen Wohnung auf. Das helle Mondlicht spielte um das Zinnoberrot der Schmetterlingsblüten, die brennend aus den saftigen Blättern hervorsahen. Im Hause selbst waren die Lichter gelöscht. Verschläfert und still, wie die dichte Laube im Vorgarten, lag auch das übrige Anwesen vom Bas. Vater und Mutter waren schlafen gegangen, und die blühenden Malvenstöcke hielten die Blumenwacht in schweigsamer 236 Sommernacht. Nur an der linken Giebelseite fuhr ein schwaches Blinzeln durch den herzförmigen Ausschnitt im Fensterladen. Hinter den weißen Gardinen wohnte Hannecke Mesdag.

Wilm war lautlos über den Gartenkies getreten und rief mit verhaltener Stimme ihren Namen.

Keine Antwort – nur die Klänge des Posthorns riefen aus weiter Ferne herüber. Der Eilwagen hatte seine wenigen Passagiere in der kleinen Stadt abgesetzt, dann rollte er weiter nach Kleve und der holländischen Grenze zu.

»Hannecke . . .!«

Noch einmal, aber lauter und deutlicher hatte Wilm Verhage gerufen – da öffneten sich die Läden, und halbentkleidet war Hannecke in die Umrahmung des niedrigen Fensters getreten. Die flimmernde Folie der Sommernacht legte sich zärtlich um die jugendliche Brust und den entblößten Nacken des lieblichen Mädchens. Die Flechten waren gelöst.

»Wilm . . .!« stammelte Hannecke Mesdag mit ersterbenden Lauten. Mit seltsam leuchtenden Augen starrte sie ihn an. Da schlang er beide Arme um ihren Leib und riß sie an sich. Sie ließ den Kopf an seine Schulter fallen und bebte unter Wonneschauern zusammen. Er fühlte ihre schwellende Brust, und ihr beiderseitiger Odem begegnete sich und floß ineinander.

»O, Du! – Du!« ächzte das junge Weib unter seiner Umarmung, dann warf sie den Kopf zurück und sog mit 237 geblähten Nasenflügeln die betäubende Luft ein, die von den Bohnenranken und dem brennenden Phlox herüberwehte. Langsam öffnete sie die Lippen wie eine Verschmachtende – dann streckte sie in grenzenloser Sehnsucht ihre Arme vor und legte sie wie eine weiche und zuckende Fessel um den Hals des Geliebten. Und er beugte sich nieder und küßte sie lange.

Die warme Sommernacht ging über die beiden mit Wonneschauern. Sanftes Wetterleuchten spielte hinter den dichten Baumkronen am Ravelin. Aus den Gartenbeeten stieg ein feuchter Erdgeruch, dessen Fülle sich betäubend um die Sinne der beiden glücklichen Menschen legte. Zuweilen fiel eine abgestorbene Frucht aus den Obstbäumen zu Boden, und droben im unendlichen Weltraum fiel ein Sternlein vom Himmel. Eine rasch aufleuchtende und wieder verschwindende Spur bezeichnete die Fährte des fallenden Meteors. Hinter den Pappeln war sie zergangen.

Hannecke stierte ins Mondlicht. Eine blinkende Helle legte sich um Arme und Schultern, die wie schneeweißes Linnen aussahen. Deutlich gewahrte der junge Verhage das bläuliche Aderwerk des zarten Halses, das sich bis zum Ansatz des gerundeten Schultergelenkes verstrickte. Die Linien des sanftgewölbten Busens waren in steter Bewegung und verrieten die glückliche Stimmung, die sich des Mädchens bemächtigt hatte. Ihre Zähne blinkten, und ihr Atem berauschte das Herz des jungen Verhage.

238 »Wilm,« hauchte sie mit verzehrender Inbrunst, »bist Du mir endlich wiedergegeben?«

»Ja,« nickte er freudig.

»Und gehst nie mehr dorthin?«

»Nie mehr,« sagte der junge Verhage.

Er preßte sie an sich, daß er die zuckenden Schläge ihrer Brust deutlich verspürte.

»Geliebter – und die da in Münster haben keine Macht mehr über Dich . . . sie gaben Dich frei?!«

»Ich bin fertig mit ihnen – und morgen will ich meinem und Deinem Vater begegnen . . .«

»Das mußt Du auch,« stammelte Hannecke Mesdag, »denn wenn Du es nicht bald tätest . . .«

Ihre Augen flammten seltsam in die seinen hinüber. Ein Schauder rüttelte ihren Körper.

»Was hast Du?«

Mit zitternder Hand strich er ihr das Haar aus der Stirn zurück.

»Ich muß Dir was sagen, Wilm.«

Sie schlang die Arme um ihn, daß ihm der Atem verging. Schwer hing sie an seinem Halse, und ihre schwellende, warme Brust berührte die seine. Ihre Lippen saugten sich an seinem Munde fest.

»Wilm,« schluchzte sie, nachdem sie sich zurückgebeugt hatte. Ihre Arme stemmten sich vor. »Wilm, ich muß Dir was sagen . . .«

239 Wieder näherte sie sich mit ihrem Oberkörper dem geliebten Manne. »Weißt Du,« hauchte sie ihm ins Ohr, »das Ravelin will sein Opfer haben . . .«

»Was?!«

Wilm Verhage prallte zurück.

»Ja, von damals . . .«

Unter heißen Flüsterlauten sprach Hannecke noch einige Worte, und als sie verstummte, umklammerte sie Wilm mit beiden Armen und sagte: »Und dieses Opfer ist heilig.«

Da reckte sich der junge Verhage auf. Eine eigentümliche Hoheit war über ihn gekommen.

»Unsere Seelen wollen sich küssen – küsse mich, Hannecke . . .«

Da schmiegte sie ihre Wangen an ihn – und die beiden standen zusammen, zwei glückliche Menschen, und küßten sich lange . . . und sie bemerkten nicht, wie auf der Landstraße ein schwarzer Schatten geräuschlos vorüberstreifte. Die beiden Menschenkinder hatten Raum und Zeit und die nächste Umgebung vergessen.

Der Schatten aber hatte sich hinter das Dunkel der Laube zurückgezogen. Dort stand er geraume Weile, unbemerkt und von dem Gewirr der türkischen Feuerbohnen verdeckt, und sah in den Garten hinein. Dann ging er. Im Nachtwind bewegte sich die schwarze Soutane.

Der schmalschulterige Mann, der eiligst davonschritt, hatte genug gesehen. –

Die Grillen zirpten lauter und lauter. Um die Weißdorn- und Hainbuchenhecken legte sich der Nebel in 240 weißen Schleiern. Die Blätter tropften. Sonst rührte sich nichts mehr in der weiten Umgebung. Nur das Gezirp der Grillen unterbrach zuweilen die Stille.

Weltabgeschieden! – Und weltabgeschieden standen noch immer die beiden Menschen beieinander.

»Wilm,« flüsterte Hannecke Mesdag, »das Schwerste ist getan; nun mögen wir glücklich werden, so Gott will.«

Sie faßte seinen Kopf und zog ihn zu sich herunter. Selig ruhte seine Wange auf der wogenden Brust des herrlichen Mädchens. Er hörte den Herzschlag unter dem leichten Gewebe.

»Und willst Du zur Nacht von mir träumen?« fragte sie.

»Ich will träumen von Dir.«

»Und mich ewig lieben?«

»Ewig,« kam es zurück.

Wilm Verhage hielt ihre Hüften umspannt.

»Und immer wollen wir der Zeit gedenken,« sprach er unter leisem Zittern, »wo wir uns endlich gefunden.«

»Wenn die Malven blühen,« lispelte Hannecke Mesdag.


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